Zwei-Reiche-Lehre: Unterschied zwischen den Versionen

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[[Category:Theologie]]

Version vom 14. November 2022, 06:02 Uhr

„Z.“ ist eine gängige Kurzzusammenfassung für die lutherische Verhältnisbestimmung zwischen weltlichen und geistlichen Belangen i. S. einer Unterscheidungslehre, nach welcher die weltliche Regierung auch in einer christlichen Gesellschaft nicht auf ein Handeln nach dem Evangelium verpflichtet ist, sondern für sie als entscheidende Norm das Gesetz in seinem politischen Gebrauch gilt, d. h. als drohendes und strafendes Instrument, welches die Sünde des Menschen daran hindert, sich unkontrolliert auszuleben. Da der sozialethische Akzent mehr auf der Betonung der Regierweisen Gottes liegt als auf der Einteilung der Menschheit in zwei Reiche, ist der sachlich angemessenere Begriff der der Zwei-Regimente-Lehre.

1. Begriff

Den Begriff der „Lehre von den zwei Reichen“ (Barth 1990: 46) prägte 1922 Karl Barth, um die Gesellschaftsauffassung Martin Luthers und des Luthertums zu charakterisieren und als ein Modell zu diskreditieren, das die kritische Funktion christlicher Ethik gegenüber dem Staat unangemessen beschränkte. 1938 hat Harald Diem den Begriff zur Beschreibung von M. Luthers Ethik gebraucht und positiv entfaltet. Es handelt sich hierbei also um eine Konstruktion des 20. Jh., die von Anfang an innerevangelisch in einer Weise umstritten war, die sie als Konfessionsmarker der Lutheraner gegenüber den Reformierten erscheinen ließ. Eine bes. Schärfe erhielt diese Kontroverse durch die Zeitumstände des Kirchenkampfes und die latente Gefahr der Lutheraner, dem totalitären Wirken des nationalsozialistischen Regimes (Nationalsozialismus) aufgrund der eigenen Orientierung am Obrigkeitsgehorsam nach Röm 13 keine zureichende theologische Opposition entgegenzusetzen.

2. Grundlagen bei Martin Luther

Ungeachtet der Einsicht in ihre Konstruktion erst in jüngerer Zeit fußt die Z. auf M. Luthers Adaption der Lehre Augustins von den zwei Bürgerschaften, durch welche er die mittelalterliche Lehre von den „zwei Schwertern“ transformierte. Grundlegend entfaltete er diese Gedanken in seiner Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ von 1523, mit welcher er auf die Vorstellung reagierte, obrigkeitliches Handeln sei ganz am Evangelium zu orientieren. Diese Vorstellung ist, so M. Luthers Überlegungen, anthropologisch unangemessen, da die Menschheit keineswegs nur aus Gerechten bestehe, sondern in ihr Gerechte und Sünder in einer für Menschen nicht unterscheidbaren Weise untereinander gemischt seien. Dies ist der systematische Ort für die Rede von „zwei Reichen“: das Reich Gottes, dessen Glieder Christus zugehören, einerseits, das Reich der Welt andererseits, dessen Glieder diejenigen sind, die nicht glauben. Vor dem Hintergrund anderer anthropologischer Aussagen M. Luthers, nach welchen jeder einzelne Mensch Sünder und Gerechter zugl. ist (simul iustus et peccator), sind diese Wertungen verkürzend. Sie dienen der plakativen Betonung der Notwendigkeit, in politischen Fragen nicht die positive Leitung durch das Evangelium bestimmend sein zu lassen, sondern die Grenzsetzung durch das Gesetz, unter Einschluss obrigkeitlicher Gewaltmaßnahmen bis hin zur Todesstrafe oder, in der wenig später erfolgten konkreten Anwendung, der Niederschlagung des Bauernaufstandes.

Mit der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ist bereits die Ebene der „Regimente“ angesprochen, die die eigentliche Pointe dieser Lehre ausmacht. Mit ihr drückt M. Luther aus, dass Gott die Menschheit in der weltlichen und der geistlichen Sphäre auf je eigene Weise leitet. Im weltlichen Bereich bedient er sich hierzu des Gesetzes in seinem politischen Gebrauch (usus politicus), das den Menschen, der sonst drohte, sich wie ein wildes Tier zu verhalten, durch Strafdrohung zu einem äußeren Wohlverhalten bringt. Es wird von der Obrigkeit gehandhabt, die nach Röm 13 genau zu diesem Zweck von Gott eingesetzt ist. Wo im geistlichen Bereich das Gesetz Anwendung findet, erfolgt dies in seinem theologischen oder aufweisenden Gebrauch (usus theologicus/elenchticus), d. h., so, dass der Mensch seiner eigenen sündigen Neigungen überführt wird. V. a. aber leitet Gott die Menschen hier durch das Evangelium zum Heil, welches ihnen verkündet, dass Gott auch die Sünder aus reiner Gnade allein durch den Glauben als gerecht anerkennt. Ausgeübt wird dieses geistliche Regiment durch das Predigtamt, das seine institutionelle, öffentliche Gestalt in der Kirche gewinnt. Diese ist also als Institution nicht mit dem Reich Gottes gleichzusetzen, das gepredigte Wort aber sammelt die Glaubenden und so das Reich Gottes, das auf Erden stets verborgen bleibt.

3. Sozialethische Adaption

Das hochkomplexe Modell M. Luthers wird und wurde verkürzt, wenn es einseitig i. S. d. Obrigkeitsgehorsams nach Röm 13 gelesen wird. Ihrem Anliegen nach ist M. Luthers Lehre, wie schon die Überschrift der Obrigkeitsschrift zeigt, eine Lehre zur Begrenzung obrigkeitlicher Macht, der es untersagt ist, sich Gewalt über das Evangelium anzumaßen. Es ist zugl. eine Lehre, die aufgrund ihres skeptischen Menschenbildes wichtig für die weitere Entwicklung der politischen Theorie wurde. Dies geschah v. a. vermittelt über Thomas Hobbes, der die Vorstellung vom raubtierhaften Naturzustand des Menschen zur Grundlage umfassender Staatsmacht nahm, damit aber mittelbar zu Theorien beitrug, die durch den Gedanken des Gewaltmonopols des Staates diesem die Aufgabe zusprachen, das unkontrollierte Ausleben gewalttätiger Affekte des Einzelnen zu unterbinden. Auch wenn es zu einfach wäre, in der Zwei-Regimente-Lehre den Ursprung moderner Rechtsstaatsideen (Rechtsstaat) zu sehen, ist sie mit diesen doch in hohem Maße kompatibel.

So verstanden, ist die Z. auch kritisch auf Regierungsformen anzuwenden, die selbst zu Organen einer Gewaltausübung werden, deren Kontrolle ihr zufolge Aufgabe staatlicher Gewalt sein sollte. Die Affirmation totalitärer Regime (Totalitarismus) auf Grundlage der Zwei-Regimente-Lehre ist daher selbst eine Verkehrung dieser Lehre.

Umgekehrt hilft diese Lehre dazu, kirchliches und allg. religiöses Handeln in einer pluralen Gesellschaft in seiner Unterschiedenheit vom staatlichen zu erfassen. Eine direkte Bewertung staatlichen Handelns anhand der christlichen Ethik i. S. d. Bergpredigt griffe ihr zufolge zu kurz, weil sie die aus dem Evangelium entspringenden Handlungsanleitungen auf eine Sphäre übertrüge, die Raum des Handelns nach dem Gesetz ist. Diese Grenze entspringt der skeptischen Anthropologie reformatorischer Theologie, ist aber zugl. auch in institutioneller Hinsicht eine Warnung vor umfassenden Dominanzansprüchen christlicher Ethik. Sie ermöglicht so in Anerkennung der für den politischen Bereich (Politik) geltenden eigenen systemischen Bedingungen eine diskursive Beteiligung christlicher Ethik am gesamtgesellschaftlichen Meinungsbildungsprozess.