Zivilreligion

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1. Der neuzeitliche Religionsbegriff

Die emergente frühneuzeitliche Semantik religiös-politisch konnotierter Symbolformen gesellschaftlicher Sinndeutung entfaltet sich in jenen konfliktträchtigen Ordnungsdiskursen, die nach dem Zerfall der bipolaren Ordnung von Sacerdotium und Imperium in der societas rei publicae Christiana die frühneuzeitliche Rekonfiguration der europäischen Welt bestimmen (Neuzeit). Signa dieser Epoche waren einerseits der Aufstieg der zentralisierten Machtorganisation monarchischer Regime mit Tendenz zur nationalen Schließung und andererseits die reformationspolitische Fragmentierung des Christentums (Reformation), die sich in dem Spannungsverhältnis von geistiger Ordnung und politscher Vergesellschaftung der postreformatorischen Welt und nicht zuletzt in deren militärischen Konflikten ausdrückte. Dieser Epochenwandel schlug sich in einer vielschichtigen Rekonzeptionalisierung des Religionsbegriffs nieder: Der überkommene für das genuine christliche Glaubensverständnis marginale augustinische Begriff der „religio“ bezog sich auf die kultisch praktizierte Anerkennung und Verehrung Gottes, für Thomas von Aquin ein generelles Postulat der natürlichen Vernunft, negativ konnotiert durch die Gottesleugnung. Im italienischen Humanismus platonisch gedeutet und thematisch verallgemeinert wurde bei Marsilio Ficino „religio“ zur Grundbestimmung des Menschen und zum Garant der Gesetze, welche allein menschliche Gemeinschaft ermöglicht. Rezipiert im politischen und intellektuellen Diskurs des 16. Jh. wandelte sich die Religion zum Gemeinsamkeit stiftenden Begriff der konfessionell definierten nationalen Christentümer einerseits und i. S. einer menschheitsgeschichtlichen Universalie zum Gegenstand theologisch-philosophisch reflektierenden Wahrheits- und Vernunftdiskures andererseits (Wahrheit; Vernunft – Verstand).

2. Giambattista Vico: Die Zivilreligion aus platonischem Geist

Der Begriff der Z. (englisch civil religion, französisch religion civile, italienisch religione civile) ist gleichsam eine semantische Innovation des 18. Jh. mit jeweils unterschiedlichem Bezug und nationalem Kontext.

Die urspr.e Formulierung einer „religione civile“ (Vico 1725: 164) findet sich in der ersten Fassung von Giambattista Vicos „Princpj di una Scienza Nuova Intorno alla Natura delle Nazioni“ von 1725. Der Sinngehalt dieser Trope ergibt sich aus der konstitutiven Bedeutung der Universalie Religion in der geschichtsphilosophischen (Geschichte, Geschichtsphilosophie) Zivilisationstheorie G. Vicos, die sich wie er später sagt i. S. einer neoplatonisch-christlichen Wissenschaft der „civiltà“ als „Teologia Civile Ragionata della Provvedenza Divina“ (Vico 2013: 14) versteht. Religion steht am Anfang der Menschheitsgeschichte, wenn der barbarische Urzustand durch die im Blitz entdeckte Götterwelt überwunden und die gemeinschaftsbildende „religione civile“ den Grund für Familienbildung und andere gesellschaftliche Institutionen legt und somit das konstitutive Element für die Entfaltung der menschheitlichen „mondo civile“ (Vico 2013: 87) ist. Die italienische Stimme G. Vicos argumentiert gegen die europäischen Gefolgsmänner Epikurs seiner Zeit von Niccolò Machiavelli bis Thomas Hobbes namens der Politischen Philosophie des göttlichen Platon, der festhält, dass die Vorsehung die menschlichen Dinge lenke. Schon Polybius irrte, wenn er gegen Plato behauptete, dass die Nationen einer von Philosophen regierten Welt ohne irgendeine „religione civile“ existieren könnten. Der Aufklärer Pierre Bayle, so schließt er unmittelbar an, möge sehen, ob tatsächlich Völker auf der Welt sein könnten ohne irgendeine Kenntnis von Gott. Mit dieser kritischen Note kommentiert G. Vico den europäischen Diskurs über die Universalität und die Politizität der Religion.

3. Jean-Jacques Rousseau: Die Zivilreligion des nationalen Staates

Mit Jean-Jacques Rousseau geht der Begriff der religion civile in den semantischen Bestand des modernen politischen Ordnungsdiskurses ein. Die begriffsgeschichtliche Frage einer direkten oder indirekten Rezeption von G. Vicos „religione civile“ trotz der offenkundigen fundamentalen Differenz der jeweiligen theoretisch-historischen Differenz ist wohl ausgeschlossen. J.-J. Rousseau mag in Venedig 1743/44 die „Scienza Nuova“ gelesen haben, wohl aber kaum die erste Fassung von 1725, in der allein die „religione civile“ behandelt wird.

J.-J. Rousseau formuliert im Schlusskapitel seines hypothetischen Paradigmas der durch kommunitäre Einheit von Bürger und Souveränität im „corps politique“ (Rousseau 2010: 38) definierten nationalen Republik im „Contrat Social“ (1762) unter dem Titel „De la religion civile“ (Rousseau 2010: 286) die Prinzipien einer religiösen Ordnung jenseits der nationalen Religion des Konfessionsstaates – gleichsam das Resultat seiner intensiven Beschäftigung mit Grundfragen des Christentums und der Religion insgesamt, die beispielhaft in seiner „Profession de Foi du Vicaire Savoyard“ (2015) im vierten Buch seines „Émile“ (1762) diskutiert wurden. Voltaire erklärt er 1756, es solle in jedem Staat einen moralischen code geben, eine Art „profession de foi civile“ (Rousseau 1782: 111), der positiv die sozialen Maximen enthält, an die sich jeder halten müsse, und negativ die Maximen der Intoleranz, die jeder zurückweisen müsse. In dieser und anderer Hinsicht spiegelt sich im Konzept der religion civile J.-J. Rousseaus insb. in seinen geschichtlichen Betrachtungen und normativen Aussagen die vielgestaltige europäische Debatte über die Bedingungen und Möglichkeiten eines geistig-politisch in sich geschlossenen nationalen Staats wieder. Die Rousseauistische Z. legitimiert die Sakralität des Gesellschaftsvertrages (Vertragstheorien) und der Gesetze, deren Entstehung J.-J. Rousseau mit Blick auf Platon und Lykurg dem erzieherischen Wirken eines Gesetzgebers (législateur) zuschreibt, eines herausragenden Mannes jenseits von Amt und Souveränität, dessen Genie die menschliche Natur ändert, die in sich perfekt, aber vereinzelt ist, in den Teil eines großen Ganzen verwandelt: den kommunitären Souverän des allg.en Volkswillens. Wie alle Gründer von Nationen muss der Gesetzgeber im Rekurs auf die Intervention des Himmels den Göttern zuschreiben, was seiner eigenen Weisheit entspringt, auf dass die Menschen sich den Gesetzen des Staates unterwerfen. So dient, wie er abschließend sagt, die Religion der Politik.

J.-J. Rousseaus Ordnungsdenken geht grundsätzlich von der religiösen Fundierung der politischen Vergemeinschaftung aus, wobei er vier idealtypische Formen unterscheidet.

Die „religion de l’homme“ (Rousseau 2010: 296) ist mit der reinen unverfälschten Botschaft des Evangeliums identisch. Dieses wahrheitsgemäße und humane Christentum bedarf keines Kultes, ist kosmopolitisch und deswegen untauglich als Grundlage des Staates, denn das Vaterland der Christen ist nicht von dieser Welt.

Die „religion du citoyen“ (Rousseau 2010: 296) der antiken paganen Gesellschaft, gleichsam der Beginn der Z. in Gestalt der Einheit von Politik und Staat, scheiterte am polytheistischen fiktiv-chimärischen Götterglauben, der letztlich die theokratische Herrschaft legitimiert (Theokratie). Der Vielzahl der Götter mangelt das universale Moment, das führt zu Intoleranz und Konflikt.

Eine dritte und bizarre Form ist die „religion du Prêtre“ (Rousseau 2010: 298): die Doppelherrschaft von Fürst und Priester, welche die Bürger zwei unterschiedlichen Ordnungen unterwirft und in Widerspruch mit sich selbst bringt: Es ist der Konfessionsstaat, insb. das katholische Regime.

J.-J. Rousseau verknüpft die Idee „Religion des Bürgers“ mit dem christlichen Begriff des einen wahren universalen Gottes in der Z. des sakralisierten Nationalstaats, der einzigen Alternative zum christlichen Konfessionsstaat. Dieses spiegelt sich in den Dogmen der Z. wieder: „Die Existenz der allmächtigen, allwissenden, wohltätigen, vorhersehenden und sorgenden Gottheit, das zukünftige Leben, das Glück der Gerechten und die Bestrafung der Bösen sowie die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages und der Gesetze […]“ (Rousseau 2010: 311). Das einzige negative Dogma ist die Intoleranz – bezogen auf jene Kulte, die ausgeschlossen wurden von der bürgerschaftlichen Ordnung.

Die hypothetische Idee des ordnungsstiftenden Gesetzgebers hat J.-J. Rousseau soweit verinnerlicht, dass er der Aufforderung folgte und für das momentan unabhängige Korsika und Polen einen Verfassungsentwurf ausarbeitete („Projet de Constitution pour la Corse“ [1765], „Considérations sur le gouvernement de Pologne“ [1772]).

In diesen Entwürfen kommt das nationale Element (Nation) seines praktischen Denkens zum Ausdruck. Es gilt den „nationalen Charakter“ (Rousseau 2012: 22; eine Rousseausche Neuprägung) durch Pflege nationaler Traditionen zu bewahren und zu stärken durch einen konservativ gestimmten national romantischen Patriotismus. In beiden Fällen fehlt der Begriff der Z.: Die korsische Vergemeinschaftung erfolgt durch den Bürgerschwur mit Hand auf der Bibel. Für Polen akzeptiert er stillschweigend die Konkordanz von Staat und katholischer Kirche.

4. Robert Neelly Bellah: Die sakrale Sinnstiftung des gesellschaftlichen Kollektivs

Der Begriff der Z. kehrt zurück in den intellektuellen und politischen Diskurs des 20. Jh., als der amerikanische Religionssoziologe Robert Neelly Bellah in einem Aufsatz „Civil Religion in America“ (1967) die religiöse Dimension des gesamten Gefüges des öffentlichen amerikanischen gesellschaftlichen Lebens in Gestalt von Glauben, Symbolen und Ritualen von den Anfängen der Republik bis in die Gegenwart auf diesen Begriff bringt. In diesem Sinn ist die Z. „a genuine apprehension of universal and transcendent religious reality, […] as revealed through the experience of the American people“ (Bellah 1967: 12), wie R N. Bellah in einem historischen Aufriss der theistischen Rhetorik der Präsidenten jenseits des konfessionellen Pluralismus demonstrieren möchte.

Der urspr.e Forschungsgegenstand des jungen Religionssoziologen und Japanologen R. N. Bellah war aber nicht Amerika. Der Schüler des Weberianers Talcott Parsons begann seine religionssoziologischen Forschungen mit der Frage, ob sich ein funktionales Äquivalent zu Max Webers protestantischer Ethik in der japanischen Religion nachweisen lässt, auf die sich die asiatische Modernisierung zurückführen ließe. Seine Dissertation „Tokugawa Religion“ (1957) untersucht die Rolle der Religion in der Entstehung des modernen Japan. R. N. Bellah rekonstruiert die Traditionen der japanischen Religiosität, definiert als die kollektive gesellschaftliche Harmonie in der japanischen Gesellschaft. „Gratitude toward nurturant beings and identification with the ground of being“ (Bellah 1957: ix). Er verweist auf J.-J. Rousseau, doch sein Bezug ist indirekt, wenn man sich seinen religionssoziologischen Hintergrund ansieht. J.-J. Rousseau wird gleichsam eingeschmolzen in die Religionstheorie Émile Durkheims. J.-J. Rousseaus Konzeption von Politik und Religion schlug sich nieder in den Religionsentwürfen und Kulten der Französischen Revolution, die wiederum durch die positivistische Wissenschaft (Positivismus) der Politik Auguste Comtes in einer neuen stabilen laizistischen Ordnung (Laizismus) überwunden werden sollte. É. Durkheim bringt das Prinzip einer postrevolutionären Ordnung auf einen religionspolitischen Begriff. Die Religion ist das System der Symbole, durch welche die Gesellschaft ihrer selbst bewusst wird. Die Gottheit selbst ist der symbolische Ausdruck der Kollektivität. R. N. Bellah nennt É. Durkheim „a high priest and theologian of the civil religion of the Third Republic“ (Bellah 1973: x), einen Propheten, der das moderne Frankreich und die moderne westliche Gesellschaft aus der politischen und sozialen Krise herausführen möchte. In R. N. Bellahs Formulierung ist Religion eine evolutionsbedingte Reihe von symbolischen Formen und Handlungen, die den Menschen mit den letzten Bedingungen seiner Existenz in Beziehung setzt. Das postuliert einen universalen Religionsbegriff moderner Vergesellschaftung, der einmal seiner Amerikastudie zugrunde liegt und zum anderen der Ansatzpunkt für ihn und seine Schule für eine komparatistische Theorie der Z. ist, insofern distinkte Typen der Z. korrelieren mit den Phasen der religiösen Evolution: „Varieties of Civil Religion“ (1980).

R. N. Bellahs Amerikastudien führten erstens zu kontroversen Selbstverständigungsdebatten in den USA, insofern der Sachverhalt seit Jahrzehnten Gegenstand einer historischen und politischen Deutungsliteratur ist. Zweitens aber wurde er in seinem Rekurs auf J.-J. Rousseaus Begriffsbildung und É. Durkheims laizistisch-religiöse Problemstellung äußerst kontrovers rezipiert. In Europa fand die Diskussion um eine moderne Z. nur insoweit Interesse, als sie im Kontext der normativen Legitimation der konstitutionell-demokratischen Ordnung diskutiert wurde, die Problemlage sich jedoch weitgehend vom amerikanischen Fall unterschied, weil hier der konventionelle Religionsbegriff die Diskussion bestimmte.