Wählerverhalten

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1. Abgrenzung

W. bezeichnet das politische Verhalten von Bürgern bei Wahlen, in einer weiten Definition auch bei Abstimmungen. Es umfasst sowohl die Entscheidung über die Wahlteilnahme als auch die zwischen Parteien und Kandidaten (bei Abstimmungen: Sachvorschlägen). Die Teilnahme an Wahlen ist eine einfache, weit verbreitete und egalitäre Form der politischen Partizipation. Die Einflussmöglichkeiten der Bürger sind dabei stark vorstrukturiert: Wahlen werden periodisch abgehalten und ermöglichen eine Entscheidung zwischen vorher festgelegten Vorschlägen, i. d. R. jedoch nicht die Einführung neuer Vorschläge bei der Stimmabgabe. Als Aggregation der individuellen Entscheidungen gibt das Wahlergebnis in der repräsentativen Demokratie den Ausschlag über die Zuweisung von Handlungsvollmacht an Elite und legitimiert Herrschaft (Legitimation). Auch sein Bezug zur Wahl als zentralem Element der repräsentativen Demokratie hat das W. zu einem häufig untersuchten Forschungsgegenstand werden lassen. Bes. starke Impulse gingen von der Forschung in den USA in der Mitte des 20. Jh. aus, welche die Wahlforschung als interdisziplinäres Feld in den Sozialwissenschaften etablierte.

2. Erklärungsansätze

Bei einer Wahl entscheiden sich Wahlberechtigte nach subjektiven Kriterien für Objekte aus einer Entscheidungsalternative und handeln dabei unter einem bestimmten Regelwerk sowie in einem bestimmten Kontext. Bei der Erklärung von W. sind daher mögliche Bewertungsmaßstäbe der Wahlberechtigten zu berücksichtigen. Diese umfassen u. a. (materielle) Interessen und Dispositionen, die in der Persönlichkeit angelegt oder in Sozialisationsprozessen (Sozialisation) erworben sind, etwa Wertorientierungen und soziale Identitäten. Relevante Charakteristika der Entscheidungsalternative betreffen u. a. das Politikangebot und andere Eigenschaften von Parteien und Kandidaten. Die Regeln ergeben sich aus dem Wahlrecht bzw. Wahlsystem. Zum Kontext gehören situative und strukturelle gesellschaftliche sowie politische Bedingungen, etwa Sozialstruktur, wirtschaftliche Entwicklung, Regierungssystem und Wahlkampfkommunikation. Das W. ergibt sich aus dem Zusammenspiel dieser Faktoren, die in einem komplexen Wechselverhältnis zueinander stehen. Inzwischen liegen zahlreiche Untersuchungen zu einzelnen Faktoren vor, aber auch Erklärungsansätze, die – z. T. auf der Grundlage expliziter anthropologischer oder handlungstheoretischer Annahmen – bestimmte Argumentationsfiguren und Faktorenbündel hervorheben. Bes. Prominenz erlangten davon drei.

Der makrosoziologische Cleavage-Ansatz betont die Abhängigkeit des W.s von politisierten gesellschaftlichen Spannungslinien (Lipset/Rokkan 1967). Angehörige gesellschaftlicher Großgruppen in einem solchen sozialen Konflikt stimmen demnach für mit ihrer Gruppe verbündete Parteien. Exemplarisch dafür sind die Bündnisse zwischen Arbeiterschaft und Sozialdemokratie oder zwischen katholischer Kirche und Christdemokratie. Dieser Ansatz betont die langfristig strukturierende Wirkung gesellschaftlicher Konflikte auf das W., sieht die Befolgung überkommener parteipolitischer Normen durch Gruppenmitglieder jedoch nicht als selbstverständlich an, sondern als abhängig von situativen Faktoren wie dem Politikangebot der Parteien.

Der mikrosoziologische Ansatz der Columbia-Schule begreift Menschen als soziale Wesen, die in Einklang mit den Mitmenschen in ihrer Umgebung leben wollen. Politische Präferenzen entstehen demnach unter dem Einfluss von Kommunikation in Primär- und Sekundärumwelten (Lazarsfeld u. a. 1944). Die Wirkung kann u. a. mit der Beziehung zu Kommunikationspartnern und je nach Kommunikationskanal variieren. In Abhängigkeit von der politischen Zusammensetzung der relevanten Umwelt resultieren stabile oder variierende politische Präferenzen. Eben diese drücken Bürger in ihrem W. aus, ohne auf die Wirkungen ihres Handelns auf den Wahlausgang und Politikergebnisse nach der Wahl zu achten.

Von primär expressivem W. geht auch der sozialpsychologische Ansatz der Michigan-Schule aus (Campbell u. a. 1960). Als das W. unmittelbar beeinflussende Faktoren gelten darin Einstellungen zu wahrgenommenen Eigenschaften von Parteien und Kandidaten. Dazu gehören Einstellungen zu politiknahen oder politikfernen Eigenschaften von Kandidaten ebenso wie solche zu politischen Sachfragen, die sich auf symbolische oder technische Fragen beziehen können. Häufig werden Valenz- und Positionssachfragen unterschieden. Zu letzteren vertreten Parteien unterschiedliche Standpunkte, und Wähler entscheiden danach, welche Partei ihren Vorstellungen am besten entspricht. Bei Valenzsachfragen sind die Ziele nicht umstritten, sehr wohl aber die Mittel, weshalb Bürger nach der wahrgenommenen Kompetenz von Parteien und Kandidaten entscheiden. Diesen Einstellungen vorgelagert ist die Parteiidentifikation, die – nicht selten in einer frühen Phase der politischen Sozialisation erworben – auf äußeres Geschehen i. d. R. weniger empfindlich reagiert. Vielmehr beeinflusst und stabilisiert sie die politische Wahrnehmung, die eigenen Einstellungen und das W. Nicht zuletzt dank dem Konzept der Parteiidentifikation weist dieser Ansatz auf die Relevanz lange zurückliegender Erfahrungen hin, die u. U. zu einem angesichts gegenwärtiger Problemlagen fragwürdig erscheinenden W. führen können.

Der rationalistische Ansatz entwickelt auf der Basis weniger, aus der Mikroökonomik stammender Annahmen weitreichende Hypothesen über W. Wahlberechtigte suchen demnach ihren Nutzen zu maximieren, indem sie das W. als Instrument nutzen, um die Politikergebnisse nach der Wahl zu beeinflussen (Downs 1957). Neben den Politikangeboten berücksichtigen Wahlberechtigte daher auch den Einfluss ihrer Stimme auf den Wahlausgang, Erfolgsaussichten der zur Wahl stehenden Kandidaten oder Parteien, die zu erwartenden Mehrheitsverhältnisse und andere für die Verwirklichung politischer Programme bedeutsame Faktoren. Daher kann das W. infolge taktischer Überlegungen auch von der Parteipräferenz abweichen. Da der Einfluss einer einzelnen Stimme auf den Wahlausgang in Massendemokratien verschwindend klein ist, führt dieser Ansatz zu der Vorhersage, dass Wahlberechtigte in den meisten Fällen nicht an Wahlen teilnehmen sollten. Diese Prognose steht allerdings in Widerspruch zur tatsächlichen Wahlbeteiligung in Massendemokratien. Dieses Wahlparadoxon konnte noch nicht theoretisch konsistent aufgelöst werden und weist auf Mängel in der empirischen Erklärungskraft dieses theoretisch eleganten Ansatzes hin.

Diese Ansätze aus der Mitte des 20. Jh. beeinflussen die Wahlforschung bis heute. Sie haben unzählige Arbeiten angeregt und Ergänzungen, Neuinterpretationen und Revisionen erfahren. Vollkommen neue Ansätze konnten sich bislang nicht so weit etablieren, dass sie jene verdrängt hätten.

3. Methoden

Anfangs griff die Forschung zu W. auf offizielle Wahlergebnisse in aggregierter Form zurück. Seit der Mitte des 20. Jh. dominieren Umfragedaten (Demoskopie), die es erlauben, auf der Individualebene Determinanten des W.s zu untersuchen. Neben einmaligen, zu einer Wahl durchgeführten Befragungen werden im Rahmen von Wiederholungsbefragungen dieselben Personen mehrmals, etwa im Laufe eines Wahlkampfes oder bei aufeinanderfolgenden Wahlen, befragt. Solche Panelbefragungen sind bes. gut geeignet, Veränderungen im W. und die ihm zugrunde liegenden Prozesse zu untersuchen. Auch können sie dabei helfen, Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu analysieren, was bei Querschnittsbefragungen durch die Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Einflussfaktoren erschwert wird. Experimentelle Designs können bei der Wirkungsanalyse weiterhelfen, sind aber nur begrenzt anwendbar. Auch Mängel bei der Auswahl der Befragten, selektive Ausfälle in Wiederholungsbefragungen, zufällige und systematische Messfehler sowie mangelnde Sensibilität für die Kontextabhängigkeit von Befunden können die Aussagekraft von Ergebnissen beeinträchtigen.

4. Befunde

Lange Zeit galt das W. in vielen westlichen Demokratien als von dauerhaften gesellschaftlichen Spannungslinien bestimmt. Die Einbindung in soziale Milieus begünstigte die Kommunikation mit Gleichgesinnten, die Herausbildung parteipolitisch konsistenter Interessenlagen, Wertvorstellungen und sozialer Identitäten sowie Stabilisierung und Homogenisierung des W.s innerhalb der Milieus. Die Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Großgruppen erklärte W. in erheblichem Umfang, wenn auch nicht vollständig. Im Zuge des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels ließ die Bedeutung traditioneller Spannungslinien nach. In etlichen Gesellschaften ist der Anteil der Parteiidentifizierer (Dealignment) und derjenigen Bürger gesunken, die gleichsam habituell an Wahlen teilnehmen. Nicht an langfristige Loyalitäten gebunden, ist ein wachsender Teil des Elektorats bereit, unter dem Eindruck momentaner Einflüsse über Wahlteilnahme und Stimmabgabe zu entscheiden. W. wird dadurch potentiell variabler und weniger vorhersehbar. Es steigen die Chancen für große Verschiebungen in den parteipolitischen Kräfteverhältnissen und die Erfolgsaussichten neuer Parteien. In einer ökonomischen Analogie formuliert: Die Bedingungen auf der Nachfrageseite am politischen Markt begünstigen einen verschärften politischen Wettbewerb.

Der Wandel auf der Bürgerseite ging mit Veränderungen im W. einher, veränderte es jedoch nicht fundamental. Die Wahlbeteiligung ging in vielen Ländern im Durchschnitt zurück, und zwar verstärkt bei als weniger wichtig geltenden Wahlen (z. B. Regional- und Europawahlen) und unter sozial schlechter gestellten und politisch wenig involvierten Personen. Unter günstigen Bedingungen konnten jedoch Wahlbeteiligungsraten wie in früheren Dekaden erreicht werden. Trotz eines gestiegenen Potentials und stärker fragmentierter Parteiensysteme ist bisher nicht flächendeckend ein kontinuierlicher Anstieg des Wechselwählens zu beobachten. Die Wechselraten und der Kreis der Wechselwähler variieren vielmehr in Abhängigkeit vom politischen Geschehen zwischen und während Wahlkämpfen. Die Erosion langfristiger politischer Loyalitäten hat die Chancen gesteigert, mit Wahlkämpfen wieder größere Aktivierungs- und Verstärkungseffekte zu erzielen, deren zeitweilige Geringfügigkeit zur These von den minimalen Wahlkampfeffekten führte. Ob Wahlkampagnen tatsächlich Wahlberechtigte in nennenswerter Zahl zum Parteiwechsel bewegen oder Wahlen entscheiden, hängt von den politischen Rahmenbedingungen ab. Die Bedeutung von Kandidaten- und Sachfragenorientierungen als Determinanten des W.s ist ebenso wenig kontinuierlich angestiegen. Vielmehr korrespondiert ihr Einfluss, der nicht auf politisch stark interessierte Personen beschränkt ist, mit gesellschaftlichen Problemlagen, der Wahlkampfführung u. a. äußeren Bedingungen. In vielen Ländern beeinflussen Konfession und Religiosität noch immer das W.; hingegen ließ der Wandel der Erwerbs- und Klassenstruktur die traditionelle Unterscheidung zwischen Arbeitern und Kapitaleignern an Bedeutung für das W. durchaus verlieren. Zudem entstanden innerhalb der gewachsenen neuen Mittelschicht neue klassenbasierte Unterschiede im W. Die politische Prägekraft sozialstruktureller Positionen hängt von gesellschaftlichen und politischen Bedingungen sowie dem Programmangebot und der Wahlkampfführung ab. Da das W. vom komplexen Zusammenspiel zahlreicher Faktoren und Akteure abhängt, ist damit zu rechnen, dass auch künftig der soziale Wandel – etwa der demographische Wandel und die Digitalisierung – sich auf das W. auswirken wird, doch nicht unbedingt in der Weise, wie man es heute erwartet.