Wissensgesellschaft

  1. I. Soziologie
  2. II. Pädagogik

I. Soziologie

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1. Strukturwandel von Industrie- hin zu Wissensökonomien

Der sozialwissenschaftliche Begriff der „W.“ bzw. der knowledge society (mitunter auch weniger spezifisch: postindustrielle Gesellschaft, „aktive Gesellschaft“) wird in den 1960er und frühen 1970er Jahren von einer Reihe von Autoren (etwa Daniel Bell, Peter Drucker, Robert Edwards Lane, Robert Reich, David Riesmann, Alain Touraine) in unterschiedlichen Zusammenhängen der Gesellschaftsanalyse eingeführt. Im Kern benennt er zunächst die Diagnose eines weitreichenden Strukturwandels des Wirtschaftssektors in den reichen Industrieländern der damaligen westlichen Welt von der Industrie- zur Dienstleistungsproduktion. Im Rahmen des allg.en Bedeutungsanstiegs des Dienstleistungssektors als Kernmerkmal der „postindustriellen Gesellschaft“ betont W. spezifischer den Aufstieg von Feldern der Wissens- und Symbolproduktion, -vermarktung und -vermittlung. Diese Diagnose wird von einigen Autoren mit weitreichenden Überlegungen zum gesellschaftlichen Elitewandel (Elite) sowie zu Wachstumsstrukturen und Differenzierungsprozessen des wissenschaftlichen Wissens verknüpft. D. Bell definierte Wissen als „Sammlung in sich geordneter Aussagen über Fakten oder Ideen, die ein vernünftiges Urteil oder ein experimentelles Ergebnis zum Ausdruck bringen und anderen durch irgendein Kommunikationsmedium in systematischer Form übermittelt werden“ (Bell 1996: 180). Gernot Böhme und Nico Stehr bezeichnen damit eine Gesellschaft, die in all ihren Lebensbereichen durch wissenschaftliches Wissen geprägt wird. Dabei geht es nicht einfach um einen Anstieg der Wissensproduktion, sondern um einen gesellschaftlichen Funktions-, Struktur- und Formwandel. N. Stehr definiert in diesem Zusammenhang Wissen als „Handlungsvermögen“ (1994: 208). Merkmale der W. sind neben der Grundlegung von Handlungsvermögen durch wissenschaftliches Wissen durch die Expertisierung und Professionalisierung des Wissens (als Ersetzung vorhandener Wissensformen wissenschaftliches Wissen), die Bedeutung der Wissenschaft als Produktivkraft, Entwicklungen der Technokratie, der Aufstieg der Wissensarbeiter zur neuen herrschenden Sozialklasse und anderes mehr. Insoweit meint „W.“ sehr viel mehr als der ebenfalls häufig benutzte Begriff der „Informationsgesellschaft“. Letzterer bezieht sich als Teilaspekt der Diagnose der W. auf die v. a. ökonomisch bedeutsame Aufbereitung und Zirkulation von Informationen (etwa im Rahmen der Finanzmärkte). Auch Prozesse der „Digitalisierung“ des Wissens und seiner Verbreitung, sowie der „Innovationsgesellschaft“ stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit den wissensgesellschaftlichen Strukturveränderungen. Die urspr. vergleichsweise starke Wissenschaftsbezogenheit des Konzeptes ist mittlerweile einer Betonung der ökonomischen Verwertbarkeit, der kulturindustriellen Zirkulation und der technisch-medialen Entgrenzung von unterschiedlichsten Wissensformen im Zuge der „Digitalisierung“ gewichen. W. ist nunmehr eine Gesellschaftsform, in der die Ware Wissen in Gestalt von wissenschaftlich-technischem Wissen, Bildung, Produkten, Kulturindustrien, Informationstechnologien usw. von ökonomisch zentraler Bedeutung ist.

2. Veränderte Bedeutung wissenschaftlichen Wissens

Bereits Anthony Giddens hatte das Reflexivitätsverhältnis zwischen Wissenschaft und gesellschaftlicher Praxis zu einem zentralen Merkmal der modernen Gesellschaft erklärt. Die wissenschaftliche Dauerbeobachtung der Praxis durch moderne Expertensysteme führt zur permanenten Transformation dieser Praxis. In der Wissenschaftsforschung wurde mit dem Begriff des „Modus Zwei“ (Gibbons u. a. 1994: vii) eine sich verändernde Beziehung zwischen grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung sowie zwischen Wissenschaft, Politik, Öffentlichkeit und Wirtschaft angezeigt. Nach dieser nicht unumstrittenen Perspektive greifen Anwendungskontexte zunehmend stärker in die Wissensproduktionen ein. So schlug N. Stehr vor, Wissenspolitik als eine neue Form der öffentlich-politischen Intervention in wissenschaftliche Wissensproduktion und technisch-ökonomische Anwendung zu begreifen. N. Stehr betont zugl., es handele sich gerade wegen der allseitig verteilten und erhobenen Wissensansprüche um „zerbrechliche Gesellschaften“ (Stehr 2000: 12). Neben den Wissenszuwachs und einen Zuwachs an Handlungsvermögen auf der Seite der Individuen trete ein Verlust des Vertrauensvorschusses in Expertenwissen unterschiedlichster Art. Jean-François Lyotard betonte in seiner Beschreibung des „postmodernen Wissens“ (1986) neben der Ökonomisierung auch die demokratischen und partizipativen Möglichkeiten einer erweiterten Wissensproduktion und -zirkulation. Manuel Castells wiederum weist insb. auf die globalisierte Verflechtung von Infrastrukturen, Wissenszirkulationen und Informationsströmen (Globalisierung) und deren Folgen für gesellschaftliche Strukturbildungen und Prozesse hin. Reiner Keller entwarf eine Perspektive sozialwissenschaftlicher Diskursforschung, die sich explizit auf gesellschaftliche Wissensverhältnisse und Wissenspolitiken richtet. In diesen Zusammenhang gehören auch Untersuchungen über den inner- und intragesellschaftlichen Wissenstransfer zwischen verschiedenen institutionellen Feldern.

3. Politische Resonanz der Diagnose

Wie kaum ein anderes gesellschaftsdiagnostisches Konzept hat der Begriff seit Ende der 1970er Jahre eine gesellschaftliche bzw. politische Nutzung erfahren. Insofern bietet er ein hervorragendes Beispiel dafür, wie ein sozialwissenschaftliches Konzept den Gegenstand verändert, auf den es sich bezieht. Spätestens seit Ende der 1970er Jahre wird die Diagnostik einer strukturell neuen Relevanz des Wissens zu einer gängigen Chiffre politischer Debatten und in zweierlei Weise politischer Gestaltungsprozesse. Zum einen erscheint „Wissen“ nunmehr als die ausgezeichnete neue Ressource im ökonomischen Wettbewerb. Die Förderung von Wissensökonomien – also Infrastrukturen der Erzeugung und unternehmerisch-ökonomischen Nutzung von Wissensproduktionen und -zirkulationen – wird zu einem Hauptanliegen der nationalen und übernationalen Wirtschaftspolitiken. Zum zweiten wird der Bildungsstand der Bevölkerungen verstärkt als Ressource begriffen, die es zum Zwecke der ökonomischen Gewinn- und gesellschaftlichen Wohlstandssteigerung auszubauen bzw. anzuheben gilt. In diesem Kontext entstand bspw. der europäische Bildungsraum der Bologna-Reform von 2000, deren Ziel explizit darin gesehen wird, Bildungsressourcen und -kompetenzen durch unterschiedlichste Strategien (etwa lebenslanges Lernen, Förderung frühkindlicher Bildung [ Früherziehung ], Wissenschaftsorientierung der Bildung, Vermittlung von digitaler Kompetenz) zu fördern. Unterschiedlichste politische Gestaltungsprozesse – vom Aufbau digitaler Infrastrukturen über Forschungs- und Entwicklungsprogramme, Exzellenzinitiativen und Innovationsförderungen, international vergleichenden Bildungsstudien bis hin zu umfassenden Bildungsreformen – können als Umsetzungsformen dieses Programmes verstanden werden. Damit entsteht auch eine starke Erwartung zur Weiter- und Hochqualifikation, die mit einer Abwertung herkömmlicher Industriearbeit, verstärkten Konkurrenzbeziehungen, individualisierten und flexibilisierten („prekären“) Arbeitsverhältnissen, aber auch mit hochbezahlten Arbeitsplätzen in den Kernsektoren der W. (Finanzökonomien, ausgewählte Wissenschaftsbereiche, Social Media Unternehmen [ Social Media ]) einhergeht.

4. Kritik der Wissensgesellschaft

Neben der bereits weiter oben erwähnten grundsätzlichen Begriffskritik sprechen spezifische kritische Stimmen seit längerem von einem „Mythos Wissensgesellschaft“ (Kübler 2005; Bittlingmayer/Bauer 2006). Demnach handele es sich um ein politisch-ideologisch gefärbtes Konzept, das in erster Linie zur Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums und zur einseitigen Förderung spezifischer Branchen genutzt werde. Das vorgetragene Teilhabeversprechen für Alle, sofern sie sich anstrengen und Kompetenzen erwerben, maskiere demnach eine tatsächliche Asymmetrie von Lebens-, Beschäftigungs- und Erwerbschancen, die im Bildungssystem insb. der BRD in ungebrochener Weise reproduziert werde. Im Anschluss an die Theorie reflexiver Modernisierung betonen andere Autoren, dass Wissensproduktion immer mit Formen der Produktion von „Ungewissheit“ und „Nichtwissen“ einhergehe. Insofern könne gleichermaßen von „Nichtwissensgesellschaften“ (Beck 2007: 211) gesprochen werden. Aus bildungsphilosophischer Sicht wird darauf hingewiesen, dass die bildungsreformerisch (Reform) beförderte „Vernützlichung“ des Wissens- als Kompetenzerwerbs eine Verabschiedung von früheren Bildungsidealen befördert und zu einer verflachten Kultur des Unwissens führe, wie sie sich in den digitalen Räumen der Gegenwart zeige. Schließlich kann auch ein breites Unbehagen an Expertenwissen, die Entstehung neuer „Blasen“ und verschwörungstheoretisch konstituierter Gemeinschaften (Verschwörungstheorien) im Internet, die Verunklarung des Verhältnisses zwischen Expertise und Laienwissen als Kehrseite der W. benannt werden. Alles in allem ist der Begriff W. in dem Maße, in dem er zu einem politischen Allgemeinplatz wurde, in den sozialwissenschaftlichen Forschungen in den Hintergrund getreten.

II. Pädagogik

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1. Gesellschaftsdiagnosen als Serienprodukt

1985 prognostizierte Ulrich Beck einen epochalen gesellschaftlichen Wandel: „Wir schlittern in eine neue Gesellschaft, nicht in eine veränderte Gesellschaft, […] in ein neuartiges gesellschaftliches Gefüge, für das wir noch keinen Begriff und damit auch keinen Blick haben“ (Beck 1985: 90; Herv. i. O.). Seither, so macht es den Anschein, ist die Vorlage zeitgemäßer „Deutungsangebote zur Charakterisierung unserer gesellschaftlichen Situation“ (Ruhloff 2007: 20) für Teile des Wissenschaftssystems zum Programm geworden: So ist „gleichzeitig aber voneinander abweichend“ (Ruhloff 2007: 20) die Rede von der Risikogesellschaft und Transformationsgesellschaft, von der Erwerbsarbeitsgesellschaft, von der Zivilgesellschaft, von der multikulturellen Einwanderungsgesellschaft, von der Ungleichheitsgesellschaft, von der Erlebnisgesellschaft, von der Mediengesellschaft, von einer globalisierten, spätkapitalistischen und Netzwerkgesellschaft. Jüngstes Produkt seit 2016 stellt die sog.e postfaktische Gesellschaft dar, die sich durch Desinformation, Emotionalität und Irrationalität in neoautoritären Strukturen auszeichnet.

Trotz der teils sehr unterschiedlich ausgestellten Befunde ist ihnen eines gemeinsam: Alle adressieren Forderungen nach einer Lösung der aufgeworfenen Probleme auch an Bildung und Erziehung. Die Verkürzung, die hierbei zum Ausdruck kommt, besteht darin, dass grundlegenden Einsichten der pädagogischen Forschungstradition häufig nicht adäquat Rechnung getragen wird: Zum einen ist Wissen nicht mit Bildung gleichzusetzen, da es dort um weit mehr als eine reaktive Alltagsbewältigung und quantitativen Wissenszuwachs durch strukturierte Lehr- und Lernprozesse geht. Zum anderen ist die Logik der Produktion und Quantifizierung nicht ohne Weiteres auf Prozesse des Heranwachsens als geistige, soziale und emotionale Entwicklung übertragbar. Mit anderen Worten: Die sog.e W. kann nicht zwangsläufig für sich beanspruchen, auch eine gebildete Gesellschaft zu sein. Vielmehr, so Dietrich Benner in Fortführung der Klafkischen Bildungstheorie, ist die grundsätzliche Bestimmung von Bildung und Erziehung darin zu sehen, „Heranwachsende gegenüber aktuellen Bewegungen urteilsfähig und in einem distanziert-kritischen Sinne auch partizipationsfähig zu machen. […] Kritische Partizipation lässt sich nicht durch Vor- und Nach- und Mitmachen, sondern nur auf dem Umweg über Urteilsbildung edukativ unterstützen“ (Benner 2017: 89). Trotz vieler Antworten auf Zukunftsfragen, die gegeben werden, trotz aller Zukunftsforschung und Zeitdiagnostik, ist nicht absehbar, welche Probleme auf die jetzige Generation von Kindern und Jugendlichen in diesem Jahrhundert noch zukommen werden. Gewiss aber werden es Fragestellungen sein, für die derzeit noch keine Antworten gefunden werden können. „Es reicht also nicht, die Kinder lediglich mit Antworten auf Fragen, die wir bereits kennen, zu füttern, um sie ‚kompetent‘ für die Zukunft zu machen“ (Schäfer 2007: 69). Insofern ist es nach dieser problematisierenden Einführung im Namen von Bildung und Erziehung geboten, die Herausforderungen, die aus der Diagnose W. an die Pädagogik resultieren, genauer in den Blick zu nehmen und mit einigen kritischen Rückfragen und Gegenthesen zu konfrontieren.

2. Pädagogik der Wissensgesellschaft

Ausgehend von einer „beschleunigten technologischen Dynamik“ stellt Helmut Willke Ende der 1990er Jahre fest, dass „von einer Wissensgesellschaft […] dann zu sprechen“ sei, „wenn alle Funktionsbereiche der Gesellschaft wissensabhängig und auf die Produktion von neuem Wissen angewiesen“ seien (Willke 1997: 263). Wissensproduktion sei somit kein exklusives Geschäft des Wissenschaftssystems, sondern aller gesellschaftlichen Teilbereiche wie Politik, Wirtschaft und Gesundheit, die auf die Erzeugung eigenständigen Wissens setzen müssen, um überhaupt funktionieren zu können (Systemtheorie). Mit dem Übergang von der Industriegesellschaft zur W. falle, wie Karin Knorr-Certina gleichsam bekräftigt, das Monopol der wissenschaftlichen Forschung auf professionelles Wissen, d. h. in allen gesellschaftlichen Bereichen gelte das Hauptaugenmerk einem stetig wachsendem Wissensbestand, der das für das Überleben und Fortkommen des Sub- und Gesamtsystems benötigt werde.

Wie aber wirkt sich diese Deutung der W. auf die Pädagogik aus, zu deren Eigenart es gemäß ihrer philosophischen Ursprünge gehört, den jeweils verwendeten Begriff des Wissens vor aller Betriebsamkeit und sozialdiagnostischen Indienstnahme einer systematischen und epistemologischen Klärung zu unterziehen, um nicht einer naiven, materialistischen Vorstellung von Wissen, die sich im Bild der „Produktion“ bereits abzeichnet, das Wort zu reden bzw. eine enggeführte, systemtheoretische oder ahistorische Sicht auf soziale Gefüge zu bedienen? Dem Aufruf zur kritisch-reflexiven Vergewisserung liegt die Überzeugung zugrunde, dass die Weitergabe von Wissen als zentrale pädagogische Aufgabe nicht unabhängig davon zu betrachten ist, ob und wie Menschen überhaupt dazu befähigt sind bzw. werden, die an sie in immer kürzerer Abfolge gestellten sozialen, politischen und ökonomischen Anforderungen auch zu bewältigen. Überdies kann die Erziehungswissenschaft im Vergleich zu anderen Disziplinen von der Situationsgebundenheit der Ausstellung jedweder Diagnose nur absehen, wenn sie deren soziale Bedingtheiten vernachlässigt, und von einem objektiven Beobachterstandpunkt ausgeht, der prinzipiell nur als Konstrukt oder Hypothese aufgerufen werden kann.

Um dem Risiko übereilter und folgenreicher Befunde zu begegnen, empfiehlt D. Benner „nicht einfach vom Wissen der Wissensgesellschaft, sondern von unterschiedlichen Wissensformen sowie quer zu diesen liegenden Diskursen zu sprechen“, zumal sich „keine Gesellschaft allein über Wissen definiere“, sondern „Handlungsfelder“ wie „Arbeit“, „Sitte“, „Erziehung, Politik, Kunst und Religion“ mit je eigenen „Ordnungen“ unterscheide (Benner 2011: 29). Zudem scheine die W. eine Wissensform zu präferieren, die von allg. verfügbaren Daten, Fakten und Ressourcen ausgeht, die nicht notwendig als Neuerung und Gewinn zu verstehen seien, zumal man stets damit rechnen müsse, dass jedes Wissen ein „Nicht-Wissen“ in Form einer ausgeblendeten oder schlicht vergessenen Vorgeschichte enthalten kann (Benner 2011: 31).

Anlässlich der unkritischen „Stilisierung“ der gegenwärtigen sozialen Lage zur Epoche des Wissens verweist Jörg Ruhloff auf den paradoxen Effekt, dass mit der Bedeutungssteigerung des Wissens, die für Pädagogen als deren Vermittler in „Lehre, Schule und Unterricht“ zunächst vielversprechend erscheinen mag, auch ein zunehmender „Schwund des Wissens“ zu konstatieren sei (Ruhloff 2007: 19). Im wiederkehrenden Verweis auf die sinkende Halbwertszeit des Wissens offenbart sich die Dominanz eines naturwissenschaftlich-technischen Forschungsparadigmas (Naturwissenschaften, Technik), das von einem stetigen Anwachsen neuen Wissens bei gleichzeitiger rapider Wissensentwertung ausgeht. Pädagogisch gewendet ergebe sich hieraus ein Hang zur Beschleunigung und Flexibilisierung im Bildungssystem, ungeachtet der biologischen Eigenzeiten und Rhythmen des Wissenssubjekts. Durch die Umakzentuierung des Wissens zur Kapitalform sollten Wettbewerbsvorteile (Ökonomisierung) erzielt und neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet werden. Der von J. Ruhloff konstatierte Wissensverlust in der W. bestehe jedoch nicht in der Überholung veralteten und ungültig gewordenen Wissens, sondern in der Konzentration auf „produktgeleitetes Verwendungswissen“ (Ruhloff 2007: 28) zulasten einer auf intersubjektiver Erkenntnis und Freiheit gerichteten Aneignung und souveränen Beherrschung überlieferter und neu erarbeiteter Wissensbestände. Als Legitimationsformel für den Umbau des Bildungswesens gemäß der bildungspolitischen Agenda der OECD werde mit der W. ein restriktiver Wissensbegriff vorgegeben, durch den in letzter Konsequenz das „freie Verhältnis zum Wissen verloren“ gehe (Ruhloff 2007: 32).

In bildungstheoretischer Hinsicht zeigen universale Deutungsformeln wie die W. aufgrund der vielen ungeklärten Widersprüche demnach erhöhten Forschungsbedarf an, zumal sie einen „wissenschaftlich ungedeckten Appell an unsere Zustimmung“ (Ruhloff 2007: 20) enthalten. Es gilt also, die vielfältigen „Beziehungen zwischen Pädagogik und Wissensgesellschaft herauszuarbeiten, zu problematisieren und mögliche Forschungsperspektiven für die Erziehungswissenschaft aufzuzeigen“ (Höhne 2003: 9). Unerlässlich für ein tieferes Verständnis der Zusammenhänge ist die Rekonstruktion der historischen Wurzeln in der „amerikanische[n] Reformpolitik“ und „rationalistische[n] Planungseuphorie der 1960er Jahre“ als Vorläufer der „zweiten“ Phase einer „neoliberalen Transformation“ der westlichen Gesellschaften in den 1990er Jahren (Höhne 2008: 297 f.), die mit den strukturellen Großreformen (Reform) des Bildungssystems nach PISA und der Bologna-Reform ihren vorläufigen Abschluss findet.

Angesichts der realitätsformierenden Macht populärer Zeitdiagnosen stellt deren wissenschaftliche Begleitung und Aufarbeitung gewissermaßen den Minimalanspruch an einen vielstimmigen Diskurs dar, in dem skeptische Positionen und Gegenthesen artikuliert werden dürfen, ohne als „alteuropäische Träumereien“ (Ruhloff 2007: 31) missverstanden zu werden.

3. Irrtümer und Risiken der Wissensgesellschaft

In seiner vielbeachteten „Theorie der Unbildung“ macht Konrad Paul Liessmann (2010) die im Untertitel des gleichnamigen Bandes offenbarten „Irrtümer der Wissensgesellschaft“ daran fest, dass diese Gesellschaftsform entgegen aller Beteuerungen den Wert des Wissens offenbar gar nicht „besonders schätze“, da es durch die Ausrichtung am Modell der Produktion und Anwendung „längst seines Erkenntnisanspruchs beraubt wurde“ (Liessmann 2010: 143). V. a. in bildungsethischer Hinsicht komme die trügerische Absicht zeitdiagnostischer Universalformeln zum Vorschein. Der Apotheose des Wissens stellt K. P. Liessmann die These entgegen, „daß in der Wissensgesellschaft das Wissen gerade keinen Wert an sich“ darstelle (Liessmann 2010: 143). Erst durch die „Integration des Wissens in ein Persönlichkeitskonzept, das den Menschen zum Souverän des sittlichen Handelns eben ‚bilden‘ will“ entstehe „das mündige und verantwortungsfähige Subjekt“ (Liessmann 2010: 146). Der eigentliche Wandel, an den die W. appelliere, sei die Transformation des Wissens von einem „integralen Moment eines Menschenbildungsprozesses zu einem Mittel im Kampf um Märkte und industrielle Zukunftschancen“ (Liessmann 2010: 147). Folgt man dieser Sichtweise, handelt es sich um eine Gesellschaftsform, die von der Vorstellung geleitet wird, „alles der Kontrolle des ökonomischen Blicks unterwerfen zu können“ (Liessmann 2010: 175), ohne zu bemerken, dass dies zunehmend um den Preis von Freiheit, Bildung und Aufklärung geschieht. Die Glorifizierung und bloße Ansammlung von Wissen, die von einem naiven Enzyklopädismus und einer positivistischen Wissensauffassung (Positivismus) getragen wird, stellt ohne prüfende Rückbindung an dessen Träger keine Beförderung, sondern die Verhinderung von Bildung dar.

Einen weiteren beachtenswerten Blick auf die W. jenseits naiver Verklärung liefert der US-amerikanische Physiker und Nobelpreisträger Robert Betts Laughlin: Zwar erlaube die W. aufgrund technologischer Neuerungen wie keine andere Gesellschaftsform zuvor einen freien Zugang zum Wissen und die Partizipation an dessen Weiterentwicklung, wodurch aber längst eine „paradoxe Situation entstanden“ sei: „Wissen ist gefährlich. Die Möglichkeiten Wissen zu erwerben, können zu erheblichen Konflikten führen“ (Laughlin 2008: Umschlagtext). Seine eindringliche Analyse der Disparitäten der W. im Widerstreit von ökonomischen Interessen, dem Bedürfnis nach Sicherheit und den Menschenrechten, macht auf die Bedrohungen aufmerksam, die sich aus dem Wandel zum Informationszeitalter ergeben. Vom Schul-, Anwendungs- und Lebenswissen deutlich zu unterscheiden sei ein Wissen, das entweder aufgrund seines ökonomischen Wertes als Privateigentum geheim gehalten werde oder aufgrund seines Gefahrenpotentials vor dem Erwerb durch Unbefugte geschützt werden müsse. Die Utopie einer neuen Bildungsgerechtigkeit als positiver Effekt eines durchlässigen Wissens- und Informationssystems lasse leicht übersehen, dass sich „Staaten, Unternehmen und Individuen“ anlässlich der Entwertung materieller Ressourcen zunehmend darum bemühten, „Konkurrenten um jeden Preis davon abzuhalten, bestimmte Dinge in Erfahrung zu bringen“ (Laughlin 2008: 9). Laut R. B. Laughlin häuften sich seit der beschriebenen Transformation die Belege für diese „Verbrechen der Vernunft“ und den „Betrug an der Wissensgesellschaft“, so der deutsche Titel seines Essays, v. a. in den Bereichen Wirtschaft, Politik und Militär. Der aktuelle Streit um den Schutz persönlicher Daten (Datenschutz), die wachsende Zahl von Angriffen auf sensible Systeme, die steigende Cyberkriminalität und Fälle von Industriespionage (Spionage) passen für R. B. Laughlin hier genauso ins Bild wie die traditionellen „Wissensverbote“ etwa im Bereich der Atomphysik oder Gentechnik, die notwendig seien, um katastrophale Auswirkungen unerlaubter Wissensaneignung und böswilliger Wissensverwendung zu unterbinden. Er beschreibt eine bizarre Entwicklung der Kriminalisierung und Bedrohung des Wissens, die daran appelliert, im Kontext sozialer Großmutationen den Sinn für Kritik nicht zu verlieren, und den Blick für potenziell dystopische Auswirkungen weiter zu schärfen. Sein Ausblick auf ein „neues ‚Dunkles Zeitalter‘, dessen Kennzeichen nicht Licht und Wahrheit sind, sondern Desinformation und Ignoranz“ (Laughlin 2008: Umschlagtext) empfiehlt sich in jedem Fall der anhaltenden wissenschaftlichen Aufmerksamkeit.

Anstatt die Skepsis bzgl. neuer Gesellschaftsformen und -diagnosen als Betätigungsfeld einer kulturpessimistischen Avantgarde (Kulturkritik) fehlzudeuten, sei sie stattdessen als Ausführung eines alten pädagogischen Auftrags verstanden, der am Erhalt der inneren Verbindung von Bildung und Wissen im Namen der Humanität arbeitet, oder anders ausgedrückt: „Ohne Sozialisation und Wissenserwerb sind Menschen nicht überlebensfähig; ohne B[ildung] sind sie nicht frei“ (Frost 2017: 693).