Wissenschafts- und Forschungspolitik

Version vom 14. November 2022, 06:01 Uhr von Staatslexikon (Diskussion | Beiträge) (Wissenschafts- und Forschungspolitik)

1. Akteure, Governance, institutionelle Settings

W. und F. bezieht sich auf die Governance, auf die institutionellen Settings und die Finanzierung des Wissenschaftssystems sowie auf dessen Außenbeziehungen zu anderen gesellschaftlichen Teilbereichen wie der Wirtschaft oder anderen Politikfeldern. F. ist eine Teilmenge der W. und adressiert die Rahmenbedingungen von öffentlich finanzierter Forschung. W. und F. findet im nationalen Rahmen statt; internationaler Austausch und internationale Kooperationen sind jedoch ein wichtiger Bestandteil nationaler Politik. Darüber hinaus ist die EU durch Rahmenprogramme wie zuletzt „Horizon 2020“ oder aktuell „Horizon Europe“ ein bedeutender Akteur für die Finanzierung transnationaler europäischer Forschungs- und Innovationsprojekte geworden.

Unter W. und F. wird nicht nur die staatliche Ressortpolitik des Bundes und der Länder verstanden, die sich gerade im letzten Jahrzehnt durch neue Zuschreibungen von Aufgaben, Zuständigkeiten und Arbeitsteilungen mit veränderten Rollen auseinandersetzen muss, sondern es geht auch um politische Arrangements zwischen Ministerien, Forschungsförderern, Selbstverwaltungsorganen (Selbstverwaltung) der Wissenschaft, um Aushandlungsprozesse zwischen den Hochschulen bzw. außeruniversitären Forschungseinrichtungen, die neue Koordinationsleistungen erbringen müssen, sowie Mikropolitik innerhalb von wissenschaftlichen Einrichtungen, wenn sich die Bedingungen wissenschaftlichen Handelns verändern. Eine entscheidende Rahmenbedingung stellt die gegenüber der Wissenschaft kritischer eingestellte und Rechenschaft einfordernde Öffentlichkeit dar.

2. Konjunkturen der Wissenschafts- und Forschungspolitik

Die dominierenden Vorstellungen darüber, welche Rahmenbedingungen bes. förderlich für Wissenschaft und Forschung sind, um möglichst großen Nutzen für die Gesellschaft zu erzielen, haben sich seit der Nachkriegszeit stark verändert. Vorherrschend war in den 1950er und 1960er Jahren sowohl in den USA als auch in europäischen Staaten das sog.e „lineare Modell“ mit der Vorstellung, dass Grundlagenforschung aus sich heraus in praktische Anwendung überführt werden könne, ohne dass es staatlicher Interventionen in Form von Förderprogrammen und anderen Steuerungsinstrumenten (Steuerung) bedürfe. Das wichtigste wissenschaftspolitische Dokument der Nachkriegszeit, entstanden aus den Erfahrungen der Vereinnahmung von Wissenschaft durch politische Regime, ist der 1945 von Vannevar Bush, Direktor des Office of Scientific Research and Development, veröffentlichte Report „Science. The Endless Frontier“, der die zukünftige W. und Technologiepolitik entwarf und ein flammendes Plädoyer für eine politisch unabhängige und freie Grundlagenforschung darstellt.

In den 1970er Jahren, im Bewusstsein einer zunehmenden Bedeutung von Wissenschaft und Forschung für die nationalen Volkswirtschaften, herrschte in der deutschen W. und F. eine gewisse Planungseuphorie (Planung) vor. Die Ergebnisverwertung von Wissenschaft und Forschung sollte gezielt mit Unterstützung einer staatlichen Förderpolitik zum wirtschaftlichen Wohlstand beitragen. Hierfür wurden Förderprogramme der anwendungsorientierten Forschung vom damaligen Ministerium für Forschung und Technologie (heute BMBF) auf den Weg gebracht. Dabei wurde den Sozialwissenschaften die bes. „sozialtechnologische“ Rolle zugedacht, die gesellschaftlichen Voraussetzungen für technologische Innovationen auszuleuchten.

Die Vorstellung der Steuerbarkeit von Forschung hielt sich jedoch nicht besonders lange. Sie wurde in den zurückliegenden 30 Jahren von dem Konzept der Governance abgelöst, verstanden als System aus intra- und interorganisatorischen Regelungsstrukturen. Praktischen Ausdruck fand das im NPM (Public Management), das international als good governance galt und gilt. An den Hochschulen und auch den außeruniversitären Forschungseinrichtungen sollte die Selbststeuerungskompetenz mit neuen Instrumentarien erhöht und das Verhältnis zum Staat in Form von vertraglichen Regelungen – etwa über Leistungsvereinbarungen – gestaltet werden. In den 1990er Jahren wurde aber nicht nur NPM im Bologna-Raum eingeführt. Damit verbunden war auch ein neuer Koordinationsmodus durch verstärkten Wettbewerb, Kontrolle und Rechenschaftspflicht. In Deutschland war zudem nach einer langen Phase der Stabilität, aber auch institutioneller Verkrustungen, Vieles in Bewegung geraten: Bologna-Prozess, Exzellenzinitiative, leistungsorientierte Mittelvergabe, Personalentwicklung und Nachwuchsförderung, Wissenschaftskommunikation, Evaluationen, open science und citizen science. Organisations-, Koordinations- und Bewertungsformen sind signifikant verändert worden.

In den letzten Jahren wurde die Frage nach der Nützlichkeit von öffentlich finanzierter Forschung neu akzentuiert, also die nach den konkreten Ergebnissen von W. und F. für eine – großen Herausforderungen gegenüberstehende – Gesellschaft, gerade auch vor dem Hintergrund der grand challenges eines sich verändernden Verhältnisses von Wissenschaft, Gesellschaft und Politik. Neue Formen der Wissensproduktion in Formaten, in denen Wissenschaftler gemeinsam mit anderen gesellschaftlichen Akteuren, etwa aus der Zivilgesellschaft oder der Wirtschaft, insb. in gesellschaftlich hochrelevanten und zugl. umstrittenen Feldern (etwa der Energie- und Mobilitätswende) zusammenarbeiten, werden gefördert durch Programminitiativen, sog.e „Reallabore“ und „Experimentierräume“, um auf diese Weise verwertbares und innovatives Wissen schneller zu erzielen, das zudem mit großer gesellschaftlicher Legitimation ausgestattet ist.

3. Akteure der Wissenschafts- und Forschungspolitik

Die W. und F. ist in Deutschland bis heute von einem engen Zusammenspiel und hohem Verflechtungsgrad von v. a. staatlichen, doch z. T. auch gesellschaftlichen Akteuren bestimmt. Letztere nehmen in beratenden Organen oder Gremien staatlicher Institutionen mit aufsichtsratsähnlichen Funktionen eine wichtige Funktion wahr. Kennzeichnend ist die geteilte Verantwortung von Bund und Ländern für die W., F. und Bildungspolitik, was für ihren Handlungsradius in strittigen Fragen, etwa dem sog.en „Kooperationsverbot“, z. T. langwierige Aushandlungsprozesse voraussetzt. Diese finden v. a. in der GWK statt, die die Haushalte der gemeinsam finanzierten vier außeruniversitären Forschungsorganisationen – der FhG, HGF, WGL, MPG, der Akademien und der DFG zu beschließen hat. Darüber hinaus bereitet sie alle finanzwirksamen Entscheidungen der Wissenschaftsförderung vor, die der gemeinsamen Zustimmung bedürfen. Das wichtigste wissenschaftspolitische Beratungsgremium stellt der 1957 gegründete Wissenschaftsrat dar, in dem neben Vertretern der Wissenschaft auch die staatlichen Akteure aus Bund und Ländern vertreten sind. Die notwendige Zustimmung zu den wissenschaftspolitischen Empfehlungen und Evaluationsergebnissen wissenschaftlicher Einrichtungen in zwei „Kammern“, der Wissenschaftlichen Kommission und der Verwaltungskommission, stärkt die Chancen der Umsetzung der verabschiedeten Empfehlungen.

Das BMBF ist sowohl für die institutionelle als auch für die projektförmige Forschungsfinanzierung zuständig. Für die Hochschulen ist die DFG die zentrale Selbstverwaltungsorganisation der Wissenschaft und damit ihr wichtigster Finanzier. Die Mittel werden vom Bund und jeweiligen Land anteilig bereitgestellt. Neben den Hochschulen profitieren von der DFG die antragsberechtigten öffentlich finanzierten Forschungseinrichtungen.

Zentrale Adressaten staatlicher W. und F. sind neben den Hochschulen die vier außeruniversitären Forschungsorganisationen, diverse Länderinstitute, die Ressortforschung sowie die Akademien. Dieses institutionelle Setting weist hochgradige Stabilität auf, so dass im wissenschaftspolitischen Diskurs zuweilen eine Versäulung moniert wird, welche die für Innovationsprozesse notwendige institutionelle Durchlässigkeit und Flexibilität verhindere. Als ein dagegen sehr beliebtes Instrument wurden Kooperationen v. a. zwischen Hochschulen und den außeruniversitären Forschungseinrichtungen in unterschiedlichen Formaten initiiert, etwa gemeinsame Berufungen, gemeinsame Formen der Nachwuchsförderung in Graduiertenschulen, Forschungskooperationen u. a. im Rahmen der Exzellenzinitiative oder vielfältige andere Formate der Zusammenarbeit.

Mit dem BMBF und der DFG sind auch zugl. die wichtigsten Akteure für die Finanzierung des deutschen Wissenschaftssystems – institutionell und projektbezogen – genannt. Der Aufwuchs von mehr als 20 Mrd. Euro ab dem Jahr 2006 ist allerdings nicht der Grundfinanzierung zu verdanken, sondern drei Pakten: dem „Pakt für Forschung und Innovation“, der „Exzellenzinitiative“ und dem „Hochschulpakt Lehre“. Auf sie haben sich Bund und Länder verständigt, was zugleich das Gewicht zwischen Bund und Ländern zugunsten des Bundes verschoben hat. Während sich der „Pakt für Forschung und Innovation“ auf die vier außeruniversitären Forschungsorganisationen und die DFG bezieht, ist der „Hochschulpakt Lehre“ den Hochschulen vorbehalten. Ermöglicht durch die Änderung des Art. 91 b Abs. 1 GG vom 1.1.2015 konnte der Bund in die Finanzierung der Hochschulen einsteigen. Mit den Pakten wurden die materiellen Rahmenbedingungen des deutschen Wissenschaftssystems für absehbar zwei Jahrzehnte gesichert.

4. Die Exzellenzinitiative: Ausdifferenzierung und Profilbildung?

Eng verbunden mit dem Wettbewerbsdiskurs ist im deutschen Wissenschaftssystem der Exzellenzdiskurs, ausgelöst durch das wettbewerbliche Förderprogramm „Exzellenzinitiative“ (ab 2018 „Exzellenzstrategie“), dem eine Differenzierungs-, bzw. Stratifizierungslogik zugrunde lag. Nachdem lange Zeit die Hochschullandschaft von Gleichheitsvorstellungen geprägt war, sollten nun eine vertikale Differenzierung – durch die Förderung international sichtbarer Exzellenzuniversitäten – und eine horizontale Differenzierung durch Profilbildung erreicht werden. Angestrebt waren Profilierungen des Leistungsspektrums von Hochschulen: international sichtbare Spitzenforschung, eine international ausgerichtete Nachwuchsförderung, Weiterbildung, Wissens- und Technologietransfer etc. Wenn auch nicht ausdrücklich adressiert, wurde auch ein Spillover-Effekt auf innovative Lehrangebote erwartet. Zwar ist eine gewisse vertikale Differenzierung in der Hochschullandschaft durchaus festzustellen, denn die Auswirkungen der nicht unbeachtlichen zusätzlichen finanziellen Mittel sind v. a. mittelfristig nicht zu unterschätzen, zumal einige Universitäten durch Zuwendungen des Fortsetzungsprogramms „Exzellenzstrategie“ dauerhaft davon profitieren können. Doch zeigt die wissenschaftspolitisch erwünschte Profilbildung mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen als Antwort auf neue gesellschaftliche Herausforderungen eher begrenzte Effekte: Vor dem Hintergrund einer verschärften Multireferentialität ihrer Handlungssituation, die die ganze Palette des Leistungsspektrums von Hochschulen betrifft, konzentrieren sich die Universitäten auf das Feld, das im deutschen Wissenschaftssystem – und nicht nur dort – am meisten Reputation verspricht: (Grundlagen-)Forschung. Hierfür entstehen neue (interdisziplinäre) Forschungszentren oder -cluster quer zu den Fakultäten als bislang Getrenntes zusammenfügende Metastruktur.

Vor dem Hintergrund der Diskussion in der Organisationssoziologie, ob die Hochschulen im Zuge von NPM und weiteren Reformmaßnahmen zu sog.en „normalen“ Organisationen werden, in denen sich das Machtgefüge von den dezentralen Strukturen – den Fakultäten – hin zu den Hochschulleitungen verschiebt, muss sehr wohl festgestellt werden, dass die Durchgriffsrechte und -möglichkeiten, mit denen sich eine Profilbildung von oben nach unten bewirken lässt, nach wie vor äußerst begrenzt sind. Dies hat auch die sog.e Imboden-Kommission feststellen müssen, welche die Exzellenzinitiative evaluiert hat.

5. Impact und Reputation

W. und F. muss nicht nur Rahmenbedingungen und Anreize für herausragende Forschung bieten, sondern auch dafür sorgen, dass Forschungsergebnisse Relevanz für Gesellschaft und Wirtschaft erzeugen. Dies ist zunächst einmal das Anliegen der Innovationspolitik, die sich v. a. für wirtschaftliche Verwertung zuständig erklärt. Hochschulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen sind zweifelsohne die wichtigsten Institutionen eines nationalen Innovationssystems. Deutschland ist sehr erfolgreich in der Generierung von Patenten, die allerdings, trotz aller Bemühungen des BMBF insb. im Rahmen der Hightech-Strategie, nur in wenigen Fällen Marktreife erreichen können. Leider ist das bislang auch so in den Zukunftstechnologien wie Biotechnologie, Informations- und Kommunikationstechnologie, Digitalwirtschaft und Energietechnologie.

Die verstärkte Forderung nach Impact geht darüber hinaus. Sie betrifft alle wissenschaftlichen Disziplinen und Forschungsfelder, die ihre gesellschaftliche Bedeutung unter Beweis stellen sollen. Deshalb tritt die W. auf den Plan und fordert mehr und mehr tatsächliche Nachweise, wie man den Impact erhöhen und auch bewerten kann. In den vergangenen Jahren wurde Impact in Evaluationsverfahren zunächst als wirtschaftlicher Ertrag verstanden, was zu eher hilflosen Versuchen führte, Patente, Lizenzen und auch Spin-offs zu erfassen. Das zu beobachtende Ereignisfeld ist mittlerweile um publikumswirksame Veranstaltungen sowie um Publikationen erweitert worden, die einen breiteren Kreis als die scientific community ansprechen. Zwei Probleme tauchen hier jedoch auf: Erstens geht es darum, wie man diese vielfältigen Aktivitäten erfassen kann: „The analysts draw the conclusion that the development of ‚robust impact metrics‘ is unlikely“ (King’s College London 2015: 7). Zweitens geht es um die Anerkennung all dessen im Wissenschaftssystem. Solche Aktivitäten können zwar quantitativ erfasst werden; am Ende wird wissenschaftliche Reputation jedoch ausschließlich durch die Bewertung veröffentlichter Artikel verliehen. Dabei ist – unbeschadet aller Öffentlichkeitsaktivitäten – das Urteil von Kollegen (Peer Review) für die wissenschaftliche Karriere ausschlaggebend. Im Zuge dessen ist eine Diskussion über citizen science und altmetric aufgekommen, bei der es um Fragen danach geht, wer Forschungsergebnisse produziert – und wer berechtigt ist, die Qualität wissenschaftlicher Leistungen zu bewerten, bzw. auf welche Weise das zu geschehen hat.

6. Fazit

In den letzten Dekaden sind von der W. eine Reihe von Umbaumaßnahmen im deutschen Wissenschaftssystem forciert worden, die dessen Governance und institutionellen Settings betreffen. Etwa werden die W. und F. Regulierungsfragen als forschungsethisches Problem verstärkt beschäftigen, oder es wird die Öffnung der Wissenschaft (open science) mitsamt ihren Voraussetzungen und Folgerungen weiter diskutiert werden.

V. a. durch die „Pakte“ ist es in den letzten Jahrzehnten gelungen, mehr Geld für das öffentlich finanzierte Wissenschaftssystem zu mobilisieren, und zwar ohne den konkreten Leistungsbezug zu verändern. Die W. und F. hat es allerdings nicht erreicht, die Deutungshoheit über Themen und Qualitätsstandards der akademischen Wissenschaft so zu relativieren, dass bspw. die Durchlässigkeit zu anderen gesellschaftlichen Teilsystemen größer wird und damit bislang womöglich schlummernde Innovationspotentiale stärker genutzt werden könnten. Die grundlegenden Prämissen des deutschen Wissenschaftssystems wurden jedenfalls nicht in Frage gestellt. Selbst die bedeutendste Initiative, die Exzellenzinitiative, konnte hinsichtlich ihres wesentlichen Ziels, mehr horizontale Differenzierung zu erreichen, nur sehr begrenzte Wirkungen erzielen. Insgesamt sieht man eher Tendenzen einer Entdifferenzierung in der Hochschullandschaft, etwa zwischen den Universitäten und den ehemaligen Fachhochschulen, und zwar mit Anstrengungen, dort die Forschung zu stärken, einen akademischen Mittelbau zu etablieren und das Promotionsrecht zu erhalten. Hinzu kommt, dass der Verflechtungsgrad unterschiedlicher politischer und auch gesellschaftlicher Akteure zwar konsensuale Aushandlungsprozesse fördert, deren Kehrseite jedoch die Bindung von Zeit und Energie ist, weshalb durchaus vorhandenes Innovationspotential trotz – oder bisweilen gerade wegen – solcher Veränderungen nicht immer zur Entfaltung gebracht werden kann.