Wirtschaftsordnungen

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1. Definition und Abgrenzung

Der Begriff der W. bezeichnet alle Institutionen, die für den Aufbau und die Funktionsweise einer Volkswirtschaft verantwortlich sind. Hierzu gehören die formellen (z. B. Rechtssystem, Beschaffenheit der Eigentumsrechte [ Eigentum ]) und informellen (z. B. Werthaltungen [ Wert ], Traditionen). Zusätzlich können (insb. staatliche) Einrichtungen, die sich um die Steuerung und Verwaltung der Regeln kümmern, ebenfalls zur W. gezählt werden. Dabei kann der Begriff der W. sowohl als Beschreibung gegenwärtig existierender W. sowie zur gedanklichen Konstruktion einer hypothetisch geordneten W. dienen (Soziale Marktwirtschaft, Ordnungsökonomik). Hinsichtlich der Auswirkungen lassen sich drei Aspekte von W. unterscheiden:

a) Soziotechnische Wirkungen, welche die mannigfaltigen Einzelprozesse mittels Institutionen leiten und normieren,

b) eine Lenkungsfunktion hinsichtlich der Produktion, Bewertung und Verwendung von wirtschaftlichen Gütern (z. B. über markt- oder planwirtschaftliche Ordnungsprinzipien) und

c) gesellschaftspolitische Auswirkungen von W., die aus der Wechselwirkung in der Ausgestaltung einer W. mit anderen Teilbereichen der Gesellschaft resultieren (Gesellschaftspolitik).

Abzugrenzen ist die W. von dem oftmals synonym verwendeten Begriff der Wirtschaftsverfassung (Verfassungsökonomik, Neue Politische Ökonomie) und dem Wirtschaftssystem. Ersteres bezieht sich lediglich auf die formellen Institutionen einer W. Ebenso ist eine Gleichsetzung mit dem Wirtschaftssystem nicht zielführend, da mit diesem Begriff versucht wird, genuin wirtschaftliche Tätigkeiten analytisch von anderen gesellschaftlichen Teilbereichen (z. B. Recht oder Politik) abzugrenzen (Systemtheorie; Wirtschaft). Der Begriff der W. nimmt davon Abstand, indem er eine breitere Betrachtungsweise anlegt. Überlappungen mit dem Begriff des Wirtschaftssystems, verstanden als Mechanismus zur Koordination der mannigfaltigen Einzelpläne der Teilnehmer des volkswirtschaftlichen Gesamtgeschehens, sind aber durchaus gegeben. Im entsprechenden Fachartikel wird dargelegt, inwiefern der Systembegriff auf die institutionelle Gestaltung von Volkswirtschaften angewendet und hierbei grobe Klassifikationen (z. B. Plan- und Marktwirtschaft, Varieties of Capitalism) vorgenommen werden können. Dieser Aspekt, der sich v. a. für die vergleichende Betrachtung von verschiedenen Wirtschaftsstandorten (meist Staaten) anbietet, wird häufig auch (nicht ganz trennscharf) unter dem Label der W. behandelt. Aufgrund der häufig ungenauen Verwendung und zahlreichen Überlappungen der beiden Begriffe W. und Wirtschaftssystem ist es sinnvoll, noch ein weiteres Abgrenzungskriterium anzuführen: So kann unter einem Wirtschaftssystem eine idealtypische Modellkonstruktion verstanden werden, wohingegen die W. stärkeren Bezug auf reale Volkswirtschaften nimmt. Der Begriff des Wirtschaftssystems befasst sich also mehr mit der inneren Logik und den Ablaufsprozessen in einer Volkswirtschaft, während die W. auch jene Interaktionen berücksichtigt, die an der Schnittstelle zwischen ökonomischen und anderen gesellschaftlichen Teilsystemen stattfinden. Auch ist bei der Beschäftigung mit W. in der Regel eine wesentlich stärker ausgeprägte normative Komponente vorhanden. Während Fragen nach dem Wirtschaftssystem vielfach auf recht elementare Systemvergleiche hinauslaufen, die zumeist einem strikt positiv orientierten Verständnis in den Wirtschaftswissenschaften zugerechnet werden können, schwingt bei der Verwendung des Begriffs W. auch immer die Idee einer bewusst angestrebten W. mit. Mit diesem Idealbild einer geordneten Wirtschaft ist meistens das Ziel angestrebt, ein gutes Leben für alle in der jeweiligen W. lebenden Menschen zu ermöglichen (Wohlfahrtsökonomik [ Wohlfahrt ]).

2. Entwicklungslinien und Besonderheiten

Die Reflexion bestehender W. ist historisch recht neu. Bis zur Renaissance war die gesellschaftliche Ordnung – und damit auch die W. – in die kosmische Ordnung, die als von Gott geschaffen angesehen wurde, eingefügt. Das Nachdenken über die W. fiel in den Geltungsbereich der Theologie. Parallel mit dem Umbruch im Ordnungsverständnis in den Naturwissenschaften (Demystifizierung der Natur) stellt sich auch in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ein Verständnis für die Versteh- und Gestaltbarkeit der W. ein, womit gleichzeitig eine Abkehr von der primär ethischen hin zu einer ökonomischen Beurteilung wirtschaftlicher Aktivität einhergeht. Vor diesem Hintergrund kann die Bedeutung der Beiträge u. a. von Bernard Mandevilles „Bienenfabel“ (1980 [zuerst 1714]; spontane Ordnung) oder Adam Smiths „Der Wohlstand der Nationen“ (1776) erst richtig eingeschätzt werden: Die Einsicht, dass strikt eigennutzorientiertes Handeln (Nutzen) – bei Vorhandensein einer adäquaten institutionellen Rahmung des Wirtschaftsgeschehens – zu gesamtgesellschaftlich wünschenswerten Ergebnissen führen kann, ist eine eindrucksvolle Hinwendung zur Eigenlogik von W. Hierbei ist allerdings zu ergänzen, dass die bloße Forderung einer marktlichen W. nicht immer ausreichend ist, um individuelle Interessen in sozial wünschenswerte Resultate zu transformieren. Vielmehr muss auch darüber nachgedacht werden, welche informellen Komponenten einer W. Individuen in ihren Handlungen prägen, um letztlich Handlungsweisen hervorzurufen, die möglichst wünschenswerte Resultate für möglichst breite Bevölkerungsschichten zeitigt. Dieser Gedanke wird im deutschsprachigen Raum im 20. Jh. v. a. von den Vertretern des Ordoliberalismus dahingehend weiterentwickelt, als dass für sie die wirklich wichtigen Komponenten des wirtschaftlichen Lebens „jenseits von Angebot und Nachfrage“ (Röpke 1958) liegen.

3. Kontextuale Ökonomik als (Wirtschafts-)Wissenschaft der Wirtschaftsordnung

Die VWL nach dem Zweiten Weltkrieg war – und ist es zu einem gewissen Grad immer noch – eine Wissenschaft, die einen „isolierenden“ Blick auf ihren Gegenstandsbereich wirft. Sie versucht genuin wirtschaftliches Handeln von dem Kontext, in dem dieses stattfindet, abzugrenzen. Wie Nils Goldschmidt, Erik Grimmer-Solem und Joachim Zweynert zeigen, kann dieses Vorgehen in Zeiten wirtschaftlicher, sozialer und politischer Stabilität sinnvoll sein. In Zeiten großer Umbrüche – wie wir sie im Moment in vielerlei Hinsicht erleben – scheint es jedoch sinnvoll, wirtschaftliche Prozesse an gesellschaftliche und sonstige Entwicklungen rückzubinden, um so weitere Einsichten zu gewinnen, die die Gestaltung der W. verbessern können.

Das relativ junge Forschungsprogramm der kontextualen Ökonomik adressiert dies, indem es die Erforschung der W. – und ihrer mannigfaltigen Interaktionen mit den übrigen gesellschaftlichen Teilsystemen – explizit zum Forschungsgegenstand der VWL macht. Dies lässt sich am Beispiel der Transformationsprozesse in Osteuropa (Systemtransformation) illustrieren: Die Grenzen einer isolierenden Ökonomik wurden nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus und den daran anschließenden Transformationsprozessen hin zu Marktwirtschaften offensichtlich. Während viele westliche Ökonomen das Vorhandensein eines klar ausdifferenzierten ökonomischen Subsystems in den jeweiligen Gesellschaften voraussetzten, das nun – geradezu mechanisch – lediglich aus einer planwirtschaftlichen (Zentralverwaltungswirtschaft) in eine marktwirtschaftliche Logik überführt werden müsse, erwies sich diese Vorgehensweise in der Praxis häufig als nicht zielführend. Wenn z. B. Paul A. Gregory und Robert C. Stuart „Transition“ als „das Ersetzen eines Wirtschaftssystems durch ein anderes“ (1998: 18, Übersetzung der Autoren) bezeichnen, verkennt dies vollkommen die Tatsache, dass das planwirtschaftlich organisierte Wirtschaftssystem der ehemals kommunistischen Staaten (Kommunismus) bis ins kleinste Detail mit dem politischen System der jeweiligen Staaten verschmolzen war. Ein erfolgversprechender Übergang von einem geplanten in ein marktliches Wirtschaftssystem konnte und kann also gar nicht ohne Beachtung der weiter gefassten W. durchgeführt werden. Folglich hätte eine stärkere Berücksichtigung der überkommenen planwirtschaftlichen W., ihrer formellen wie informellen Regeln und ihrer Interaktion mit weiteren Teilsystemen mit Blick auf die Gestaltung einer neuen W. (darunter insb. das Verhältnis zwischen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft) vermutlich zu besseren Resultaten führen können.

Auch andere Bereiche können von einer kontextualen Perspektive in den Wirtschaftswissenschaften profitieren. Das Aufkommen neuartiger Technologien, die wesentlichen Einfluss auf die Produktionsstruktur und die sektorale Gliederung der wirtschaftlichen Aktivitäten nehmen, weltweite Lohnarbitrage im Zuge zunehmender Globalisierung, der wirtschaftliche und geopolitische Aufstieg (Geopolitik) Chinas, internationaler Terrorismus, politische Instabilität in vielen Teilen der Erde und – teilweise davon ausgelöste – massive globale Migrationsbewegungen (Migration), die omnipräsente Gefahr des Klimawandels sowie die Probleme, die der demographische Wandel in entwickelten Volkswirtschaften hervorruft, lassen eine kontextuale Perspektive auf wirtschaftliche Prozesse zunehmend sinnvoll erscheinen.

Hier hilft auch der Rückgriff auf die Geschichte des ökonomischen Denkens. Zwar herrschen seit der zweiten Hälfte des 20. Jh. isolierende Ansätze in der Ökonomik vor, eine kontextuale Perspektive kann aber bis zur Gründung der eigenständigen Disziplin der Ökonomik im Zeitalter von A. Smith nachgezeichnet werden. Die sozialen Verwerfungen, die im späten 18. Jh. durch die fortschreitende Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) und die Herausbildung moderner Marktgesellschaften entstanden, ließen eine Vielzahl an Fragestellungen aufkommen, die eine kontextuale Sichtweise beförderten. Prominent findet sich der Fokus auf die W. in der Deutschen Historischen Schule (Historismus in der Wirtschaftswissenschaft), die das im späten 19. Jh. stattfindende Phänomen der rapiden, aufholenden Industrialisierung zu erklären versuchte. Ebenfalls überrascht es nicht, dass v. a. deutschsprachige Ökonomen in der ersten Hälfte des 20. Jh. (Freiburger Schule, Österreichische Schule der Nationalökonomie), deren persönliche Lebenserfahrungen von tiefgreifenden Umbrüchen und sozialen Verwerfungen gekennzeichnet waren, nach Lösungen für ökonomische und politische Probleme suchten, die auf der Ebene der W. aufzufinden sind.

Vor diesem Hintergrund wird es verständlich, warum viele der wichtigsten wirtschaftswissenschaftlichen Beiträge der letzten Jahre, explizit oder implizit, kontextualer Natur sind und eine hohe Sensitivität für Fragen der Gestaltung der W. aufweisen: Während in den 1970er und 80er Jahren vergleichende Wirtschaftssystemforschung aufgrund der Präsenz von real existierenden planwirtschaftlichen Systemen Priorität eingeräumt wurde, sind heute in den meisten Staaten der Erde marktlich basierte „Wirtschaftssysteme“ vorhanden, die sich jedoch in ihrer jeweiligen Ausgestaltung und Funktionsweise – also ihrer W. – erheblich unterscheiden. In diesem Sinne können Daron Acemoglus und James A. Robinsons „Why Nations Fail“ (2012) oder auch Douglass C. Norths, John J. Wallis und Barry R. Weingasts „Violence und Social Orders“ (2013) als Beiträge zur „W.s-Forschung“ verstanden werden: Der Fokus liegt hierbei nicht auf abstrakten Vergleichen der Wirkungsweise einzelner Wirtschaftssysteme, sondern im Herausarbeiten von kleinen – aber potenziell höchst einflussreichen – Details in den Unterschieden der W. von realen Volkswirtschaften.

In diesem Sinne ist zu erwarten, dass sich der bisweilen antiquiert klingende Begriff der W. in Zukunft neuer Beliebtheit erfreuen könnte. Der dynamische Charakter von Volkswirtschaften und das permanent stattfindende Wechselspiel zwischen ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Faktoren innerhalb von W. kann mit einer hierauf ausgerichteten Linse differenzierter betrachtet und analysiert werden.