Wahrheit

Version vom 16. Dezember 2022, 06:13 Uhr von Staatslexikon (Diskussion | Beiträge) (Wahrheit)
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Der Begriff W. kennzeichnet lebenswichtige Aspekte humaner Kommunikation und, in anspruchsvollerem Gebrauch, einen idealen Anspruch auf Sachgerechtigkeit. Der Bedeutungsbogen des Terminus reicht von „wahren Behauptungen“ in Alltag und Wissenschaft bis zu Suggestivformen wie „wahres Leben“ oder „die ganze W.“. Er lässt sich nicht kontextfrei definieren, doch eine Redewendung trifft den Kern der Bedeutungsvielfalt: Jemand „sagt es, wie es ist“. Aristoteles zufolge ist es wahr, zu behaupten, Seiendes sei, Nicht-Seiendes hingegen nicht. Dieser epistemologisch-ontologische Ansatz ist vielfach abgewandelt worden. Die dabei auftretenden Divergenzen betreffen die Basisbestimmungen von W.; eine übergeordnete Frage gilt dem Begriffsfeld als solchem.

Welchen Beitrag leistet W. zum Selbstverständnis weltoffener, deliberativer Lebewesen? Aus diesem Kontext stammen die emphatisch-programmatischen Bestimmungen von W.

1. Basisbestimmungen

Die epistemologisch-ontologische Lesart stützt sich auf den veritativen Gebrauch der „Kopula“. Denken und Sagen „wie es ist“ artikuliert die Absicht, einer Sache zu entsprechen. Im Fall der W. wird eine Kontrollinstanz angenommen: Gedanken oder Sätze werden von den Umständen bestätigt. Die Welt besteht, so gesehen, aus Dingen(-in-Sachverhalten), und wahre Sätze korrespondieren solchen Beschaffenheiten. Aus diesen Überlegungen ist die mittelalterliche Formel der W. als einer adaequatio rei et intellectus entstanden. Gleichstimmigkeit reicht allerdings nicht. Individuelle Auffassungen können mit den unterschiedlichsten Erfahrungen konform gehen. Sophistische und skeptische Positionen verweisen darauf, dass Personen sich „die Umstände richten können“. Gegen relativierende Kontextualisierungen hat Platon eine scharfe Grenze zwischen Meinungen und Wissen gezogen. In seiner Konzeption müssen sich Behauptungssätze zur Bestätigung nach Mustervorgaben richten. Solche platonische „Formen“ sind Seinsprinzipien, nach denen die Welt für rationale Ansprüche (Rationalität) verständlich und verlässlich gestaltet ist.

Nach diesem Entwurf kommt W. zu gleichen Teilen sprachlichen Äußerungen und den sie bestätigenden Instanzen zu. Ein wahrer Satz gibt Umstände wieder, wie sie, formgemäß, von sich her sind. Diese Tradition wirkt in einer auch heute gebräuchlichen Verwendung des Terminus nach. „Ein wahres Meisterwerk“ entspricht den Kriterien, die für Meisterwerke gelten. Der Satz „Es ist wahr, dass es sich um ein Meisterwerk handelt“, bezieht seine W., in platonischem Verständnis, aus einer Seinsklassifikation. In christlichen Deutung wurde die göttliche Schöpfungsordnung zum Garant derartiger Stabilitäten. Ein solcher Parallelismus war im Horizont der Aufklärung nicht zu halten. Die Konkordanz zwischen Sachverhalten und Aussagen wurde gelockert. Empirische Prüfverfahren verbürgen W. ohne Rückhalt in ontologischen Regelmäßigkeiten; als Ort der Formbestimmungen wurde die rationaler Reflexion betrachtet.

Die Überprüfung von Geltungsansprüchen (Geltung) durch Erfahrung beruft sich auf Sinneseindrücke, die zu wahrheitsfähigen Ansichten und Behauptungen verarbeitet werden. Die Kapazitäten des Erkenntnisvermögens, und damit die Validierung seiner Produkte, sind unterschiedlich interpretiert worden. Varianten des kritischen Realismus setzen die klassische Linie fort und weisen epistemologische Kategorien als formgebende Prinzipien wissenschaftlicher Erkenntnis aus. Ihre Entsprechung sind Tatsachen, eine Koproduktion von Sinnlichkeit und Verstand. Der Beitrag der Erfahrungsseite kann aber auch unterschiedlich eingeschätzt werden. Ihr Input wird (positivistisch; Positivismus) als maßgebliche Vorgabe des Erkenntnisprozesses ausgezeichnet, oder (idealistisch; Idealismus) als undifferenzierte Zulieferung formbarer Impulse konzipiert. Entspr. unterscheiden sich die Instanzen zur Bestätigung von Behauptungssätzen. Im ersten Fall sind es die Ergebnisse fortlaufender empirischer Forschung, im zweiten ganzheitliche Verständnisentwürfe.

Ohne die synchrone Denk- und Seinsordnung der Vormoderne differenzieren sich die Aspekte des W.s-Begriffes. Sprache erschließt nicht bloß Welt, sie kann auch leerlaufen. Und umgekehrt sind vorgeblich gesicherte Welterfahrungen nicht gegen Irrtum gefeit. W. ist ein Konzept zur Kennzeichnung verlässlicher Aussagen angesichts dieser doppelten Unbestimmtheit. Es setzt Ausdruckkapazitäten einer gegebenen Sprache mit der durch sie vorgezeichneten Fassbarkeit der Umstände in Beziehung und fixiert sie auf Prüfung und Bestätigung durch solche Vorgaben. In Abwandlung zur Formenwelt Platons verbürgt in der an Immanuel Kant orientierten transzendentalphilosophischen Orthodoxie das Zusammenwirken sprachlich manifestierter Kategorien mit sinnlicher Erfahrung die Entwicklung fundierten Wissens. Sätze artikulieren die Vorstellungen von Sachverhalten und behaupten deren Bestehen. Sachverhalte sind ihrerseits Korrelate der zu prüfenden Satzvorgabe im Rahmen des jeweiligen Erfahrungswissens. Derart fundierte Behauptungen sind wahr, von „wahren Sachverhalten“ wird nicht mehr gesprochen.

Die adaequatio in modernem Gewand unterliegt einem schwerwiegenden Einwand. Instanzen zur Beglaubigung von Sätzen müssen in diesen Sätzen vorgebildet sein. Sie sind nur über das Zugangsinstrument erschlossen, dessen Verlässlichkeit sie sprachunabhängig gewährleisten sollen. Die angezielte Bestätigung setzt eine Überformung des Prüfenden durch das Geprüfte voraus. Um diesem Zirkel zu entgehen, sind abweichende W.s-Garantien zur Diskussion gestellt worden. Pragmatisch gesehen ist W. die Idealvorstellung einer zu guter Letzt erzielten Einigung im Wissenschaftsprozess (Konsens). Umgekehrt kann man die Garantie an der inneren Stimmigkeit eines Argumentationszusammenhanges festmachen (Kohärenz). Schließlich sind die in Aussicht genommenen Sachverhalte ihrerseits nur in einem diskursiven Rahmen zugänglich. Beide Ausweichoptionen vermeiden den Anschein, ein „Spiegel der Natur“ (Rorty 2017) würde Sätzen W. verleihen. Vom Begriff der Übereinstimmung machen sie dennoch Gebrauch. Die Einigung auf ein sachliches Ergebnis und das Zusammenpassen beglaubigender Äußerungen beruhen ihrerseits auf korrelativem Erfolg.

2. Begriffsfeld

Der überlieferte W.s-Begriff enthält eine Ausrichtung auf Objektivität. Wird der Hauptakzent umgekehrt auf die Leistungen des Individuums gelegt, ist eine radikale Gegenthese möglich: Allgemeinverbindliche W. sei eine Illusion. Friedrich Nietzsche bezeichnet W. als „ein bewegliches Heer von Metaphern“ (Nietzsche 1988: 880), W.en seien zweckmäßige, zu Fixpunkten erstarrte Übereinkünfte. Diese Behauptung leugnet Gültigkeit für Behauptungen – wie sie selbst eine ist. Dennoch ist das Bonmot bedenkenswert. Behauptungen über Behauptungen induzieren eine Sprachhierarchie. Auf gestuften Betrachtungsebenen können unterschiedliche Regeln für den Umgang mit Sprache gelten. Metaphern spielen dabei eine erhebliche Rolle.

Von W. ist oft bildhaft die Rede. Sie wird mit einem „unerschütterlichen Herz“ (Diels/Kranz 1922: 18 B 1) (Parmenides), der Sonne (Platon) oder einem Fundament (Moritz Schlick) verglichen. Solche Formulierungen thematisieren den Ort für W.s-Ansprüche. Er erweist sich als Spielraum zwischen Imagination, Artikulation und Manifestation des Weltgeschehens (Spielraum ist selbst eine Metapher). I. Kant spricht davon, dass die Vernunft (Vernunft – Verstand) einen Gerichtshof einzusetzen habe, der Scheinwissen von echtem Wissen trennt. Er gäbe unabhängig von einzelnen Konfliktfällen den Rahmen vor, innerhalb dessen zu entscheiden sei. Ohne Rückgriff auf derartige Verbildlichungen hat Alfred Tarski eine formale W.s-Definition vorgelegt, in welcher das Motiv der Übereinstimmung fehlt. Sie gilt für eine jeweils zu definierende Objektsprache und richtet sich nach einer W.s-Konvention. Wahr soll ihr zufolge der Satz einer Objektsprache genannt werden, wenn sein Äquivalent in der Metasprache zutrifft. A. Tarskis mengentheoretische Semantik der Objektsprache definiert Namen für Entitäten und Prädikate für Mengen von Entitäten. Prädikatsausdrücke heißen „erfüllt“, wenn in ihre Leerstelle(n) Namen von Entitäten eingesetzt werden, die zu der jeweils spezifizierten Menge gehören. W. wird anschließend als Charakteristikum aller (aus erfüllten Prädikatsausdrücken gebildeter) Sätze aufgefasst.

A. Tarskis Vorgehen ist, über seine formale Schlüssigkeit hinaus, in allgemeiner Hinsicht lehrreich. Es hebt hervor, dass jeder Versuch, das Verhältnis zwischen Sprachausdrücken und ihrem Gegenstandbezug zu thematisieren, ein zusätzliches Sprachniveau in Anspruch nimmt. Im Alltagsgebrauch wird nicht scharf zwischen Objekt- und Metaebenen unterschieden. Doch auch für ihn ist W. ein Thema zwischen dem Inhalt einzelner Sätze und dessen sprachlicher Beurteilung. Die Bestätigung von Behauptungen erfolgt in zwei Schritten. Im ersten werden Ausdrücken Bedeutungen zugeordnet, im zweiten wird die Zuordnung nach dem Verständnis einer Prüfsprache affirmiert. Ein Satz wird als korrekt befunden, wenn er – genauer seine Übersetzung in die Metasprache – sagt, wie es (in deren Verständnis) ist.

Unter welchen Bedingungen ist eine Darstellung der Umstände korrekt? A. Tarskis Definition verschiebt das Problem bloß in die Prüfsprache. Woher kommt das Rechtsverständnis dieses „Gerichtshofs“ mit rationaler Schiedsrichterfunktion? Martin Heidegger ist der Selbstrechtfertigung der als Antwort angebotenen korrekten Urteilsverfahren mit „seinsgeschichtlicher“ Bildhaftigkeit entgegengetreten. Innerhalb der W.s-Dimension hätte sich Richtigkeit als universaler Standard durchgesetzt. Seit Platons Festlegung auf Formvorgaben für W. sei eine ursprüngliche Offenheit „eingestürzt“ (Heidegger 2013: 138). M. Heidegger unterlegt diesem epochenübergreifenden Platonismus eine vorgeordnete Wirkmacht („Wahrheit als Unverborgenheit“ [Heidegger 1988: 64]), welche in der Lage wäre, die technifizierte Gegenwartskultur ereignishaft auf einen Anspruch des Seins zurück zu lenken. Diese Version der Vernunftkritik hat phänomenologische (Phänomenologie) und „dekonstruktive“ (Dekonstruktion) Versuche motiviert, im Rücken eingefahrener Diskursordnungen einen Spielraum für die ungezwungene Begegnung zwischen Menschen und ihren Lebensumständen wiederzugewinnen.

Eine weniger forcierte Reaktion auf das Dilemma der Begründung der Grundlagen von W. findet sich beim späten Ludwig Wittgenstein. Der Schauplatz, innerhalb dessen sich die Richtigkeit von Erkenntnissen herausstellen kann, ist ein jeweiliges Weltbild. „Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe, […] es ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide“ (Wittgenstein 1984: § 94). Dabei bilden das Verständnis und die W. einer Aussage für Angehörige einer Sprachgemeinschaft zwei Seiten einer Münze. Behauptungen einer Person unterliegen der Prüfung durch Kontrollinstanzen, die ihren Inhalt erfassen und zertifizieren. Ohne eine solche Korrelation fehlt der Prüfung ein akkordierter Gegenstand. Die Bestätigung gilt einem supponierten Geltungsanspruch innerhalb eines Weltbilds.

Donald Herbert Davidson hat W. zum Angelpunkt dieses Vorgangs gemacht. Statt, wie A. Tarski, W. für eine formale Sprache zu definieren, setzt er für prima vista unterschiedliche Sprachen ein Einvernehmen darüber voraus, dass Ausdrücke unter jeweils wechselnden Umweltbedingungen bestätigt oder abgelehnt werden können. Ausgehend von derart gewonnenen Festlegungen ist eine (tentative) Rekonstruktion jener Bedeutungen möglich, die ein Sprecher, gegenüber einem Gesprächspartner, mit seinen Äußerungen verbindet. Sie ergeben sich in eins mit der Eingebundenheit der Proponenten in eine Umwelt. Aus dieser Triangulierung lässt sich kein Bestandteil als unabhängige Größe herausbrechen. Wohl aber ist ein Fixpunkt nötig. „Wenn ich will, dass die Türe sich drehe, müssen die Angeln feststehen“ (Wittgenstein 1984: § 343). W. ist in dieser Betrachtungsweise nicht in der Korrespondenz von Aussagen mit Tatsachen verankert. Sie realisiert sich in der Übereinstimmung urteilender Personen, bezogen auf ihre gemeinsame Welt.