Wahlen

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  1. I. Politikwissenschaftlich
  2. II. Rechtswissenschaftlich

I. Politikwissenschaftlich

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W. gehören zum Grundverständnis liberaler Demokratie. Die politische Führung eines Landes hat aus allgemeinen W. hervorzugehen, nur W. gewähren den Vertretungsorganen demokratische Legitimität: Ohne die periodische Aus- bzw. Abwahl des Regierungspersonals, ohne den offenen Wettbewerb politischer Parteien um die politische Macht, keine Demokratie. In W. vollzieht sich empirisch die Beteiligung der Bürger an der politischen Willensbildung einer Gesellschaft. Sie bilden zwar nicht die einzige demokratische Beteiligungsform, zeichnen sich aber durch „Universalität des Zugangs, […] Gleichheit des Einflusses […] sowie Geheimhaltung und mangelnde Zurechenbarkeit des Aktes der Mitwirkung“ (Rokkan/Svasand 1978: 30) aus. Überdies bilden sie für die Masse der Bevölkerung die einzige Form der Teilnahme am politischen Prozess. Alle anderen Partizipationsformen (Partizipation) – konventionell oder unkonventionell – sind mit deutlich höherem Aufwand verbunden und haben die Tendenz, die politische Ungleichheit unter den Bürgern zugunsten der politisch Aktiven zu verstärken. Auch bilden W. das bisher einzig erfolgreiche Verfahren, in den sogenannten Massendemokratien vielfältige Einzelinteressen und Meinungen so zu aggregieren, dass politische Eliten (Regierungen) die Allgemeinheit bindende politische Entscheidungen fällen können.

1. Begriff und Funktion

Ihrer technischen Funktion nach sind W. ein Mittel zur Bildung von Körperschaften oder zur Bestellung einer Person in ein Amt. Diese funktionale Bestimmung unterscheidet W. allerdings nicht von anderen Bestellungstechniken, die – anders als die gewaltsamen Methoden der Machterlangung wie Kampf, Putsch oder Krieg – ebenfalls auf Vereinbarung beruhen können: Geburtsrecht, Amtsstellung (ex officio), Losentscheid, Ernennung, Akklamation. Verfahrenstechnisch werden bei W. von der Wählerschaft unter den Vorgaben eines jeweiligen Wahlsystems Stimmen für Wahlbewerber (Individuen oder Parteien) abgegeben, die nach ihrer Auszählung darüber entscheiden, welcher Bewerber das zur W. stehende Amt besetzen oder eines der Parlamentsmandate erringen kann. Inhaltlich bedingen W., dass die Wahlberechtigten frei zwischen mehreren – mindestens zwei – Angeboten auswählen können. Für kompetitive W. sind Auswahl und Wahlfreiheit unabdingbar. Sind sie nicht gegeben, handelt es sich um nicht-kompetitive bzw. unfreie W., die nur verfahrenstechnisch kompetitiven gleichen. In autoritär regierten Ländern widerspricht i. d. R. der politische Kontext von Unterdrückung der Opposition, Gewalt und Korruption der Möglichkeit, freie und faire W. abzuhalten. In kompetitiven W. verschmelzen hingegen verfahrenstechnischer und inhaltlicher Wahlbegriff zu einer Einheit. Erweitert um spezifische demokratietheoretische und rechtsstaatliche Elemente, lässt sich daraus ein Kanon formalisierter Prinzipien ableiten, der für W. in modernen Verfassungsstaaten nicht nur konstitutiv ist, sondern auch die wesentliche Voraussetzung für die Anerkennung der durch W. herbeigeführten Sach- und Personalentscheide von Seiten der an diese gebundenen Bürger darstellt. Dazu gehören:

a) der Wahlvorschlag, der von der W. selbst nicht zu trennen ist und somit ihr gleichen Maßstäben unterliegt (Freiheit der Wahlbewerbung), der freilich nicht die positive Auswahlentscheidung der Wählerschaft ersetzen kann;

b) die Kandidatenkonkurrenz, hinter der sich vornehmlich eine Konkurrenz alternativer politischer Auffassungen und Programme verbergen sollte;

c) die Chancengleichheit, die aus dem Rechtssatz der Gleichheit fließt und v. a. im Bereich der Wahlbewerbung (Parteienfinanzierung, Zugang zu Medien) gesichert sein muss, die aber auch für das Wahlrecht (Gewicht jeder Stimme auf die Wahlentscheidung) als Kriterium gilt;

d) die Wahlfreiheit, die mit dem Postulat der geheimen W. verknüpft ist und durch geheime Stimmabgabe gewährleistet wird;

e) der Wahlprozess als administrativer und rechtlich überprüfbarer Vorgang, der dem Kriterium der Wahlintegrität unterliegt;

f) die Transparenz des Wahlverfahrens in dem Sinne, dass einsichtig ist, wie (bei Parlaments-W.) der Wählerwille mittels Stimmgebungsverfahren ausgedrückt werden kann, und was mit den abgegebenen Stimmen im angewandten Stimmenverrechnungsverfahren geschieht, ohne dass dem Wählerwillen offensichtlich widersprochen wird (z. B. „negatives Stimmgewicht“);

g) die Entscheidung auf Zeit, versinnbildlicht in verfassungsrechtlich determinierten Wahlperioden, was beinhaltet, dass die Auswahl und die Wahlfreiheit der Wahlberechtigten bei künftigen W. nicht durch früher getroffene Wahlentscheidungen eingeschränkt sind.

Kompetitive W. können eine Vielzahl von Funktionen erfüllen, etwa die fortwährende Legitimierung des politischen Systems, die Repräsentation von Meinungen und Interessen, die Mobilisierung der Bevölkerung für gesellschaftliche Werte und politische Programme, die Integration des gesellschaftlichen Pluralismus und Bildung eines politisch aktionsfähigen Gemeinwillens, die Übertragung von Vertrauen an Institutionen, die Rekrutierung politischen Führungspersonals etc. Vornehmlich drei Bedingungen weichen in den westlichen Demokratien voneinander ab und rufen Unterschiede in den manifesten Wahlfunktionen hervor:

a) Struktur der Gesellschaft (ist eine Gesellschaft sozial, ethnisch, religiös eher homogen oder heterogen?);

b) Struktur des politisch-institutionellen Systems (handelt es sich um eine parlamentarische oder präsidiale Demokratie?);

c) Struktur des Parteiensystem (ist es konzentriert auf wenige Parteien oder zersplittert?).

Die Funktionen von W. erfassen ein breites Spektrum äußerst systemrelevanter Zusammenhänge in einer repräsentativen Demokratie, die weit über das unmittelbare Ergebnis einer W. hinausreichen, das jedoch häufig im Mittelpunkt der Kommentierung in der breiten Öffentlichkeit steht.

2. Wahlsysteme

Wahlsysteme stellen Verfahren dar, mittels derer (1.) die Wähler ihre Partei- und/oder Kandidatenpräferenz in Wählerstimmen ausdrücken, und durch die (2.) Stimmenzahlen in Mandate übertragen werden.

In der öffentlichen Debatte in Deutschland wird dieser Gegenstand häufig als „Wahlrecht“ bezeichnet. Die technischen Regelungen, die ein Wahlsystem treffen, umfassen den gesamten Wahlprozess von der wahlgesetzlich geregelten Wahlbewerbung bis zur Ermittlung des Mandatsergebnisses. Dabei lassen sich vier Bereiche unterscheiden:

a) die (mögliche) Untergliederung des Wahlgebietes in Wahlkreise (Einer-, kleine, mittelgroße und große Wahlkreise). Sie ist die für die Auswirkungen eines Wahlsystems wichtigste Variable;

b) die Kandidatur (Einzelkandidatur oder verschiedene Listenformen: starre, lose gebundene, freie Liste; Möglichkeit wahlkreisgebundener oder wahlkreisfreier Listenverbindung etc.);

c) das Stimmgebungsverfahren, d. h., ob und wie der Wähler eine oder mehrere Stimmen vergeben kann (Einzel-, Mehr-, und Präferenz- oder Alternativstimmgebung, Kumulieren, Panaschieren);

d) das Stimmenverrechnungsverfahren, dessen Regelung bereits teilweise durch die Ausgestaltung zu a-c) bestimmt wird, aber dennoch die für die Auswirkung eines Wahlsystems nach der Wahlkreiseinteilung wichtigsten Variablen enthält. Dazu zählen

– der Entscheidungsmaßstab „Mehrheit“ oder „Verhältnis“;

– die Verrechnungsebene (Wahlkreis, Wahlkreisverband, Region/Land, Staat/Bund);

– Divisoren (etwa d’Hondtsches Verfahren) oder Wahlzahlverfahren (etwa Hagenbach-Bischoff) bzw. jeweilige Varianten;

– (mögliche) Überschuss- oder Reststimmenverwertung;

– (mögliche) Sperrklauseln.

Die mannigfach variierbaren und kombinierbaren technischen Regelungen von Wahlsystemen wirken sich auf die Wahlergebnisse in zweifacher Weise aus. Zum einen beeinflussen sie die Wahlentscheidung des Wählers, indem sie ihn bei der Stimmabgabe vor eine spezifische Entscheidungssituation stellen. Ihr entspr. trifft der Wähler seine W.; dabei prägen die Regelungen des Wahlsystems durch Strukturierung der Partei- und/oder Kandidatenpräferenz des Wählers dessen inhaltliche Entscheidung mit. Zum anderen rufen unterschiedliche technische Regelungen bei der Übertragung von Stimmenzahlen in Mandate voneinander abweichende Wahlergebnisse hervor, konkret unterschiedliche parlamentarische Stärkeverhältnisse der Parteien. Die Auswirkungen von Wahlsystemen auf die Stimmen-Mandate-Relationen beeinflussen ihrerseits die Parteipräferenzen und das Stimmverhalten der Wahlbürger.

Die konkreten Wahlsysteme in den liberal-demokratischen politischen Systemen sind i. d. R. das Ergebnis von Kompromissen zwischen den wichtigsten gesellschaftlichen und politischen Gruppierungen. Dies erklärt auch ihre enorme Vielfalt, die gewöhnlich auf den Gegensatz von Mehrheits-W. und Verhältnis-W. als den beiden Grundtypen von Wahlsystemen reduziert wird. In diesem Sinne sind Mehrheits- und Verhältnis-W. antithetische Repräsentationsprinzipien. Die Mehrheits-W. zielt auf die parlamentarische Mehrheitsbildung (durch eine Partei oder Parteienkoalition) und nimmt dafür die Disproportion von Stimmen und Mandaten in Kauf. Die Verhältnis-W. hingegen zielt auf eine parlamentarische Vertretung der Parteien möglichst entspr. ihrem Anteil an den Wählerstimmen.

Bewertungen der beiden Wahlsystemgrundtypen machen sich i. d. R. an ihren Auswirkungen auf Parteien, Parteiensysteme und die Politik allg. (politische Stabilität, Regierbarkeit etc.) fest. Wie die über 100-jährige nationale und internationale Wahlsystemdebatte belegt, fallen sie je nach demokratietheoretischem und (partei-)politischem Standort der Betrachter unterschiedlich aus. Als allgemeine Kriterien können gelten: der Grad der Übereinstimmung von Stimmen- und Mandatsanteil der Parteien, der Effekt auf Parteienkonzentration und Regierbarkeit, die Auswahlchancen zwischen Kandidaten (und nicht nur Parteilisten), die Einfachheit oder Transparenz des Verfahrens, sowie schließlich die allgemeine Anerkennung (Legitimität) des Verfahrens von Seiten der konkurrierenden Parteien und der Wählerschaft. Da diese Kriterien wechselseitig nicht widerspruchsfrei sind, kommt es auf praxistaugliche Ausprägungen und Kombinationen der Varianten von Wahlsystemelementen an. Jedenfalls gibt es kein „bestes Wahlsystem“. Entscheidend ist, in welchem historischen und politischen Kontext Wahlsysteme sich daraus ergebenden funktionalen Anforderungen genügen können. Wie sich Wahlsysteme konkret auswirken, kann folglich nur die empirische Einzelfallanalyse ermitteln.

2.1 Auswirkungen von Wahlsystemen

Die meisten Thesen in der traditionellen Debatte über die Vorzüge und Nachteile von Mehrheits- und Verhältnis-W. sind i. d. R. in zweifacher Hinsicht brüchig. Zum einen überbetonen sie den Faktor Wahlsystem oder blenden andere Faktoren gänzlich aus, die ebenfalls auf die Entwicklung von Parteien und Parteiensystemen einwirken (etwa: wirtschaftlicher und sozialer Wandel, institutionelle Bedingungen des Regierungssystems, personelle Konstellationen, politische Entscheidungslagen etc.). Zum anderen berücksichtigen sie nicht, nach welchem (Sub-)Typ von Wahlsystem gewählt wird. In der Tat gibt es sehr verschiedene, in ihren Auswirkungen stark voneinander abweichende Wahlsysteme innerhalb der beiden Grundtypen, bei der Verhältnis-W. etwa die „reine Verhältnis-W.“ (mit ziemlich exaktem proportionalem Verhältnis von Stimmen und Mandaten) und die „Verhältnis-W. in Wahlkreisen“, jeweils mit oder ohne Sperrklausel mit demgemäß eingeschränktem Proporz.

Ganz allgemein kann der Mehrheits-W. mehr konzentrierende, die Zahl der Parteien verringernde Wirkung zugeschrieben werden als der Verhältnis-W. Das Ausmaß ist jedoch sehr vom Typ der Mehrheits-W. (relative oder absolute Mehrheits-W.) abhängig. Auch in Verhältniswahlsystemen wird i. d. R. die größte Partei begünstigt, obwohl das Repräsentationsprinzip darauf eigentlich nicht abzielt. Kleine Parteien haben in den meisten Mehrheitswahlsystemen nur Mandatschancen, wenn ihre Wählerschaft regional konzentriert ist oder wenn Wahlbündnisse mit großen Parteien bestehen. Doch auch in der Mehrzahl von Verhältniswahlsystemen sind die kleinen Parteien benachteiligt. Das liegt entweder an Sperrklauseln oder an der Einteilung des Wahlgebiets in Wahlkreise, innerhalb derer die Mandate vergeben werden. Kleine und mittelgroße Wahlkreise bilden dann ein systemimmanentes Hindernis für eine proportionale Repräsentation, wenn kein Proporzausgleich auf nationaler Ebene besteht. Eindeutigeren Aussagen steht auch die hohe Bedeutung der jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse für die Auswirkungen von Wahlsystemen im Wege. Die soziale, ethnische und religiöse Homogenität bzw. Heterogenität einer Gesellschaft ist höchst relevant für die politischen Konfliktlinien und die Struktur der Parteiensysteme. Von dieser Strukturfrage hängt zudem offensichtlich die W. des Wahlsystems ab. Je mehr verfestigte gesellschaftliche Zersplitterung, desto wahrscheinlicher ist die Einführung eines Verhältniswahlsystems, und desto wahrscheinlicher ist auch die Herausbildung eines Vielparteiensystems. Wenn allerdings gesellschaftliche Fragmentierung vorherrscht, dann führt auch die relative Mehrheits-W. in Einerwahlkreisen nicht zu einem Zweiparteiensystem. Je mehr gesellschaftliche Homogenität herrscht, desto eher wird für die relative Mehrheits-W. optiert, desto eher kommt aber auch bei Verhältniswahlsystemen (gleich welchen Typs) ein Zweiparteiensystem oder ein zahlenmäßig begrenzter Parteienpluralismus zustande. Der Kontext macht also den Unterschied.

2.2 Wahlsystemkontroversen

Während in den ersten Jahrzehnten der BRD die personalisierte Verhältnis-W. als solche noch in der Kritik stand, die v. a. von Anhängern der relativen Mehrheits-W. in Einerwahlkreisen vorgebracht wurde, waren es nach dem deutschen „Wahlwunder“ – einer Parteienkonzentration trotz Verhältnis-W. – eher technische Elemente des Wahlsystemtyps und deren am Maßstab des GG gemessene Auswirkungen, welche die Diskussion um das „deutsche Wahlsystem“ beflügelten. Insgesamt hat die BRD mit der personalisierten Verhältnis-W. gute Erfahrungen gemacht. Deshalb wundert es nicht, dass das german system bei Reformprozessen international als Modellwahlsystem gehandelt wird. Gleichwohl besteht seit Einführung der personalisierten Verhältnis-W. ein immer wieder aufflammender, häufig vor dem BVerfG ausgetragener und stark parteipolitisch geprägter Konflikt darüber, mit welchen rechtfertigenden Gründen und in welchem Umfang eine Abweichung vom Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit als verfassungskonform betrachtet werden kann.

Ungeachtet der Einschränkungen des Proporzprinzips durch Sperrklausel und Überhangmandate verwirklicht die personalisierte Verhältnis-W. im Wesentlichen die Zielvorstellungen der Verhältnis-W. Die Differenz zwischen Stimmen und Mandatsanteil der Parteien ist vergleichsweise gering. Alle Parteien, die mehr als 5 % der Zweitstimmen auf Bundesebene erreichen, ziehen prozentual zu ihrem Stimmenanteil Nutzen aus der Sperrklausel, und zwar je mehr, desto größer die Summe der Stimmenanteile jener Parteien ist, welche die Sperrklausel nicht überspringen. Disproportionen aufgrund von Überhangmandaten kamen nur den großen Parteien zugute.

Doch deren Zahl hielt sich in Grenzen. Unter den Bedingungen eines „Zweieinhalbparteiensystems“ (CDU/CSU, SPD, FDP) kamen sie nicht einmal vor. Das änderte sich mit dem Aufkommen der Grünen und der Dekonzentration im Parteiensystem, wie sie sich nach der deutschen Wiedervereinigung fortsetzte. Als deren Folge nahm die Zahl der Überhangmandate, hauptsächlich zugunsten von CDU/CSU (1994: 12 von 16), enorm zu, so dass von den proportional benachteiligten Parteien das BVerfG angerufen wurde. Das Gericht beließ es im Urteil vom 10.4.1997 bei der bisherigen Regelung, dass Überhangmandate nicht auszugleichen seien, wenn sich ihre Zahl in Grenzen hielte. Zehn Jahre später sah es sich erneut mit dieser Frage konfrontiert, als sich in einem konkreten Fall die Hinweise aus der Wahlsystemforschung bestätigten, wonach im Zuge der Verrechnung von Überhangmandaten eine Stimme für eine Partei eine Wirkung gegen sie entfalten kann. Dieses „negative Stimmgewicht“ erklärte das BVerfG im Urteil vom 3.7.2008 für verfassungswidrig und trug dem Gesetzgeber auf, das Wahlsystem zu reformieren. Dem kam der Bundestag erst am 25.11.2011 mit einer Reform nach, die allein von der CDU/CSU und der FDP getragen war und u. a. deshalb vom Gericht am 25.7.2012 zurückgewiesen wurde. In diesem Urteil begrenzte das Gericht die zulässige Zahl von Überhangmandaten auf 15 (2009 waren alle 24 Überhangmandate auf die CDU/CSU entfallen). Mit der Gesetzesnovelle vom 9.5.2013 beschloss der Bundestag im gerichtlich geforderten breiten Konsens das gegenwärtig gültige Wahlsystem. Indem die Überhangmandate nun vollständig ausgeglichen werden, geht diese Reform weit über die Auflagen des Gerichts hinaus.

Der Gesetzgeber machte sich v. a. einen durchaus umstrittenen Standpunkt zu eigen, den das BVerfG vom Verfassungsgrundsatz der Gleichheit ableitet: dass bei Verhältnis-W. nicht nur die Zählwertgleichheit, sondern auch die Erfolgswertgleichheit der Stimmen garantiert zu sein habe. Wahlsysteme unterscheiden sich aber gerade darin, dass sie im Erfolgswert der Stimmen variieren. Diese natürliche Variation gibt es auch bei der Verhältnis-W. Sie wird in der Wahlsystemlehre weniger als mathematische Größe begriffen (wozu Mathematiker als Wahlsystemdesigner neigen) und folglich nicht allein an der Exaktheit in der proportionalen Zuweisung der Mandate an die Parteien festgemacht, sondern als eine Richtung im Gestaltungsprozess politischer Repräsentation. Das zeigt gerade der internationale Vergleich angewandter Verhältniswahlsysteme mit ihren gänzlich unterschiedlichen Erfolgswerten. Erfolgswertgleichheit lässt sich auch rein rechtlich nicht erzwingen, wie der Österreichische Verfassungsgerichtshof treffend – und konträr zum BVerfG – argumentierte. Es intervenieren viele verschiedene wahlsoziologische Faktoren: Ein Mehr an Proportionalität in der Ausgestaltung von Wahlsystemen kann so in der Praxis sogar ein Weniger an Erfolgswertgleichheit hervorrufen, wenn die Wähler zu dem Fehlkalkül verleitet werden, dass bei mehr Proporz auch Kleinstparteien Parlamentsmandate erringen könnten. Das aber ist empirisch keinesfalls gewährleistet, weshalb die Zahl der Stimmen ohne mandatsgenerierenden Erfolg zunehmen kann.

Kaum war die umstrittene Wahlreform in Kraft, forderte sie massive Kritik heraus. Zum auffälligsten Kritikpunkt wurde das schrankenlos scheinende Anwachsen der Mitgliederzahl des Bundestages, d. h. die Abhängigkeit der Parlamentsgröße vom jeweiligen Wahlergebnis. Waren bei der Bundestags-W. 2013 die schlimmsten Befürchtungen noch ausgeblieben, als „nur“ 33 Mandate zur rechtlichen Normalgröße von 598 Sitzen hinzukamen, so waren es 2017 111 Mandate, die den Bundestag auf 709 Mitglieder anwachsen ließen. Kam es 2013 noch zu vier Überhangmandaten (alle für die CDU), so waren es 2017 deren 46 (43 für die Unionsparteien, drei

Wahlberechtigte Wahlbeteiligung
Jahr absolut in Tausend in % der Bevölerung absolut in Tausend in % der Bevölkerung
1871 7 656,2 19,4 4 148,0 52,0
1890 10 145,9 21,7 7 702,3 71,5
1912 14 441,9 22,2 12 260,6 84,2
1919 37 362,1 63,1 30 524,8 83,0
1930 42 957,7 68,9 35 225,8 82,0
1949 31 207,6 66,3 24 495,6 78,5
1969 38 677,3 65,9 33 523,1 86,7
1987 45 328,0 74,0 38 225,3 83,5
1990 60 346,6 75,7 46 995,9 77,8
1994 60 396,3 74,3 47 743,6 79,1
1998 60 762,7 74,1 49 947,0 82,2
2002 61 432,9 74,4 48 582,8 79,1
2005 61 870,7 75,0 48 044,1 77,7
2009 62 168,5 75,9 44 005,6 70,8
2013 61 946,9 75,5 44 309,9 71,5
2017 61 688,5 74,9 46 976,3 76,2

Tab. 1: Die Ausweitung des Wahlrechts in Deutschland 1871–2017 in ausgesuchten Wahlen. Quellen: B. Vogel/D. Nohlen/R.-O. Schultze: Wahlen in Deutschland, 1971; R. Lindner/R.-O. Schultze: Germany, in: D. Nohlen/P. Stöver (Hg.): Elections in Europe, 2010; Statistisches Bundesamt.

für die SPD). Dienten 2013 die zusätzlichen Mandate weniger zum Ausgleich der Überhangmandate als vielmehr zum Ausgleich neuer Disproportionen, etwa den unterschiedlichen Bezugsgrößen in der Vergabe der Mandate in den Bundesländern (Bevölkerungszahl) und auf Bundesebene (abgegebene Stimmen), so verkehrte sich 2017 der jeweilige Anteil der Mandate: 46 zum Ausgleich der Überhangmandate, 19 zum nationalen Proporz. Die insgesamt 65 Ausgleichsmandate verteilten sich auf SPD 19, FDP 15, AfD elf sowie Linke und Grüne je zehn. Empirisch bestätigte sich so, dass der Gesetzgeber unter den Auflagen des BVerfG – nämlich Zählwertgleichheit und breite Zustimmung – eine „Fehlkonstruktion im deutschen Wahlrecht“ (Bull 2014) zustande gebracht hatte: ein kompliziertes, an Inkonsistenzen reiches, in seinen bedenklichen Auswirkungen auf die politische Repräsentation kaum mehr eingrenzbares Wahlsystem. Die notorische „Lethargie“ der politischen Parteien in Wahlsystemfragen berechtigt jedoch zu wenig Hoffnung auf eine baldige nachhaltige Reform.

Im Zusammenhang der 2013er Wahlreform hat sich die starke Rolle des BVerfG in der Wahlgesetzgebung bestätigt. Indem es zwischenzeitlich alternative Wahlsysteme ins Spiel brachte, etwa das Grabensystem (die Trennung von Erst- und Zweitstimmenergebnis und bloße Addition der jeweils erzielten Mandate), hat das Gericht freilich erneut kundgetan, dass das GG kein Wahlsystem vorschreibt und der Gesetzgeber grundsätzlich über Entscheidungsfreiheit in Wahlsystemfragen verfügt.

II. Rechtswissenschaftlich

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1. Begriff und Funktionen

Als Ausdruck des demokratischen Gedankens der Volkssouveränität bestimmt Art. 20 Abs. 2 GG, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht und von diesem in W. und Abstimmungen und durch bes. Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt wird. Wesentliches Strukturprinzip der Demokratie ist die Vermeidung von Fremd- und die Sicherstellung von Selbstbestimmung. Durch W. wird die verfassungsstaatlich gebundene Herrschaftsausübung überhaupt erst legitimiert (Legitimationsfunktion). Jede Ausübung der staatlichen Gewalt muss ihre Grundlage in einer Entscheidung des Volkes finden. Diese Legitimationsfunktion bezieht sich nicht allein auf das Parlament, sondern auf der Grundlage der sogenannten Legitimationskettentheorie auch auf die anderen beiden Staatsgewalten.

Mittels W. wird zudem ein Vertretungsorgan für das in seiner Gesamtheit handlungsunfähige Volk geschaffen (Kreationsfunktion). Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG formuliert deshalb als Anforderung an den Gewählten, Vertreter des ganzen Volkes, nicht bloß seiner Wähler zu sein (Repräsentationsfunktion).

W. sichern in der betont indirekt gestalteten Demokratiekonzeption des GG die politische Teilhabe (Partizipation) der Bürger und erfüllen damit eine essentielle Kommunikationsfunktion, ohne die parlamentarische Demokratie nicht gelingen kann. W. dienen insoweit auch der Repräsentation von Meinungen und Interessen der Bevölkerung sowie der Integration des gesellschaftlichen Pluralismus (Kommunikations- und Teilhabefunktion). Dem Akt des Wählens liegt dabei als unausgesprochene, aber essentielle Voraussetzung zugrunde, dass der Wähler zu verantwortlichem und selbstbestimmtem Handeln in der Lage ist.

2. Rechtsgrundlagen

Rechtsgrundlagen der Bundestags-W. finden sich in der Verfassung und namentlich im BWahlG und der BWO. Das GG verwendet den Begriff der W. teils ausdrücklich, teils wird er in verschiedenen Vorschriften vorausgesetzt. Demokratie bedeutet Herrschaft auf Zeit und damit die periodische Wiederkehr von W. Dem trägt die Verfassung dadurch Rechnung, dass Art. 38 Abs. 2 GG das aktive und passive Wahlrecht des Bürgers als subjektiv-öffentliches Recht des Bürgers verfassungsrechtlich verankert und Art. 39 Abs. 1 S. 1 GG die Legislaturperiode des Parlaments auf vier Jahre begrenzt. Art. 41 GG stellt einen verfassungsgerichtlichen Rechtsbehelf zur Kontrolle der Gültigkeit von W. zur Verfügung. In Art. 21 Abs. 1 GG wird der Begriff der W. zwar nicht direkt verwendet, aber vorausgesetzt, weil auf diese Weise die politischen Parteien an der Willensbildung des Volkes mitwirken. Zentrale Bedeutung für die weitere Konturierung des verfassungsrechtlichen Begriffs der W. kommt den in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG verankerten fünf Wahlrechtsgrundsätzen zu.

2.1 Die Wahlrechtsgrundsätze

Das Erfordernis der Allgemeinheit der W. stellt sicher, dass grundsätzlich alle deutschen Staatsbürger aktiv und passiv wahlberechtigt sind. Verhindert werden soll der unberechtigte Ausschluss von Bürgern von der Teilnahme. Die Allgemeinheit sichert – wie die Gleichheit der W. – die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Staatsbürger. Die Teilnahme an der W. darf deshalb nicht etwa von Vermögen, Einkommen, Steuerentrichtung, Bildung oder Lebensstellung abhängig gemacht werden.

Der Grundsatz der Wahlgleichheit stellt Grundanforderungen an alle Wahlsysteme und verlangt wegen des untrennbaren Zusammenhanges mit dem Demokratieprinzip eine strikte Gleichbehandlung der Wähler auf sämtlichen Stufen des jeweils für die W. vorausgesetzten Verfahrens. Jeder Wähler muss die gleiche Anzahl von Stimmen haben, die abgegebenen gültigen Stimmen müssen gleich gezählt werden (Zählwertgleichheit), und jeder Stimme ist grundsätzlich die gleiche rechtliche Erfolgschance einzuräumen. Differenzierungen sind verfassungsrechtlich allerdings nicht ausgeschlossen, bedürfen zu ihrer Rechtfertigung aber stets eines besonderen, sachlich legitimierten („zwingenden“) Grundes. Diese Gründe müssen durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sein, das der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten kann (etwa die Sicherung der mit einer W. verfolgten Ziele oder der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung).

Die Wahlfreiheit gewährleistet, dass der Wähler in einem freien, offenen Prozess der Willensbildung zu seiner Entscheidung finden kann. Der Wähler muss sein Wahlrecht ohne Zwang oder sonstige unzulässige Beeinflussung von außen ausüben können, der Akt der Stimmabgabe frei von Zwang und unzulässigem Druck bleiben. Inhaltlich umfasst die Freiheit der W. die freie Entschließung über das „Ob“ und das „Wie“ der W. sowie die Möglichkeit hinreichender Auswahl zwischen verschiedenen Kandidaten bzw. Listen.

Unmittelbarkeit der W. bedeutet, dass sich die Stimmabgabe der Wahlberechtigten auf die zu entsendenden Vertreter selbst bezieht, eine Zwischenschaltung von Wahlmännern, die dann erst die endgültige Wahlhandlung vornehmen, wäre verfassungswidrig. Es sind die Wähler, die das letzte, entscheidende Wort haben. Auch fordert der Unmittelbarkeitsgrundsatz ein Wahlverfahren, bei dem der Wähler vor dem Wahlakt erkennen kann, wer sich um ein Mandat bewirbt und wie sich die eigene Stimmabgabe auf Erfolg oder Misserfolg der Bewerber auswirken kann.

Mit der Geheimheit der W. wird verbürgt, dass die Stimmabgabe unter ausschließlicher Kenntnisnahmemöglichkeit des Wählers vom Inhalt seiner Wahlentscheidung erfolgt. Es dürfen weder der Staat noch Private von einem anderen ohne dessen Willen wissen, wie er gewählt hat, wählt oder wählen wird.

Art. 38 Abs. 3 GG überantwortet dem Gesetzgeber, der dabei an die Beachtung der Wahlrechtsgrundsätze gebunden ist, die Entscheidung für ein bestimmtes Wahlsystem.

2.2 Das Wahlsysten des BWahlG

Diesem Verfassungsauftrag ist der Gesetzgeber mit dem BWahlG nachgekommen, das als ein Stück „materielles Verfassungsrecht“ bezeichnet wird. Das in §§ 1–6 BWahlG enthaltende Wahlsystem lässt sich wie folgt skizzieren. Grundsätzlich besteht der Bundestag nach § 1 Abs. 1 S. 1 BWahlG aus 598 Abgeordneten. Ihre W. erfolgt aufgrund von § 1 Abs. 1 S. 2 BWahlG nach den Grundsätzen einer mit der Personen-W. verbundenen Verhältnis-W. Umgesetzt wird die damit gewollte Systemverbindung durch ein Zweistimmensystem, nach dem jeder Wähler zwei Stimmen hat (§ 4 BWahlG). Eine sogenannte Erststimme für die W. eines Wahlkreisabgeordneten und eine sogenannte Zweitstimme für die W. der Landesliste. Damit werden nach dem gesetzlichen Modell 299 der 598 Abgeordneten mit der Erststimme nach Kreiswahlvorschlägen in den Wahlkreisen gewählt (sogenannte Wahlkreis- oder Direktmandate), weitere 299 Abgeordnete werden mit der Zweitstimme nach Landeswahlvorschlägen (Landeslisten) gewählt, sogenannte Listenmandate. Wahlkreisbewerber können von politischen Parteien und nach Maßgabe des § 20 BWahlG auch von Wahlberechtigten aufgestellt werden, hinsichtlich der Landeslisten besteht nach § 27 Abs. 1 S. 1 BWahlG ein Monopol der politischen Parteien. Die W. der Wahlkreisabgeordneten (Erststimme) erfolgt nach den Grundsätzen der (relativen) Mehrheits-W., § 5 Abs. 1 S. 2 BWahlG. Die W. der (starren) Landeslisten der Partei (Zweitstimme) erfolgt demgegenüber nach den Grundsätzen der Verhältnis-W. Damit hat der Gesetzgeber ein Wahlsystem etabliert, das aus historischen Gründen die Vorteile der Verhältnis-W. mit denjenigen der Mehrheits-W. kombiniert. Der hohe Preis dafür besteht in einem extrem komplizierten, dem Bürger häufig wenig transparenten Sitzzuteilungsverfahren, das in § 6 BWahlG geregelt ist.

Die Zusammensetzung des Bundestags bestimmt sich nach dem jeweils für die einzelnen Parteien prozentual abgegebenen Stimmen. Nach § 6 Abs. 3 BWahlG werden bei der Verteilung der Sitze nur Parteien berücksichtigt, die mindestens fünf Prozent der im (Bundes-)Wahlgebiet abgegebenen Zweitstimmen erhalten (sogenannte Sperrklausel) oder in mindestens drei Wahlkreisen einen Sitz errungen haben (sogenannte Grundmandateklausel).

Die Verrechnung der Stimmen in Parlamentssitze erfolgt dabei vereinfacht betrachtet in zwei Verteilungsstufen mit jeweils zwei Rechenschritten.

Im ersten Schritt der ersten Verteilungsstufe ist zunächst zu klären, wie viele Sitze dem jeweiligen Bundesland zustehen. Es geht also noch nicht um die endgültige Sitzzuteilung, sondern um die Ermittlung des Sitzkontingentes, das einer Partei mindestens zuzuordnen ist. Ausschlaggebend ist hierfür die deutsche Bevölkerung des Landes. Als Vorgabe ist dabei zu beachten, dass in jedem Land pro Sitz in etwa die gleiche Anzahl Personen benötigt werden soll. In Summe müssen genau 598 Sitze verteilt werden, § 1 Abs. 1 BWahlG. Die mathematische Umsetzung erfolgt über die sogenannte Divisormethode mit Standardrundung. Im zweiten Schritt (der ersten Verteilungsstufe) müssen die einem Land zustehenden Sitze auf die Parteien verteilt werden. Ausschlaggebend hierfür sind die gültigen Zweitstimmen der Landeslisten. In Summe müssen genau so viele Sitze verteilt werden, wie dem Land zustehen.

Nun kommen aber noch die Erststimmen und die in den Wahlkreisen direkt Gewählten ins Spiel. § 6 Abs. 4 S. 1 BWahlG ordnet zunächst an, dass von der für jede Landesliste ermittelten Sitzzahl die Zahl der von der Partei in den Wahlkreisen des Landes errungenen Sitze abgerechnet werden. § 6 Abs. 4 S. 2 BWahlG bestimmt sodann, dass die in den Wahlkreisen errungenen Sitze einer Partei auch dann verbleiben, wenn sie die nach den Absätzen 2 und 3 ermittelte Zahl übersteigen. Für diese Mandate hat sich der Begriff „Überhangmandate“ eingebürgert. Das BVerfG hat die Anzahl (ausgleichsloser) Überhangmandate auf 15 begrenzt. Die den Überhangmandaten attestierten Gleichheitsverzerrungen werden im weiteren Verlauf des Sitzzuteilungsverfahrens durch die Gewährung sogenannter Ausgleichsmandate und einer Erhöhung der Gesamtzsitzzahl sowie anschließender bundesweiter Oberverteilung mediatisiert. Aufgrund des gleichheitsrechtlichen Erfordernisses, dass für jeden Sitz eine möglichst gleiche Stimmenzahl erforderlich sein soll, können Ausgleichsmandate aber auch aufgrund anderer Effekte als dem Anfall von Überhangmandaten entstehen.

In der Oberverteilung der zweiten Stufe, die nicht nur im Falle von Überhangmandaten durchzuführen ist, werden die Sitze auf Bundesebene auf die Parteien nach dem Anteil ihrer jeweiligen Zweitstimmen verteilt. Hierbei gilt die Bedingung, dass jede Partei mindestens die ermittelte garantierte Mindestsitzzahl auf Bundesebene erhält, so dass ggf. eine Erhöhung der Gesamtsitzzahl notwendig ist. Es besteht das schon genannte Ziel, dass jede Partei im Wesentlichen die in etwa gleiche Stimmenanzahl für ein Mandat benötigt. Dabei gibt die stärkste Partei den Maßstab vor.

Nun erfolgt die zweite Unterverteilung auf die jeweiligen Landeslisten der Parteien. Die zuvor ermittelte Gesamtsitzzahl einer Partei wird den jeweiligen Landeslisten nach dem Anteil der Zweitstimmen im Land zugewiesen. Die Sitze einer Landesliste ergeben sich durch Teilung der Zweitstimmen dieser Landesliste durch einen Divisor. Dabei besteht die zusätzliche Bedingung, dass jede Landesliste mindestens die Zahl der in den Wahlkreisen des Landes von der Partei errungenen Sitze erhält. Die Gesamtzahl der auf die Partei entfallenden Sitze wird nicht (mehr) verändert.

3. Rechtsschutz

W. sind als Massenveranstaltungen in hohem Maße störanfällig. Dem trägt § 49 BWahlG Rechnung, in dem es neben den dort genannten Rechtsbehelfen (weiteren) fachgerichtlichen Rechtsschutz auschließt. Die Verfassungsmäßigkeit dieses Ausschlusses wird nicht einheitlich beurteilt, bei sachgerechter Ausgestaltung des in Art. 41 GG enthaltenen, allerdings nachträglich einsetzenden Rechtsschutzes, die die Wahlprüfung nicht als bloße Wahlgültigkeitsprüfung qualifiziert, sondern ihr auch den Schutz des subjektiven Wahlrechts überantwortet, treten diese Bedenken auch mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG zurück. Inwieweit die Wahlprüfung auch gegenüber den anderen verfassungsgerichtlichen Rechtsbehelfen das speziellere Verfahren darstellt, ist nicht endgültig geklärt.

4. Verbleibende Reformprojekte

4.1 Bundestagsgröße

Bei der Bundestags-W. 2017 sind auf Basis des oben skizzierten Sitzzuteilungsverfahrens 709 Abgeordnete in den Bundestag eingezogen (598 Mandate § 1 Abs. 1 S. 1 BWahlG sowie 46 „Überhang“- und 69 „Ausgleichsmandate“). Das wird bisweilen als „Aufblähung“ kritisiert. Allerdings wurde bisher noch kein der gleichheitsrechtlichen Dogmatik des BVerfG entsprechendes, aber gleichzeitig der bewährten Verbindung von Verhältnis- und Personen-W. gerecht werdendes wahlrechtliches Modell vorgelegt. Im Übrigen ist der Bundestag – setzt man die Anzahl der Abgeordneten in Relation zur Bevölkerungszahl – innerhalb der EU das zweitkleinste Parlament.

4.2 Vereinfachung des Wahlrechts

Die Forderung nach einem einfachen Wahlrecht ist ebenso populär wie – jedenfalls im System der personalisierten Verhältnis-W. – schwer erfüllbar. Ein schlichtes Mehrheitswahlrecht wäre einfacher verständlich, weil der Wahlsieger über schlichte Addition der Stimmen bestimmt werden kann. Bei der Verhältnis-W. gestaltet sich dies ungleich komplizierter, erst Recht in einem mit der Personen-W. verbundenen System. Zudem reibt sich die Zielsetzung klarer und einfacher Normgebung im wahlrechtlichen Referenzgebiet am Erfordernis hinreichender Bestimmtheit namentlich der das Sitzzuteilungsverfahren betreffenden Vorschriften. Das gilt bes. bei einer kleinteiligen, den mehrheitswahlrechtlichen Anteil des im BWahlG verankerten Wahlsystems derogierenden verhältniswahlrechtlichen Gleichheitsbetrachtung.