Völkermord

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1. Begriff

Als V. oder Genozid (genocide; aus genos [griechisch: eine durch Herkunft verbundene Gruppe] und caedere [lateinisch: töten]) werden Handlungen gegen Mitglieder bestimmter, bes. geschützter Gruppen bezeichnet, die in der Absicht vorgenommen werden, die Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Kennzeichnend für den V. ist dabei, dass das einzelne Tatopfer nicht in seiner Individualität, sondern in seiner Eigenschaft als Mitglied einer Gruppe angegriffen wird. Der völker- und strafrechtliche Begriff des V.s, wie er sich seit Ende des Zweiten Weltkrieges herausgebildet hat, ist zu unterscheiden von der alltagssprachlichen Verwendung des Terminus i. S. massenhafter Tötungen. Neuerdings flankiert wird die Auseinandersetzung mit V. unter juristischem Vorzeichen durch eine von Historikern und Sozialwissenschaftlern betriebene (vergleichende) Genozidforschung, die sich seit Ende der 1990er Jahre etabliert hat.

V. ist kein Phänomen des 20. und 21. Jh. Vielmehr hat die planmäßige und systematische Auslöschung ganzer Gruppen von Menschen die Geschichte der Menschheit seit ihren Anfängen geprägt; einen traurigen Höhepunkt bildet der Holocaust (Shoa) mit der Vernichtung der europäischen Juden, der Sinti und Roma und weiterer Gruppen durch die Nationalsozialisten (Nationalsozialismus). Hieraus ergibt sich die Schwierigkeit, teilweise lange zurückliegende Ereignisse unter den erst später geprägten juristischen Begriff des V.s zu subsumieren, wie etwa die Kontroverse um die Bezeichnung des Vernichtungsangriffs gegen die in der Türkei lebenden Armenier zu Beginn des Ersten Weltkrieges zeigt. Die Tötung zehntausender Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika durch deutsche Kolonialtruppen zu Beginn des 20. Jh. wurde von der BRD erstmals 2015 offiziell als V. bezeichnet.

2. Völkermordkonvention

Nachdem die Generalversammlung der Vereinten Nationen unter dem Eindruck des nationalsozialistischen V.s bereits 1946 festgestellt hatte, dass V. ein „Verbrechen gemäß internationalem Recht“ (GA-Res. 96 [I]) und seine Bestrafung eine internationale Angelegenheit sei, nahm sie am 9.12.1948 einstimmig die „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ an. Die Konvention ist am 12.1.1951 in Kraft getreten; ihr sind bislang 152 Staaten beigetreten, darunter die BRD (1955), Österreich (1958) und die Schweiz (2000); die DDR war der Konvention 1973 beigetreten.

Nach Art. II der Konvention sind V. bestimmte Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Im Einzelnen erfasst sind Handlungen, die sich gegen die physische oder psychische Integrität von Mitgliedern der Gruppe richten (Tötung, Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischen Schaden, Auferlegung von zerstörerischen Lebensbedingungen) oder welche die Existenz oder den biologischen Fortbestand der Gruppe betreffen (Maßnahmen zur Geburtenverhinderung); einbezogen ist darüber hinaus auch eine Form des kulturellen Genozids (gewaltsame Überführung von Kindern). Nach Art. III verpflichten sich die Vertragsstaaten dazu, neben dem V. selbst auch die Verschwörung (conspiracy) und die unmittelbare und öffentliche Anreizung (incitement) zur Begehung von V. sowie Versuch und Teilnahme zu bestrafen. Art. VI bestimmt, dass des V.s Verdächtige vor ein Gericht des Tatortstaates oder vor ein zuständiges internationales Gericht gestellt werden. Heute werden die Bestimmungen der Konvention dem zwingenden Völkerrecht zugerechnet. Der IGH hat sich bislang v. a. in drei Entscheidungen – 1951 (Advisory Opinion), 2007 (Bosnia and Herzegovina v Serbia and Montenegro) und 2015 (Croatia v Serbia) – mit dem V. und der Auslegung der Konvention befasst; 2019 wurde ein weiteres Verfahren anhängig gemacht (The Gambia v Myanmar).

3. Straftatbestand

Die Begehung von V. ist strafbar, sowohl unmittelbar nach Völkergewohnheitsrecht (Gewohnheitsrecht) als auch nach dem innerstaatlichen Recht vieler Staaten. Das Verbrechen des V.s ist Teil des Völkerstrafrechts.

Der völkerrechtliche Straftatbestand ist in Art. 6 des Statuts des IStGH in Anlehnung an Art. II der V.-Konvention festgelegt. Der Schutzbereich des Tatbestandes ist auf nationale, ethnische, rassische und religiöse Gruppen beschränkt; nicht erfasst sind damit bspw. Angriffe, die sich gegen eine politische, soziale oder kulturelle Gruppe richten. Geschützt werden neben der Menschenwürde der betroffenen Individuen die physische Existenz und – nach zutreffender, aber bestrittener Auffassung etwa des BGH – der soziale Bestand der Gruppe. Ihre tatsächliche Zerstörung ist nicht Strafbarkeitsvoraussetzung. Anders als bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit muss sich die Tathandlung auch nicht in eine objektive Gesamttat einfügen. Prägend für den Tatbestand des V.s sind vielmehr die (hohen) subjektiven Anforderungen (Zerstörungsabsicht i. S. zielgerichteten Handelns, str.).

1954, im Zuge des Beitritts der BRD zur V.-Konvention, wurde der Tatbestand des V.s in das StGB eingefügt (§ 220a a.F.). 2002 wurde er mit geringfügigen Änderungen als § 6 in das VStGB überführt. V.-Taten werden mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft; die Verjährung ist ausgeschlossen. Es gilt das Weltrechtspflegeprinzip, d. h., V. ist nach deutschem Strafrecht auch dann strafbar, wenn die Tat im Ausland begangen wurde und keinen Bezug zum Inland aufweist (§ 1 VStGB). Auch im österreichischen (§ 321 öStGB) und im schweizerischen (Art. 264 SchwStGB; Strafrecht) ist der Tatbestand des V.s verankert. In der Schweiz erfasst der Tatbestand auch Taten, die sich gegen soziale und politische Gruppen richten.

4. Gerichtliche Ahndung

Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess spielte der Tatbestand des V.s keine Rolle; der nationalsozialistische V. wurde als Kriegsverbrechen und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, insb. als „Ausrottung“ und „Verfolgung“, erfasst. Erst seit den 1990er Jahren sind internationale Gerichte – die durch den UN-Sicherheitsrat eingesetzten Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien (1993–2017) und Ruanda (1995–2015) – auch für die Ahndung von V.-Taten zuständig. Beide Gerichtshöfe haben in einer Reihe von Entscheidungen Wesentliches zur Präzisierung des Tatbestandes beigetragen (u. a. Akayesu, Krstić, Jelisić). Seit Errichtung des IStGH im Jahre 2000 steht ein permanentes Forum zur Ahndung von V. auf internationaler Ebene bereit.

Bei der strafrechtlichen Verfolgung des nationalsozialistischen Unrechts durch die bundesdeutsche Justiz hat der Tatbestand des V.s – wie die völkerstrafrechtlichen Tatbestände überhaupt – keine Rolle gespielt; die Aburteilung erfolgte auf Grundlage der zur Tatzeit geltenden Bestimmungen des RStGB. Praktische Bedeutung erlangte der Tatbestand des V.s erst im Zusammenhang mit der Verfolgung von Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien und zuletzt auch des V.s in Ruanda vor deutschen Gerichten (u. a. Jorgić, Rwabukombe).