Verschwörungstheorien

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V. stellen einen wiederkehrenden Topos bei der Bewältigung einer unübersichtlich gewordenen Welt dar. Spätestens seit den Anschlägen vom 11.9.2001 sind V. ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit getreten. Auch in der politischen und medialen Auseinandersetzung über Ursachen und Folgen der COVID-19-Pandemie spielen V. eine wichtige Rolle. V. nehmen für ihre Vertreter bestimmte soziale Funktionen wahr, die in ihrer Summe die gesellschaftliche Kommunikation und den rationalen Diskurs über diese Themen erschweren bzw. verhindern.

1. Begriff, Elemente und Funktionen

V. sind keine Theorien im wissenschaftlichen Sinne. Folglich werden in der wissenschaftlichen Debatte darüber vermehrt Begriffe wie „Verschwörungsmythos“ oder „Verschwörungsideologie“ (Mischer 2020: 11) gebraucht. Das zentrale Motiv von V. beschreibt Karl Raimund Popper: V. „behaupte[n], daß die Erklärung eines sozialen Phänomens in der Entdeckung besteht, daß Menschen oder Gruppen an dem Eintreten dieses Ereignisses interessiert waren und daß sie konspiriert haben, um es herbeizuführen. (Ihre Interessen sind manchmal verborgen und müssen erst enthüllt werden)“ (Popper 2003: 112). Damit sind wesentliche Elemente von V. genannt. V. behaupten etwas, wobei diese Behauptungen nicht auf realen Tatsachen beruhen müssen. Zudem werden Menschen bzw. Gruppen Interessen zugeschrieben, die sich zumeist durch „niedere Beweggründe“ (Butter 2018: 21) auszeichnen. Verschwörer handeln naturgemäß im Verborgenen. Das Dunkle und Schattenhafte ist ein gewichtiger Hinweis auf böse Absichten. Zudem ist ein dadurch entstehender Schaden für andere Individuen oder Gruppen zumindest miteingeschlossen, wenn nicht sogar intendiert. Bei K. R. Poppers Beschreibung schwingt außerdem die von Verschwörungstheoretikern sich selbst zugeschriebene Attitüde des Aufklärers mit, der die Verschwörung „enthüllt“ und dadurch den entstandenen Schaden verhindert, minimiert oder wenigstens den Übeltätern zuschreiben kann. Für die Verschwörungstheoretiker übernehmen V. wesentliche Funktionen für die Interpretation der sozialen Umwelt und die Verortung der eigenen Person darin:

a) Erklärungsfunktion: V. bieten Erklärungen für Ereignisse an, die diese in einen größeren Rahmen stellen und so für umfassende Einordnung in das Weltgeschehen sorgen. Je nach Reichweite der V. kann damit auch das gesamte Weltgeschehen selbst erklärt werden.

b) Exkulpationsfunktion: Ist man selbst – sei es bewusst oder unbewusst – nicht Teil der Konspiration, wird man im sozialen Leben oftmals benachteiligt und diskriminiert. An der eigenen, nicht zufriedenstellenden Situation sind die Verschwörer und nicht man selbst schuld. Die eigene Verantwortung für die persönliche Situation wird abgestritten.

c) Anklagefunktion: Die Verschwörer, die trotz noch so perfekter Tarnung ihres Tuns stets benannt werden können, finden sich auf einer fiktiven Anklagebank wieder. Ihnen werden ihre Verbrechen detailliert vorgeworfen. Eine Verteidigung ist unmöglich, weil jeder Einspruch gegen die Anklage als weiterer Beweis für die moralische Verkommenheit und/oder als Manipulationsversuch der Verschwörer gewertet wird.

d) Selbststilisierungsfunktion: Als Verschwörungstheoretiker stilisiert man sich selbst als „Guter“, der grundsätzlich auf der moralisch richtigen Seite steht. Die Verschwörer dagegen bevölkern die Seite des moralisch Minderwertigen. „Dieses Prinzip generiert Feindbilder“ (Mischer 2020: 13), und je mächtiger der Feind ist, desto gewichtiger wird die eigene Rolle.

e) Vereinfachungsfunktion: V. annullieren zwei Bereiche, die den (modernen) Menschen strukturell überfordern, nämlich Kontingenz und Komplexität. Es geht V. nicht um eine Reduktion dieser Phänomene, sondern um deren vollständige Leugnung. Sie konstruieren eine Weltsicht, die Ambivalenzen nicht zulässt. In ihnen ist daher ein „Dualismus von Gut und Böse“ (Butter 2018: 23) grundgelegt. So gelingt es, die soziale Wirklichkeit radikal zu vereinfachen, obwohl V. selbst durchaus nichttriviale Strukturen aufweisen können.

Die aufgeführten Funktionen lassen sich in konkreten V. in unterschiedlichem Maß nachweisen.

2. Typen und Topoi

V. lassen sich in einem breiten inhaltlichen und systematischen Spektrum verorten. Michael Butter zeigt anhand verschiedener Variablen auf, wie V. grundsätzlich konstruiert werden können. So lassen sich V. „von unten“ (die Verschwörer sind noch nicht an den angestrebten Machtpositionen angelangt) von V. „von oben“ (die Verschwörer haben die Macht im Staat oder – im extremsten Fall – der Welt schon übernommen) unterscheiden (Butter 2018: 30). Daneben ist auch die Angriffsrichtung von Bedeutung. Wird die Verschwörung von innerhalb einer Institution oder eines Landes ausgeführt, bzw. ist es sogar die eigene Regierung, die gegen das Volk konspiriert, kann man von V. „von innen“ sprechen, im Gegensatz zu V. „von außen“ (Butter 2018: 31), bei der fremde Regierungen, deren Geheimdienste oder ausländische/multinationale NGOs versuchen, Kontrolle zu erlangen. Ein zentrales Unterscheidungsmerkmal stellt die Reichweite von V. dar. Bei „Ereignis-V.“ wollen die Verschwörer eine einzelne Begebenheit auslösen, wohingegen bei „System-V.“ die Verwirklichung einer „ganze[n] Reihe von Ereignissen“ seitens der Verschwörer intendiert wird, „um ihre dunklen Ziele zu erreichen oder sich an der Macht zu halten“ (Butter 2018: 34). Schließlich werden in „Super-V.“ Verschwörungen als „Weltverschwörungen“ (Butter 2018: 34) imaginiert, in der „Ereignis-V.“ und „System-V.“ miteinander kombiniert werden. In der Welt der V. können die einzelnen Typen ineinander übergehen (eine Regierung mag sich zur Manipulation der eigenen Bevölkerung mit NGOs verbünden) und auch so innerhalb von V. komplizierte narrative Strukturen schaffen, die sich jedoch auf das klassische Verschwörungsmotiv zurückführen lassen.

Inhaltlich lassen sich V. mehrheitlich als Erzählungen gegen die vermeintlichen wie vermutlichen Herausforderungen und Bedrängungen der Moderne deuten, die z. B. in Technikfeindlichkeit und Antikapitalismus ihren Ausdruck finden. Diese beiden Motive können sich nicht selten in einem schroffen Antiamerikanismus Bahn brechen. Zudem werden in V. bestimmte soziale oder politische Gruppierungen benannt, die mit den Verschwörern gleichgesetzt werden, wie Juden (Antisemitismus), Freimaurer (die als Geheimbund a priori zum Kreis der Verdächtigen zählen), Kommunisten, Bilderberger bis hin zu Aliens, als extremste Form einer Super-V. „von außen“ und „von oben“. Verschwörungstheoretiker sind nicht einer einheitlichen ideologischen Denkrichtung zuzuordnen. Sie finden sich im linken wie im rechten Spektrum. Unter ihnen finden sich Anhänger der Esoterik, Reichsbürger, Impfgegner, linke Althippies oder Anarcholibertäre.

3. Zur Gefährlichkeit von Verschwörungstheorien

V. sind in sich geschlossene Gedankengebäude, die die Nichtprognostizierbarkeit von Ereignissen aufgrund der Komplexität sozialer Vorgänge nicht verarbeiten können. Jedes noch so banale Geschehen wird als Beweis für die Verschwörung interpretiert. Dabei sind es insb. zwei Aspekte, die V. zur Gefahr für rationale politische Auseinandersetzungen werden lassen.

a) Selbstimmunisierung bei V.: Verschwörungstheoretiker entziehen sich systematisch der rationalen Debatte. Jedes Gegenargument wird entweder als falsch oder als durch die Verschwörer manipulierte Behauptung diffamiert. Als Nichtanhänger von V. ist man deshalb Teil der Verschwörung oder einfach zu dumm, um diese zu durchschauen. Selbst das (vollständige) Fehlen von Belegen für die Verschwörung kann noch als Beweis für V. benutzt werden: Denn es „belegt […], wie lang der Arm der Verschwörer ist. Denn wie sonst könnte es IHNEN gelingen, IHRE Spuren derart erfolgreich zu verwischen?“ (Hepfer 2016: 31). Karl Hepfer spricht von der „Asymmetrie bei der Berücksichtigung von ‚Beweisen‘ für und wider“ (Hepfer 2016: 31). Aus der Sicht von Verschwörungstheoretikern können daher – im Gegensatz zu wissenschaftlichen Theorien – per se keine Beweise, gegen die jeweilige V. sprechen.

b) Delegitimation demokratischer Strukturen: Verschwörungen werden von Gruppen gesteuert, die entweder schon an der Macht sind oder sie anstreben. Diese Perspektive hat zur Folge, dass die Regierung entweder selbst als Teil bzw. Kopf der Konspiration gesehen wird, oder als zu schwach angesehen wird, um gegen die Verschwörer vorzugehen. Beides untergräbt und zerstört das Vertrauen in die Regierung und in die sie tragenden Strukturen und Prozesse. Dies gilt insb. dann, wenn einer Regierung unterstellt wird, jemandem absichtlich schaden zu wollen. Verschwörungstheoretiker neigen demgemäß zu einer Haltung, die das „ganze System“ ablehnt.

Sie igeln sich in mentalen Wagenburgen ein und entziehen sich der politischen Diskussion. Sie frönen einem Irrationalismus, der auch dann vorhanden ist, wenn die zugrundeliegende V. in sich logisch stringent aufgebaut ist. Aufgrund von Selbstimmunisierungsstrategien lassen sie sich nicht (mehr) überzeugen, in das normale Gespräch einzutreten. Für die demokratische Debatte sind sie verloren.