Verhältnismäßigkeit

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V. (englisch proportionality) bezeichnet in der Rechtssprache einen Maßstab der Kontrolle zweckgerichteter, meist mit Herrschaftsbefugnissen verknüpfter Handlungen anhand eines wertenden Vergleichs ihrer Ziele und ihrer tatsächlichen oder erwünschten Wirkungen mit ihren Folgen oder Nebenfolgen. Das „Verhältnis“, um dessen „Maß“ es geht, ist daher jenes von Zweck und Mittel. Somit unterscheidet sich diese Proportionalität vom aristotelischen Topos der „proportionalen“ Gerechtigkeit nach dem Maß der Würdigkeit.

V. in diesem allgemeinen Sinne ist nicht notwendig eine Rechtsfrage. Dass die Entsprechung von Handlungszwecken und Handlungsmitteln eine Klugheitsregel (Klugheit) ist, weiß schon das Sprichwort: Man soll nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen und ebensowenig crack a nut with a sledgehammer. Die logische Form des Grundsatzes der V. ergibt sich also aus der zweckhaften Struktur sozialen Handelns (Handeln, Handlung) selbst, weil dann ohne weiteres die zu seiner Verwirklichung eingesetzten Mittel befragt werden können. Nur von einem Handeln, das keinen Zweck hat oder dessen Zweck unbekannt ist, lässt sich, was nur scheinbar trivial ist, von vornherein nicht sagen, ob es verhältnismäßig ist.

1. Ursprünge, Veränderung und Verbreitung

Der Rechtsgedanke der V. hat mehrere Ursprünge. Das Privatrecht kennt die V. als immanente Grenze privater Notrechte. Im öffentlichen Recht erlaubte § 10 Abs. 2 S. 17 PrALR der Polizei nur die „nöthigen Anstalten“ zur Gefahrenabwehr, woraus das Preußische OVG im Kreuzberg-Erkenntnis vom Juni 1882 eine richterliche Kontrolle der von der Verwaltung verfolgten Zwecke machte und damit die Grundlage für die moderne Dogmatik der V. schuf. Große Bedeutung hat das Prinzip aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg als Maßstab der verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Gesetzen erlangt. Zentrale Bedeutung hatte hierbei das sogenannte Apotheken-Urteil des BVerfG aus dem Jahr 1958, in dem das Gericht zum ersten Mal eine gesetzliche Regelung einer detaillierten Kontrolle anhand der verfolgten Regelungszwecke und der die Freiheitsbeschränkung tragenden Gründe entwarf. Dabei wird nicht immer klar gesehen, wie grundsätzlich damit sowohl die Vorstellung von V. als auch die von Gesetzgebung sich veränderte. Während es bei der Kontrolle von Verwaltungshandeln am Maßstab der V. typischerweise der Gesetzgeber ist, der der Verwaltung ihre möglichen Zwecksetzungen vorgibt, lässt sich diese Vorstellung nur schwer auf das Verhältnis von Verfassung und demokratischem Gesetzgeber übertragen, weil Gesetzgebung sich ihre Zwecke selbst setzt und auch deren Gewicht maßgeblich selbst bestimmt. Überragenden Einfluss auf die Durchsetzung der V. als universellem Maßstab des Verfassungsrechts hatte das Grundrechte-Lehrbuch von Bodo Pieroth und Bernhard Schlink (1985), das nach einer Phase starker ideologischer Auseinandersetzungen im Verfassungsrecht mit dem Grundsatz der V. ein vermeintlich neutrales und sachliches rhetorisches Formular der Abschichtung von Problemen in der verfassungsrechtlichen Argumentation schuf. Heute erfreut sich das Argument der V. in allen Bereichen des öffentlichen Rechts, auch im institutionellen Verfassungsrecht, zunehmend aber auch im Privatrecht großer Beliebtheit. Während V. zunächst v. a. ein Topos des deutschen Verfassungsrechts war, ist sie inzwischen sowohl in der Rechtsprechung der europäischen Gerichte als auch der Verfassungsgerichte der USA, Südamerikas, Ostasiens und Israels aufgegriffen und verwendet, was treffend als „Globalisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes“ (Saurer 2012) bezeichnet wurde. Im Völkerrecht spielt der Gedanke v. a. im sogenannten ius in bello eine große Rolle, das kriegerische Gewaltanwendung auf diese Weise zu begrenzen versucht.

2. Elemente der Verhältnismäßigkeit

Dogmatisch wird im Rahmen der V. gemeinhin unterschieden zwischen

a) dem Vorhandensein eines legitimen Zwecks,

b) der abstrakten Eignung des Mittels für diesen Zweck,

c) der Erforderlichkeit und

d) schließlich dem angemessenen Verhältnis zwischen Mittel und Zweck.

Aus der politischen Offenheit demokratischer Gesetzgebung folgt allerdings, dass Zwecke nur in äußersten Fällen als schlechthin illegitim angesehen werden können. Dementsprechend spielt das Kriterium auch in der Verfassungsrechtsprechung so gut wie keine Rolle. Das gilt auch für den Gesichtspunkt der Geeignetheit, denn er setzt empirische Erkenntnisse darüber hinaus, ob und wie die zu prüfende Regelung tatsächlich wirkt, was i. d. R. streitig und von der Verfassungsrechtsprechung auch schwer zu beurteilen ist. Nicht anders ist es auch beim Gesichtspunkt der Erforderlichkeit: Unverhältnismäßig soll eine Regelung demnach auch dann sein, wenn eine andere denkbar ist, deren Konsequenzen für das betroffene Rechtsgut bei gleicher Effektivität weniger einschneidend sind. Solche Alternativen liegen in vielen Fällen auf der Hand, bleiben aber mit prognostischen Unsicherheiten behaftet und sind deswegen kaum je eindeutig vorzugswürdig. Damit liegt der Schwerpunkt der Herstellung von V. bei der Abwägung zwischen dem Gewicht der verfolgten Zielsetzung einerseits und dem durch die Regelung betroffenen Rechtsgut andererseits. In der Rechtssprache wird die Prüfung der V. deswegen häufig überhaupt mit dem Verfahren der Abwägung oder Güterabwägung identifiziert. Abgewogen wird dabei bspw. der Zweck des Infektionsschutzes mit den durch die Mittel (Gottesdienst- und Versammlungsverbote) verursachten Grundrechtseinschränkungen. Dieses Verfahren führt paradoxerweise dazu, dass die Prüfung der V. gerade bei den intensivsten Grundrechtseingriffen weitgehend ausfällt: Dies gilt insb. für die verfassungsrechtliche Kontrolle der Strafzumessung, was auch daran liegen dürfte, dass der Kriminalstrafe kein punktueller, quasi-administrativer „Zweck“ eigen ist.

3. Kritik, Methode und Grenzen

Da Zwecken ebenso wenig wie Rechten ein abstrakter Rang zukommt, der ihnen vielmehr stets nur im Einzelfall argumentativ zuerkannt wird, wird die Güterabwägung seit langem als willkürlich bzw. als methodisch unzureichende Grundlage extensiver Verfassungsrechtsprechung kritisiert. Die vielfältigen Versuche, den Abwägungsprozess nachvollziehbarer zu gestalten, setzen entweder bei der argumentationslogischen Aufbereitung von Argumenten (Robert Alexy), bei einer stärkeren Empirie der tatsächlichen Folgen von Regelungen (David M. Beatty), bei einer der eigentlichen Abwägung vorangehenden, wertenden Bestimmung des konkreten Eingriffsgewichts (BVerfG) oder, vollends pragmatisch, bei flexiblen „Einschätzungsprärogativen“ des Gesetzgebers an. Diese Kritik ist nahezu identisch mit der generellen Kritik an der (zu) weitgehenden verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Gesetzen überhaupt. Die V. ist jedenfalls in den Grundstrukturen eine fast zwangsläufige Folge der justiziablen Grundrechtsbindung von Gesetzgebung. Sie ist ein Prinzip, das Argumentationsvorgänge eher strukturiert als normative Vorgaben zu machen, ein gleichsam sich selbst mit der Setzung von Zwecken erzeugender Maßstab. Das ist bes. dann funktional unverzichtbar, wenn es – wie bei der Grundrechtsinterpretation – keine belastbaren textlichen Maßstäbe gibt. V. ist insofern das rhetorische Formular einer Verfassungsbindung des Gesetzgebers, die immer erst ad hoc durch eine Begründungspflicht hergestellt wird. Das zeigt sich nicht zuletzt an der hohen Variabilität der V.s-Argumentation. Sie ist in der Lage, jeden nur denkbaren rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt und seine Veränderung zu integrieren. So wurden etwa im notstandsähnlichen Rechtszustand (Staatsnotstand) während der COVID-19-Pandemie 2020/21 vorher lange undenkbare Beschränkungen der Freiheitsrechte, namentlich der Religions- und Versammlungsfreiheit als noch verhältnismäßig angesehen. Daran zeigt sich u. a., dass der Grundsatz der V. das früher zentrale Verfassungsproblem der Suspendierung von Grundrechten weitgehend obsolet macht: Das aus hinreichend gewichtigem Grund eingeschränkte Grundrecht muss nicht mehr gesondert außer Kraft gesetzt werden. Hat die V. somit in der Dogmatik der Grundrechte einen weitgehend gesicherten Anwendungsbereich, so erstreckt die neuere Rechtsprechung namentlich des BVerfG sie auch auf Felder wie das Parlaments- und Wahlrecht oder das Recht der EZB. Eine tragfähige Begründung für die Übertragung auf die rechtlichen Beziehungen innerhalb des politischen Prozesses steht bisher noch aus.