Verfassungsgeschichte

Version vom 14. November 2022, 07:01 Uhr von Staatslexikon (Diskussion | Beiträge) (Verfassungsgeschichte)

1. Begriff und Gegenstand

V. beschäftigt sich mit der Legitimation und der Organisation von Herrschaft in historischer Perspektive. Der dabei verwendete Verfassungsbegriff ist nicht auf die modernen geschriebenen Verfassungen westlichen Typs, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 18. Jh. auszubilden beginnen, beschränkt. V. ist eine Disziplin, deren Verortung zwischen Geschichts- und Rechtswissenschaft nicht klar ist. Sie kann als eine beiden Wissenschaften gemeinsame Unterdisziplin angesehen werden. V. wird an juristischen wie an philosophischen Fakultäten gelehrt, sowohl Juristen als auch Historiker forschen auf diesem Feld. Disziplinensystematisch könnte man hier argumentieren, (auch) die V. gehöre zum öffentlichen Recht wie die Verfassungsrechtslehre, die allg.e Staatslehre, die Verfassungstheorie oder die Staatsphilosophie. Die Gemeinsamkeit läge im Erkenntnisgegenstand. Nach dieser Vorgehensweise gehörte die V. allerdings genauso gut auch zur Geschichtswissenschaft; denn diese nimmt prinzipiell keinen Gegenstand aus ihrem historischen Erkenntnisinteresse aus. Geht man demgegenüber von der Erkenntnismethode aus, ist zu berücksichtigen, dass die dogmatisch arbeitende Rechtswissenschaft als Normwissenschaft (Dogmatik) Sollenssätze mit dem Erkenntnisziel der Systematisierung und auch Anleitung der auf Anwendung ausgerichteten geltenden Rechtsordnung interpretiert. Der V. geht es demgegenüber nicht um die Lösung historischer Rechtsfälle, sondern um die Analyse von Herrschaftsformen und Herrschaftslegitimationen (Legitimation).

2. Funktion der Verfassungsgeschichte für die Rechtsdogmatik des Verfassungsrechts

Aus der Sicht einer dogmatisch arbeitenden Rechtswissenschaft unterscheidet sich die V. von ihr durch ihre Methode. Ihre Herangehensweise ist nicht normativ-juristisch-dogmatisch, sondern entspricht den Methoden der Geschichtswissenschaft. Allerdings bezieht sich ihr richtig verstandener Erkenntnisgegenstand auf etwas Normatives, nämlich die als verbindlich anerkannten Regeln für Personen und Institutionen zur Konstitution, Organisation und Begrenzung des Gemeinwesens. In der Arbeitsdefinition von Dietmar Willoweit handelt es sich bei dem Erkenntnisgegenstand der V. um „diejenigen rechtlichen Regeln und Strukturen, die das Gemeinwesen und damit die politische Ordnung prägen“ (Willoweit/Schlinker 2019: 2). Reinhart Koselleck hat vorgeschlagen, V. solle die Bereiche erforschen, „die sich durch Wiederholbarkeit kraft Rechtsregeln auszeichnen“ (Koselleck 1983: 11). Er begründet dies damit, „den Bruch zwischen den vormodernen Rechtsgeschichten und den neuzeitlichen Verfassungsgeschichten zu überbrücken“ (Koselleck 1983: 11). Etwa müsse – im Anschluss an Otto Brunner – für die vorneuzeitliche Betrachtung die Strafrechtsgeschichte mit einbezogen werden, während dies für eine V. des 19. Jh. nur bedingt der Fall sei.

3. Historisierung des geltenden Verfassungsrechts – das Problem des Endzeitpunkts von Verfassungsgeschichte

Die zeitliche Abfolge verfassungsrechtlicher Neukonstituierungen führt zu dem Problem des Endes der V.: Ist insofern „geschichtlich“ alles vor der geltenden Verfassungsordnung? Was bedeutet „geltende Verfassungsordnung“? Kann dies auf das Inkrafttreten der Verfassungsurkunde reduziert werden? Die Beantwortung dieser Fragen hängt von der zeitlichen Abfolge verfassungsrechtlicher Neukonstituierungen und von der Quantität wie der Qualität von Verfassungsänderungen ab. Deutschland ist dabei von einer zunächst relativ raschen Abfolge grundstürzender staatsrechtlicher Veränderungen gekennzeichnet gewesen:

– Ende des Alten Reiches 1806;

– Gründung eines Staatenbundes 1815;

– Bundesstaatsgründung 1867/1871;

– Austausch der grundlegenden Legitimationsgrundlage 1918/19;

– Übergang zum totalitären Staat 1933–1945;

– demokratische Neukonstituierung 1948/49.

Staaten wie die Schweiz und v. a. die USA zeichnen sich demgegenüber durch eine große Kontinuität der Verfassungszustände aus. Sie unterscheiden sich dabei allerdings wiederum in der Frequenz der Verfassungstextänderungen: Der praktisch statische Text-Zustand der Verfassungsurkunde in den USA steht den fast jährlichen Änderungen von Bundes- und Kantonsverfassungen in der Schweiz angesichts von Volksinitiativen gegenüber. Gleichwohl finden in den USA im Laufe der Entwicklung gravierende Änderungen durch ein sich wandelndes gesellschaftliches Umfeld statt, auf welche die Rechtsprechung zwangsläufig reagieren muss. Wie zumindest für die USA angedeutet, ist daher das Verhältnis von Verfassungsrecht und V. – allerdings auch aufgrund der grundsätzlich anderen Rechtstradition – notwendig ein anderes als etwa in Deutschland.

Angesichts der inzwischen beachtlichen Geltungsdauer des GG und der durch dieses konstituierten Verfassungsordnung stellt sich auch in Deutschland die Frage nach einer Historisierung der staatsrechtlichen Ereignisse, letztlich auch der verfassungsgerichtlichen Judikatur der frühen Bundesrepublik. Aus dem amerikanischen Rechtskreis (Anglo-amerikanischer Rechtskreis) ist die Formulierung von Charles Evans Hughes überliefert: „[T]he Constitution is what the judges say it is“ (Hughes 1908: 139). Es stellt ein ungelöstes verfassungsrechtsdogmatisches Problem dar, dass die Judikatur des BVerfG von 1951 an, d. h. seit inzwischen fast 70 Jahren – einem für die Epochenabfolge in der jüngeren deutschen V. relevanten Zeitraum – in der Anwendung des GG gleichrangig behandelt wird. War die Historisierung von Recht Ausgangspunkt der Ausbildung von Rechts- und V., stellt sich somit als Folgeproblem die Koordination dieses Konzepts mit grundlegenden Verfassungsumbrüchen. Solche stellen stets Zäsuren für eine Historisierung dar. Angesichts der Dauer und der Wirkungsintensität des GG besteht in der Gegenwart das Bedürfnis einer „Zwischenhistorisierung“ als Anreicherung des verfassungsrechtlichen Methodenarsenals. Das hätte Rückwirkung auf Stellung und Funktion der V. für die Rechtswissenschaft.

4. Historische Bedingtheit des Verhältnisses zwischen Verfassungsgeschichte und Verfassungsrecht

Methoden und Erkenntnisziele der beiden beteiligten Disziplinen Rechts- und Geschichtswissenschaft variierten im Laufe der geschichtlichen Entwicklung erheblich. Vier Phasen können für dieses Verhältnis für den deutschen Bereich unterschieden werden:

4.1 Reichshistorie als Instrument der Reichspublizistik

Die Reichshistorie der Frühen Neuzeit kann als ein Vorläufer moderner Verfassungsgeschichtsschreibung gesehen werden. Die Reichsgesetzgebung war im Alten Reich gering entwickelt. Weil sie „auch in den letzten der großen Reichsgrundgesetze, in dem als solches in das Reichsrecht übernommenen Westfälischen Frieden und in dem darauf aufgebauten Jüngsten Reichsabschied von 1654, alle wesentlichen Fragen unbeantwortet gelassen hatte, war das geltende Staatsrecht des Deutschen Reichs nicht anders zu erfassen, als dass man von Präzedenzfällen ausging“ (Hartung 1961: 432 f.). Die staatsrechtliche Methode war damit weitgehend eine geschichtliche. Der status imperii des Alten Reiches sollte so historisch ermittelt werden. Diese Reichshistorie, die sich im 18. Jh. ausbildete und als Einleitung in die Darstellung des geltenden Staatsrechts diente, war von der Disziplin der zur philosophischen Fakultät gehörenden allg.en Geschichte getrennt. Fritz Hartung spricht von einem „unnatürlichen Graben, den der Universitätsbetrieb in Deutschland zwischen der allgemeinen und der Reichshistorie gezogen hatte“ (Hartung 1961: 433). Die Reichshistorie sammelte, ja instrumentalisierte den historischen Stoff unter einer primär juristischen, seinerzeit gegenwartsbezogenen Fragestellung. Die Grenze zwischen der Interpretation geltenden Rechts und historischer Arbeit erscheint aufgehoben, das Recht historisiert, insofern die Reichsgeschichte das theoretische Fundament des Reichsrechts bildete. V. a. das juristisch relevante Problem, ob die kaiserliche oder die fürstliche Gewalt originär gewesen sei, d. h. letztlich der das Alte Reich prägende Dualismus zwischen Kaiser und Reichsständen, die Frage nach dem Träger der Souveränität, konnte – wenn überhaupt – nur historisch entschieden werden. Diese Funktionalität führte zu einer Abwendung barocker Historiographie und zu einer Hinwendung zu institutionellen Aspekten – das Erkenntnisinteresse brachte die wissenschaftliche Behandlung voran. Hier wird v. a. Johann Stephan Pütter mit seiner explizit als Hilfswissenschaft für das deutsche Staatsrecht verstandenen Reichshistorie unter dem Titel „Teutsche Reichsgeschichte in ihrem Hauptfaden entwickelt“ (1778) genannt.

4.2 Die antiquarische, auf das Mittelalter konzentrierte Verfassungsgeschichte

Die juristische Methode im Staatsrecht entwickelt sich in der zweiten Hälfte des 19. Jh. Der sog.e Gerber-Labandsche Positivismus, der im Kaiserreich zu voller Blüte erwuchs, um in der Spätphase des Kaiserreichs erste Relativierungen zu erfahren, wurde im Bereich des Verwaltungsrechts durch Otto Mayer und seine Zeitgenossen vorangetrieben. Dieser Prozess erfolgte gleichzeitig mit der Loslösung der Rechtsgeschichte von der V., der Trennung von „innerer“ und „äußerer“ Rechtsgeschichte. Das in dieser Weise betriebene Staatsrecht löste sich von seinen historischen W…urzeln, wurde immanent zu interpretieren gesucht. Dies war zugl. Hauptangriffspunkt der zeitgenössischen wie der Kritik der Weimarer Zeit. Die Verfassungshistoriker beschäftigten sich in dieser Zeit vorrangig mit dem Mittelalter. Die praktische Notwendigkeit der historischen Betrachtungsweise war durch ein romantisch-nationalhistorisches Interesse am Gegenstand abgelöst worden. Erst der Schweizer Andreas Heusler führte 1905 die V. bis in die Neuzeit, genauer bis zum Ende des Alten Reichs fort. Der eigentliche Anstoß ging in dieser Zeit – bemerkenswerter Weise gleich unter Einschluss der Verwaltungsgeschichte – von der historisch arbeitenden Staatswissenschaft aus. Über Gustav von Schmoller führte dieser Weg zu Otto Hintze.

4.3 Verfassungsgeschichte als Teil einer „ganzheitlich“ verstandenen Rechtswissenschaft unter ideologischen Vorzeichen

Das jahrzehntelang vergleichsweise unangefochtene juristische Teilfach – oder genauer: die Vorlesung – „Deutsche V. der Neuzeit“ ist Ergebnis der nationalsozialistischen Studienreform von 1935. Nach Erlass der Reichsjustizausbildungsordnung vom 22.7.1934 wurde in den „Richtlinien für das Studium der Rechtswissenschaft (Studienordnung)“ vom 18.1.1935 ein neuer, verbindlicher Studienplan festgelegt. Die Studienreform war zugl. ein entscheidender Schritt zur Institutionalisierung des Fachs V. in der Rechtswissenschaft. Es hat den Anschein, dass mit und seit dieser Zeit die Beschäftigung mit dem Fach in der Forschung stärker als zuvor von öffentlich-rechtlich ausgerichteten Juristen betrieben wurde. In Anknüpfung an die „Evaluation“ der vorausgegangenen preußischen Reform von 1931 mit ihrem Ansatz einer breiten Ausbildung konnten neue weltanschauliche Postulate verbunden werden. Vorlesungen zur „V. der Neuzeit“ wurden seit 1931 zumindest an den preußischen Universitäten angeboten. Unter Reichswissenschaftsminister Bernhard Rust und dem Rechtshistoriker Karl August Eckardt wurde im Nationalsozialismus das rechtswissenschaftliche Studium erneut stärker historisch ausgerichtet und zugl. ideologisiert. Die neue Funktionalität des Fachs ist eng v. a. mit einer Person verknüpft: Ernst Rudolf Huber. Das gilt nicht nur institutionell, sondern auch programmatisch.

4.4 Verfassungsgeschichte und Verfassungsrecht zwischen der „Einheit der Staatswissenschaften“ und methodologischer Differenz

Befreit man die Motivation der Institutionalisierung der V. unter dem Nationalsozialismus von ihrem ideologischen Ballast und ersetzt einige Begrifflichkeiten durch modernere Ausdrücke – etwa „lebendige Gestalt des Volkes“ durch „Struktur“, „Gefüge“, „Gruppe“ usw. – scheinen viele der verfolgten Anliegen bis in die Gegenwart virulent zu sein: Vergleichende Perspektiven, Herausstellen des Modellhaften, Einbeziehung des Realbereichs, Überwindung eines zu engen juristischen Verfassungsbegriffs und einer verengenden disziplinären Betrachtungsweise (heute modern als „Interdisziplinarität“ propagiert), Betonung von dynamischen Entwicklungslinien jenseits statischer Dogmengeschichte – auch das generelle Anliegen, die juristische Ausbildung auf eine breitere, der Gegenwart adäquatere Grundlage zu stellen. Der heutige Versuch einer „Renaissance der Staatswissenschaft“ verfolgt insofern durchaus wichtige Anliegen; ihre Instrumentalisierbarkeit und ihre methodischen Schwachstellen sollten jedoch stets präsent bleiben. Das Problem stellt nicht die Bespiegelung eines Phänomens durch verschiedene Wissenschaften mit verschiedenen Methoden dar, sondern ein unkontrollierter und vielleicht auch unbewusster Methodensynkretismus. Die wissenschaftliche Spezialisierung ist selbst das Ergebnis eines Differenzierungsprozesses, der nicht einfach vorher Zusammengefügtes willkürlich getrennt hat, sondern in dem neue Fragestellungen und Interessen zu neuen Wissenschaften führten, die nie wirklich jemals integriert gewesen sind. Aus diesem Grunde erscheint auch die mit dieser Klage gelegentlich verbundene Aufforderung zu einer Rückkehr zu den alten Zuständen problematisch. Ein arbeitsteiliges Zusammenwirken ist vermutlich einem integrativen Verständnis überlegen.