Verantwortung

  1. I. Philosophisch
  2. II. Sozialethisch

I. Philosophisch

Abschnitt drucken

Versteht man die V. als ein mehrstufiges Phänomen, so verliert der Ausdruck, der erst in neuerer Zeit philosophisch bedeutsam geworden ist, an Unschärfe und Vieldeutigkeit. Zu unterscheiden ist:

a) Es gibt die (Primär-)V., „die jemand trägt“, dabei erstens als spezifische Aufgaben-V. die Zuständigkeit für bestimmte soziale Rollen, Funktionen und Ämter und zweitens als generelle Handlungs-V. die Zuständigkeit für die Folgen und Nebenfolgen des eigenen Tun und Lassens.

b) Die (Sekundär-)V., „zu der man gezogen wird“. Diese Rechenschafts-V. führt ein Moment der Anschuldigung, zumindest der Verdächtigung mit sich, Zuständigkeiten seien vernachlässigt.

c) Bewahrheitet sich die Anschuldigung, so wird man erneut zur V. „gezogen“: Diese Tertiär-V., die Haftung für Verfehlungen oder Vernachlässigungen, auch für das Verursachen von Gefahrenquellen, besteht in Schadenersatz und Wiedergutmachung, evtl. auch Strafe.

Die der Rechenschafts-V. und der Haftung vorgeordnete Aufgaben-V. und Handlungs-V. bestehen in einer vielstelligen Beziehung: der Zuständigkeit

a) von Personen

b) für übernommene Aufgaben bzw. für das eigene Tun und Lassen, auch für Charaktereigenschaften

c) vor einer Instanz, die Rechenschaft fordert: z. B. vor einem Gericht, vor den Mitmenschen, auch vor dem Gewissen (Gewissen, Gewissensfreiheit) oder vor Gott,

d) nach Maßgabe gewisser Kriterien.

Nur einfache Aufgaben lassen sich vorweg und in einem simplen Pflichtenheft festlegen, so dass Gewissenhaftigkeit ausreicht. Die Aufgaben der sog.en V.s-Träger (z. B. Eltern, Politiker, Unternehmer, Intellektuelle) sind strukturell komplexer: weder wohldefiniert noch von Spannungen, vielleicht sogar Widersprüchen frei, zudem mit schwer einschätzbaren Wagnissen behaftet. Deshalb braucht es zusätzlich eine Sensibilität für neu entstehende Aufgaben und eine höherstufige Urteilsfähigkeit.

Aufgrund seiner Fähigkeit zur V. wird der Mensch zum Rechtssubjekt bzw. moralischen (auch religiösen) Subjekt, das für sein Handeln (Handeln, Handlung) und dessen Folgen einzustehen hat und im Bereich des Rechts Strafen oder Belohnungen, des Sozialen Lob oder Tadel, moralisch gesehen aber Achtung oder Verachtung verdient. – Die rechtliche V. betrifft Verpflichtungen aus Aufgaben und Ämtern, die man übernommen hat, oder das Einhalten der allg.en Gebote und Verbote des Rechts. Ihre subjektive Bedingung der Möglichkeit ist, dass man über Zurechnungsfähigkeit verfügt, insofern man aus eigenem Antrieb und in einem Überschauen der Situation und der Handlungsfolgen, also freiwillig und bewusst handeln kann, was durch (psychische, auch genetische) Vorgaben, frühkindliche Erziehungsprozesse (Erziehung) beeinflusst, aber nicht determiniert wird. Zurechnungsfähigkeit impliziert nicht, dass man frei von äußeren oder inneren Einflüssen ist. Im Einzelfall können bes. Gründe, die schon Aristoteles erörtert hat, von V. teilweise oder vollständig entlasten, z. B. Zwang, Nötigung, Irrtum, Geisteskrankheit. Für den Psychologen und Juristen ist die Grenze zwischen Verantwortlichkeit und Nichtverantwortlichkeit oft schwierig zu ziehen.

Einen genuin moralischen Rang hat das Übernehmen von V., sofern es nicht erst aufgrund zu erwartender Belohnungen und Strafen, sondern schon deshalb geschieht, weil man sich als für Mitmenschen, die natürliche, soziale, kulturelle und politische Welt und sich selbst verantwortlich erkennt und sich gemäß dieser V. als Person einsetzt. Die moralische V. betrifft auch die Welt (der Familie, des Arbeitsplatzes, der Politik), in der man lebt, ohne hier formelle Zuständigkeiten übernommen zu haben. Denn die Lebensverhältnisse des Menschen sind mindestens z. T. erst durch gemeinsame Arbeit und wechselseitiges Verhalten so geworden, wie sie sind, und sind durch deren Veränderung beeinflussbar. – Die V.s-Ethik, die Max Weber zum Beruf der Politik rechnet und, nicht ganz sachgerecht, in kontradiktorischen Gegensatz zur Gesinnungsethik stellt, fordert, nicht einfach hohen Geboten zu folgen, vielmehr in erster Linie auf die voraussehbaren Folgen der Handlungen zu achten und für sie aufzukommen.

II. Sozialethisch

Abschnitt drucken

V. ist „eine Schlüsselkategorie unseres gegenwärtigen Selbstverständnisses“ (Kaufmann 1992: 11), das nach dem Verlust geteilter Sinn- und Wertvorstellungen im Ruf nach V. Halt sucht. Vor diesem Hintergrund hat der Begriff V. eine dynamische Konjunktur entfaltet. Dabei ist eine dreifache Entgrenzung des V.s-Diskurses zu beobachent: räumlich durch die Intensivierung globaler Interaktionszusammenhänge; intergenerationell durch die Eingriffstiefe in ökologische Wirkungszusammenhänge; risikoethisch durch technisches Können, das zuvor Schicksalhaftes in Entscheidbares verwandelt. Diese dreifache Erweiterung mündet unter den gegenwärtigen Bedingungen von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft in eine „deklamatorische Verantwortungsüberlastung“ (Lübbe 1994: 299).

Ein zweiter Grund für die Konjunktur der V. in spätmoderner Gesellschaft ist ihre methodische Anwendbarkeit auf komplexe Handlungssitutionen. In diesem Sinne wurde der Begriff V.s-Ethik bereits 1919 von Max Weber geprägt zur Charakterisierung der bes.n ethischen Herausforderungen des Politikers, die er pointiert gegen eine sich den Sachzwängen der Realität verweigernde Gesinnungsethik abgrenzt.Von daher lässt sich V. definieren als „ethische Grundhaltung, die in Kauf zu nehmenden Übeln, Zumutungen und Widerständen bei der Durchsetzung sittlich geforderter Ziele […] nüchtern, realitätsnah, umsichtig, zupackend und kalkuliert Rechnung trägt“ (Korff 2001: 600). Die bes. Relevanz dieses Ansatzes für die ethischen Problemstellungen der Gegenwart besteht darin, dass er auch solche Nebenwirkungen menschlichen Handelns (Handeln, Handlung) einbezieht, die nur begrenzt intentional zurechenbar sind.

Anwendungsorientierte Ethik konzentriert sich auf Entscheidungskriterien als „Handwerkszeug“ der verantwortlichen Konfliktbewältigung. Dies bedarf jedoch einer differenzierenden Analyse, in welchen Kontexten konsequenzialistische, also auf die Handlungsfolgen bezogene Bewertungsmethoden der Güterabwägung (Abwägung) ethisch vertretbar sind und wo andere, eher prinzipien- oder geboteorientierte Evaluationsverfahren (Evaluation) angemessen scheinen. So darf z. B. der für die Erhaltung von Sachwerten angemessene Grundsatz des kleineren Übels nicht auf Entscheidungen, die das Leben und die Würde von Menschen (Menschenwürde) betreffen, angewendet werden. Handlungsmittel, die mit Übeln verbunden sind (z. B. eine unangenehme Medizin), dürfen nur dann verwendet werden, wenn das Übel zur Erreichung des Zieles unvermeidlich und verhältnismäßig (Verhältnismäßigkeit) ist und das Übel, das durch das Handeln vermieden oder verhindert werden soll, größer ist als das in Kauf genommene. Eine Ethik, die sich den unaufhebbaren Konflikten der Realität stellt, braucht Verfahren einer auf die Handlungskonsequenzen bezogenen Güterabwägung und des Kompromisses. Güterabwägungen brauchen aber immer einen Wert, der den Nutzen allererst definiert, auf den hin Güter bewertet und gegeneinander abgewogen werden können.

Der Begriff „V.“ erschließt Zugänge zu einem existentiellen Verständnis dessen, was Ethik ist: Sie meint nicht einfach die deduktive Anwendung von Normen und Prinzipien in geschlossenen Theoriemodellen. Eine Ethik der V. äußert sich responsorisch als Antwort-Geben auf die Herausforderungen des Zusammenlebens in der jeweiligen Situation. Sie ist aufmerksame Sorgfalt im Umgang mit komplexen technischen und gesellschaftlichen Herausforderungen. V. ist ein Akt der Freiheit und äußert sich in der Bereitschaft, sich und anderen für das eigene Handeln Rechenschaft zu geben.

Dabei gibt es unterschiedliche Arten der primären Verantwortung, die wechselseitig respektiert, toleriert, abgegrenzt und einander zugeordnet werden müssen. Politische Entscheidungen, die mit großen prognostischen Unsicherheiten (Prognose) sowie ungleichmäßigen Risikoverteilungen (Risiko) verbunden sind, bedürfen demokratischer Rechtfertigung durch Transparenz der Verfahren, Ermöglichung von Partizipation und Zustimmung der primär Betroffenen. Welches Maß an Transparenz, Partizipation und Zustimmung jeweils nötig ist, muss gesellschaftlich ausgehandelt werden.