Unverletzlichkeit der Wohnung

Version vom 16. Dezember 2022, 06:13 Uhr von Staatslexikon (Diskussion | Beiträge) (Unverletzlichkeit der Wohnung)
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1. Schutz der räumlichen Privat- und Freiheitssphäre

Das GG gewährleistet in den Grundrechten Voraussetzungen moderner Staatlichkeit, die in der U. d. W. (Art. 13 GG) in einer räumlichen Privat- und Freiheitssphäre konkretisiert werden. Der umfassende Würde-, Persönlichkeits- und Freiheitsschutz wäre unvollständig, wenn sich der Mensch nicht fremden Blicken entziehen und an einen privaten Ort persönlicher Entfaltung zurückziehen könnte. Den elementaren Zusammenhang zwischen dem Schutz der Persönlichkeit und einem privaten Rückzugsraum betonen Art. 7 der EuGRC, Art. 8 Abs. 1 der EMRK, Art. 17 des IPbpR sowie Art. 12 der AEMR, wenn sie das Familien- und Privatleben, die Korrespondenz, auch die Ehre und den Ruf in einem Atemzug mit der Wohnung schützen.

Die U. d. W. verbindet vier grundlegende Garantien. Jedem steht – erstens – ein Ort zu, an dem er ungestört ist. Hier ist er – zweitens – den Augen und Ohren anderer entzogen und hat die Herrschaft über das gesprochene Wort sowie weitere Informationen. Drittens kann jeder die „eigenen vier Wände“ nach seinen Vorstellungen gestalten, darin nach seinem Willen handeln und frei sprechen. Art. 13 Abs. 1 GG gewährleistet insgesamt eine räumliche Privat- und Freiheitssphäre (BVerfGE 27,1 [6]; 139,245 [265]). In den liberalen Worten des Art. 115 der WRV wird insgesamt eine „Freistätte“ garantiert. Dabei schützt Art. 13 GG nicht das Besitzrecht an einer Wohnung und auch nicht das Anliegen, einen Ort zum Lebensmittelpunkt zu machen und eine Heimat zu finden (vgl. BVerfGE 89,1 [12]). Die letztgenannten Interessen liegen in Teilen außerhalb des Rechts und werden grundrechtlich durch das Persönlichkeitsrecht und die Eigentumsfreiheit (Eigentum) aufgenommen. Art. 13 GG ergänzt aber – viertens – das grundlegende Bedürfnis, sich niederzulassen. Ein örtlicher Mittelpunkt des Lebens, auch eine Heimat kann kaum ohne den Schutz der räumlichen Individualsphäre gelingen.

2. Wortlaut und System des Art. 13 GG

Art. 13 Abs. 1 GG ist im typischen feststellenden Duktus des GG verfasst. Im grundrechtlichen Vergleich fallen aber ein gewisser Pathos und ein Absolutheitsanspruch auf: „Die Wohnung ist unverletzlich.“ Diese Formulierung darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass Eingriffe nicht möglich sind. Bereits die Paulskirchenverfassung von 1849 (§ 140) und die Preußische Verfassung von 1850 (Art. 6) erklärten die Wohnung – wie heute Art. 13 GG – für unverletzlich, um sodann „Haussuchungen“, „Verhaftungen“ (§ 140) sowie ein „Eindringen“ und die „Beschlagnahme von Briefen und Papieren“ bei Haussuchungen (Art. 6) zu regeln. Die Grundrechte des GG sind primär als Abwehrrechte gestaltet, die Beschränkungen allgemein abwehren. Bestimmte Beeinträchtigungen regeln sie nur in wenigen Ausnahmefällen wie der Eigentumsfreiheit, dem Brief, Post- und Fernmeldegeheimnis (Post- und Telekommunikationsgeheimnis), der Freizügigkeit und eben in Art. 13 GG. Diese ausdrücklichen Eingriffstatbestände intensivieren den Freiheitsschutz. Durchsuchungen (Art. 13 Abs. 2 GG), Abhör- und Späheingriffe (Art. 13 Abs. 3 und Abs. 4 GG), der damit einhergehende Schutz verdeckter Ermittler (Art. 13 Abs. 5 GG) und sonstige Beeinträchtigungen (Art. 13 Abs. 7 GG) müssen strenge Vorgaben erfüllen und werden durch parlamentarische Berichtspflichten flankiert (Art. 13 Abs. 6 GG).

3. Schutzbereich, Grundrechtsträger, Grundrechtsadressaten

Art. 13 GG gewährleistet die räumliche Privat- und Freiheitssphäre der Wohnung umfassend. Die geschützte Wohnung muss nicht für ein Privatleben oder als regelmäßiger Aufenthaltsort genutzt werden. Ein Anspruch auf Wohnraum kann aber aus dessen Unverletzlichkeit nicht abgeleitet werden. Geschützt werden alle eindeutig abgrenzbaren Räume, die der Einzelne nach außen erkennbar (objektives Element) Wohnzwecken widmet (subjektives Element). Art. 13 GG erfasst Häuser und Wohnungen, unabhängig davon, ob sie im Eigentum des Nutzers stehen oder von diesem nur gemietet werden. Geschützt sind auch Untermieträume, Keller, Garagen, Hotelzimmer, Hausboote, Yachten, Wohnmobile, Zelte etc. Auch sogenannte Zubehörflächen wie Höfe oder Gärten, Terrassen oder Balkone, die in einem erkennbaren Zusammenhang mit dem Wohnraum stehen, fallen in den Schutzbereich, nicht aber angrenzende Felder oder Weiden, weil diese keinen privaten Lebensraum bilden. Hinsichtlich des kontrovers diskutierten Schutzes von Betriebs- und Geschäftsräumen orientiert sich das BVerfG am Grad der Privatsphäre und Abgeschlossenheit (BVerfGE 97,228 [266]). Ein juristischer Disput besteht auch darüber, ob sich Art. 13 GG auf Telefonzellen, Parkbänke, Strandkörbe sowie Liegeplätze in einem U-Bahnhof erstreckt. Auch wenn Menschen an diesen Orten (vorübergehend) wohnen, sind die Plätze für eine unverletzliche Wohnung nicht hinreichend abgeschlossen.

Art. 13 GG schützt den Inhaber der Wohnung und damit i. d. R. den, dem das Besitzrecht zusteht. Auch gekündigte Mieter und – dies wird allerdings ebenfalls kontrovers diskutiert – Hausbesetzer können sich auf das Grundrecht berufen, wenn sie eine räumliche Privatsphäre geschaffen und die Eigentümer gegen sie keine zivil- oder strafrechtlichen Verfahren angestrengt haben. Art. 13 GG greift auch für Kinder, Übernachtungsgäste oder Personal, wenn die Wohnung ihnen im Einklang mit dem Willen des Inhabers einen privaten Rückzugsraum bietet (str.). Ein insoweit nur flüchtiger Aufenthalt etwa eines Besuchers am Tag, einer Haushaltshilfe oder eines Handwerkers begründet hingegen keine örtliche Privatsphäre i. S. d. Art. 13 GG. Das Grundrecht ist ein Jedermannsrecht, das auch für juristische Personen greift.

Art. 13 GG richtet sich gegen jegliche Art der Beeinträchtigung durch die öffentliche Hand, gegen das Betreten, technische Zugriffe auch von außerhalb durch Kameras, Mikrophone oder Online-Durchsuchungen, gegen Zweitwohnungsverbote, Raumzahlvorgaben oder einengende Regelungen der Wohnungsbeteiligung. Eine Einwilligung schließt den Eingriff aus. Bei mehreren Grundrechtsinhabern ist grundsätzlich die Zustimmung aller erforderlich.

4. Intensiver Schutz, verfassungsrechtlich geregelte Beeinträchtigungen

Alle Eingriffe in Grundrechte müssen verhältnismäßig sein (Verhältnismäßigkeit). Bei der Prüfung ist im Rahmen des Art. 13 GG dessen enger Bezug zur Menschenwürdegarantie (Menschenwürde) zu beachten (BVerfGE 109,279 [313]; unter 1.). Der so bereits gesteigerte Schutz wird durch die Absätze 2 bis 7 des Art. 13 GG weiter intensiviert. Gem. Art. 13 Abs. 7 sind Beeinträchtigungen nur zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen, auf Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung auch zur Verhütung einer dringenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (Raumnot, Seuchengefahr, Jugendschutz) zulässig. Über den Einsatz technischer Mittel sind der Bundestag und die Landesparlamente zu unterrichten (Art. 13 Abs. 6 GG). Art. 13 Abs. 5 GG regelt den Fall, dass eine in der Wohnung für die öffentliche Hand tätige Person – insb. ein verdeckter Ermittler – zu schützen ist.

Hinzu treten materielle und institutionelle Vorgaben für Durchsuchungen (Art. 13 Abs. 2 GG), Abhörmaßnahmen (Art. 13 Abs. 3 GG) und optische Überwachungen (Späheingriffe, Art. 13 Abs. 4 GG). Institutionell ist für diese Maßnahmen eine richterliche Anordnung notwendig, die bei Abhörmaßnahmen durch einen mit drei Richtern besetzten Spruchkörper zu treffen ist. Dieser präventive Richtervorbehalt erinnert an die entsprechende Voraussetzung für Freiheitsentziehungen (Art. 104 Abs. 2 GG). Bei Gefahr im Verzug dürfen Durchsuchungen sowie Späheingriffe auch durch andere Organe wie die Staatsanwaltschaft oder Polizei und Abhörmaßnahmen durch einen Einzelrichter angeordnet werden. Bei den optischen Eingriffen ist die richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen. In der Praxis wird oft die nichtrichterliche Anordnung gewählt. Das BVerfG hat dieser Praxis entgegengewirkt und die Voraussetzungen der eiligen Anordnung einer umfassenden gerichtlichen Kontrolle unterzogen. Die Gefahr im Verzug ist mit einzelfallbezogenen Tatsachen zu begründen; reine Spekulationen, hypothetische Erwägungen oder kriminalistische Alltagserfahrungen genügen nicht (BVerfGE 103,142 [151 ff.]).

Materiell dürfen Abhörmaßnahmen nur befristet, im Falle des Verdachts einer gesetzlich bestimmten bes. schweren Straftat und zudem ausschließlich dann eingesetzt werden, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise unverhältnismäßig erschwert oder aussichtslos wäre. Spähangriffe sind nur zur Abwehr einer dringenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit, insb. einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr, zulässig. Insgesamt sind akustische und optische Überwachungen nur als ultima ratio gestattet. Die Verhältnismäßigkeitsanforderungen steigern sich mit der Wahrscheinlichkeit, höchstpersönliche Informationen zu erlangen. Der Kernbereich privater Lebensgestaltung ist durch die Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) geschützt. Dies gilt auch für Berufsgeheimnisträger wie Seelsorger, Ärzte oder Rechtsanwälte. Die entsprechenden einfachgesetzlichen Regeln müssen dem Rechnung tragen (BVerfGE 109,279 [313 ff.]).