Unionsbürgerschaft (EU)

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Seit Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht zum 1.11.1993 verleiht das Unionsrecht allen Angehörigen der Mitgliedstaaten die U. (Art. 9 S. 2 und 3 EUV; Art. 20 ff. AEUV; dazu und zum Folgenden: Wollenschläger 2007/2017; 2014). Ihre Einführung fußt zum einen auf seit den Anfängen der 1970er Jahre erhobenen, wenn auch konzeptionell divergierenden Forderungen nach der Schaffung einer Europäischen Bürgerschaft; zum anderen ließ sich das schon in den Gründungsverträgen der 1950er Jahre verankerte und vom EuGH wirkmächtig entfaltete Freizügigkeitsrecht der Erwerbstätigen als Ausdruck des „Gedanken[s] einer gemeinsamen europäischen […] ‚Staats‘angehörigkeit in einer besonderen Ausprägung“ (Hallstein 1951: 18) deuten, relativierte es doch Staatsgrenzen (Grenze) und führte es zu einer weit reichenden Gleichstellung von In- und Ausländern. Die Inhaberschaft der U. folgt derjenigen der nationalen Staatsangehörigkeit. Art. 20 Abs. 2 AEUV formuliert einen Katalog von im Primär- und Sekundärrecht näher ausgestalteten Unionsbürgerrechten (s. auch Art. 43 ff., 52 Abs. 2 EuGRC). Angesichts des föderalen Charakters der EU ist die U. für die Rechtsstellung der Unionsbürger sowohl gegenüber den Mitgliedstaaten als auch gegenüber der EU relevant. Nach einer anfänglich überwiegend zurückhaltenden Bewertung firmiert die U. zwischenzeitlich in der Rechtsprechung des EuGH als „der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten“ (statt vieler: Rs. C-184/99, Rdnr. 31 – Grzelczyk). Staats- und U. stellen, entspr. dem Charakter der EU als Staaten- und Verfassungsverbund, komplementäre Angehörigkeitsverhältnisse dar.

1. Erwerb und Verlust der Unionsbürgerschaft

Art. 9 S. 2 EUV und Art. 20 Abs. 1 S. 2 AEUV knüpfen die Inhaberschaft der U. an diejenige der nationalen Staatsangehörigkeit: „Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt“. Diese Akzessorietät hat zwei Konsequenzen: Zum einen schließt sie in der EU lebende Drittstaatsangehörige aus, zum anderen weist sie die Definitionshoheit den Mitgliedstaaten und nicht (analog etwa zur Rechtslage im deutschen Bundesstaat, vgl. Art. 73 Abs. 1 Nr. 2 GG) der EU zu. Gleichwohl hat die Akzessorietät entgegen ihrer ursprünglich nationale Souveränität schonenden Stoßrichtung zu einer Beschränkung der mitgliedstaatlichen Definitionshoheit über die Staatsangehörigkeit geführt, entscheiden die Mitgliedstaaten mit der Verleihung bzw. dem Entzug der nationalen Staatsangehörigkeit doch zugleich über die Rechtsstellung als Unionsbürger. Daher unterliegt der Entzug der Staatsangehörigkeit dem (unionsrechtlichen) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (EuGH, Rs. C-135/08, Rdnr. 39 ff. – Rottmann; Rs. C-221/17, Rdnr. 29 ff. – Tjebbes); noch nicht in der Rechtsprechung geklärte und umstrittene Grenzen bestehen auch hinsichtlich der (Anerkennung der) Verleihung der nationalen Staatsangehörigkeit (zur Debatte um die investment citizenship: Bericht der Europäischen Kommission vom 23.1.2019 zu Staatsbürgerschaftsregelungen und Aufenthaltsregelungen für Investoren in der EU, COM (2019) 12 final).

2. Rechtsstellung der Unionsbürger gegenüber den Mitgliedstaaten, namentlich das Freizügigkeitsrecht

Die ursprüngliche vertragliche Ausgestaltung der U. adressierte in erste Linie die Rechtsstellung der Unionsbürger gegenüber den Mitgliedstaaten. Die U. verbürgt zunächst Unionsbürgern mit Wohnsitz im EU-Ausland eine Gleichbehandlung mit Inländern hinsichtlich des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen (Art. 22 Abs. 1 AEUV) und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament (Art. 22 Abs. 2 AEUV). Ebenso genießen sie gleichen Zugang zu diplomatischem und konsularischem Schutz in Drittstaaten, in denen der Heimatstaat nicht vertreten ist (Art. 23 AEUV).

Von zentraler Bedeutung unter den Unionsbürgerrechten ist das allgemeine Freizügigkeitsrecht (Art. 21 AEUV), das jedem „Unionsbürger […] das Recht [gewährleistet], sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten“ (Freizügigkeit). Diese durch den Vertrag von Maastricht eingeführte Garantie hat erstmals auch Nichterwerbstätigen ein primärrechtliches Freizügigkeitsrecht zuerkannt, wohingegen für ökonomisch aktive Personen eine derartige Verbürgung in Gestalt der Marktfreiheiten schon seit den Anfängen der europäischen Integration (Europäischer Integrationsprozess) existierte. Der EuGH hat es zu einer „Grundfreiheit ohne Markt“ (Wollenschläger 2007/2017) entfaltet, die auch im nicht ökonomischen Kontext ein Aufenthaltsrecht, ein Diskriminierungsverbot und ein Beschränkungsverbot verbürgt, und so einen Paradigmenwechsel im grundfreiheitlichen Integrationsprogramm bewirkt.

Um der mit einer Einbeziehung Nichterwerbstätiger in das EU-Freizügigkeitsregime einhergehenden Gefahr einer primär wohlfahrtstaatlich motivierten Migration zum Nachteil der Sozialleistungssysteme insb. der wohlhabenderen Mitgliedstaaten entgegenzuwirken, sieht das EU-Sekundärrecht (nur) für diese Personengruppe ökonomische Aufenthaltsbedingungen (ausreichende Existenzmittel und umfassender Krankenversicherungsschutz) vor – Bedingungen, die der EuGH in seiner kontroversen Rechtsprechung zur U. Ende der 1990er Jahre relativierte (Rs. C-85/96 – Martínez Sala; Rs. C-184/99 – Grzelczyk; Rs. C-413/99 – Baumbast und R) und die der Unionsgesetzgeber in ihrer Relativierung sodann mit der Freizügigkeits-RL 2004/38/EG kodifiziert hat. Diese hat ein Stufensystem eingeführt: Aufenthalte von einer Dauer von bis zu drei Monaten sind ökonomisch voraussetzungslos möglich (Art. 6 RL 2004/38/EG). Nimmt der Unionsbürger aber Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats während dieses Zeitraumes unangemessen in Anspruch, kann er ausgewiesen werden (Art. 14 Abs. 1 RL 2004/38/EG). Über drei Monate hinausgehende Aufenthalte Nichterwerbstätiger unterliegen den erwähnten Voraussetzungen (Art. 7 Abs. 1 lit. b und c RL 2004/38/EG); allerdings darf die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen gemäß Art. 14 Abs. 3 RL 2004/38/EG nicht automatisch zu einer Ausweisung führen; vielmehr ist die Zulässigkeit der letzteren von einer Verhältnismäßigkeitsprüfung abhängig (dies gilt auch nach der scheinbar restriktiveren Rs. C-333/13 – Dano). Nach regelmäßig fünfjährigem ununterbrochenem und rechtmäßigem Aufenthalt erwirbt der Unionsbürger schließlich ein Daueraufenthaltsrecht, eine wesentliche Neuerung der Freizügigkeits-RL; dieses ist – auch für Nichterwerbstätige – von keinerlei ökonomischen Voraussetzungen mehr abhängig (Art. 16 f. RL 2004/38/EG). Für alle Unionsbürger steht das Aufenthaltsrecht unter einer Beschränkungsmöglichkeit aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, Ordnung und Gesundheit, die Art. 27 ff. RL 2004/38/EG näher ausgestaltet.

Nach der auch insoweit kontrovers beurteilten Rechtsprechung des EuGH zur U. eröffnet das Bestehen des Freizügigkeitsrechts die Möglichkeit, sich im EU-Ausland auf das allgemeine Diskriminierungsverbot (Art. 18 AEUV) zu berufen und eine Gleichbehandlung mit Inländern zu verlangen; dies hat u. a. zu einer begrenzten Einbeziehung auch Nichterwerbstätiger in die Sozialleistungssysteme des Aufenthaltsstaats geführt (Rs. C-85/96 – Martínez Sala; Rs. C-184/99 – Grzelczyk; für eine sekundärrechtliche Konkretisierung Art. 24 RL 2004/38/EG). Ihr auf eine gestufte Integration zielender Solidaritätsanspruch bleibt indes hinter demjenigen Erwerbstätiger zurück.

Schließlich beinhaltet das allgemeine Freizügigkeitsrecht genauso wie die Marktfreiheiten ein Beschränkungsverbot (s. nur EuGH, verb. Rs. C-197/11 und C-203/11 – Libert u. a.).

3. Der Unionsbürger als Bürger der Union

In der ursprünglichen vertraglichen Ausgestaltung der U. betrafen die europäische Ebene nur das Petitionsrecht zum Europäischen Parlament, das Beschwerderecht zum Europäischen Bürgerbeauftragten und das Recht zur Kommunikation mit Unionsorganen und -einrichtungen in allen Amtssprachen (Art. 20 Abs. 2 Lit. d, Art. 24 AEUV) – alles zudem Rechte, die auch Drittstaatsangehörigen mit Wohnsitz in der EU zustanden (vgl. Art. 227 f. AEUV; Art. 2 VO Nr. 1/1958). Demgegenüber akzentuiert der am 1.12.2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon in seinen Bestimmungen über die „demokratischen Grundsätze“ (Titel II) auch die Rolle des Unionsbürgers als Bürger der Union. So setzt sich das Europäische Parlament seitdem aus „Vertretern der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger zusammen“ (Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 EUV), womit diese als (Mit-)Legitimationssubjekt des europäischen Gemeinwesens aufscheinen. Aufgrund der doppelten Legitimationsstruktur der EU (vgl. Art. 10 Abs. 2 EUV) steht dieser Legitimationsstrang freilich neben der Legitimationsvermittlung über die Mitgliedstaaten (Rat der Europäischen Union als Mitgesetzgeber). Überdies gewährleistet Art. 10 Abs. 3 S. 1 EUV den Unionsbürgern „das Recht, am demokratischen Leben der Union teilzunehmen“. Ausdruck hiervon ist die ebenfalls mit dem Vertrag von Lissabon neu eingeführte Bürgerinitiative (Art. 11 Abs. 4 EUV, Art. 24 UAbs. 1 AEUV).