Traditionalismus

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1. Begriff

Unter T. versteht man über die Orientierung an Tradition bzw. Traditionen hinaus die Behauptung der überzeitlichen Geltung bestimmter Traditionen, die jeglicher Veränderung und Neuinterpretation entzogen erscheinen und als „stillgestellte Tradition“ (Pottmeyer 1991: 95) gekennzeichnet werden können. Der T. ist insofern ein modernes Phänomen, als er die für die Moderne charakteristische prinzipielle Infragestellung von Traditionen zur Voraussetzung hat. Phänomene des T. lassen sich entspr. unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen in allen kulturellen und religiösen Traditionen beobachten. Hinsichtlich des katholischen T. lässt sich eine ältere, unmittelbar gegen die Französische Revolution gerichtete Ausprägung von einem neueren T. als Reaktion auf das Zweite Vatikanische Konzil unterscheiden.

2. Die Ursprünge des Traditionalismus in der Restaurationsphilosophie

Der ältere T. antwortet auf den gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Umbruch, der mit der Französischen Revolution einhergeht. Dem Vernunftglauben der Aufklärung und der Deklarierung von Menschenrechten für den Einzelnen durch die Akteure der Revolution setzt er die Behauptung einer geheiligten Tradition als Grundlage von Wahrheit und Legitimität entgegen. Joseph de Maistre und Louis Gabriel Ambroise de Bonald sehen die Tradition letztlich in einer Uroffenbarung Gottes begründet, die von Generation zu Generation weitergegeben werden muss. Wie die Sprache geht sie dem Einzelnen voraus und kann nur gelernt und übernommen werden. Als Träger des Tradierungsprozesses kommt nicht der Einzelne, sondern nur die Gesellschaft als Ganze in Frage. Die Uroffenbarung erfährt bei L. G. A. de Bonald ihre Verifizierung in der universalen Vernunft der Menschheit und keineswegs durch die individuelle Vernunft des Einzelnen. Die höchste Autorität besitzen Religion und Kirche. Zusammen mit dem absoluten Staat sind sie in der Lage, durch die Unterdrückung „des ungerechten partikularen Willens“ (Spaemann 1959: 123) die Freiheit zu garantieren. Dem Papst und seiner Unfehlbarkeit kommen dabei für J. de Maistre eine entscheidende Rolle als Quelle der Autorität zu. Die Verurteilung des T. durch das päpstliche Lehramt und das Erste Vatikanische Konzil betreffen dessen radikale Absage an die Vernunft (Vernunft – Verstand) als Quelle von Wahrheit und Gottesglaube und die Annahme einer auch der Kirche entzogenen Kollektivvernunft.

3. Der Traditionalismus als Reaktion auf das Zweite Vatikanische Konzil

Die traditionalistische Gedankenwelt des 19. Jh., die Protestantismus, Aufklärung und die Französische Revolution in einer Linie sieht und als Bruch mit der katholischen Tradition brandmarkt, bleibt auch im 20. Jh. virulent. Sie speist die von Erzbischof Marcel Lefebvre angeführte traditionalistische Bewegung, die zentrale Aussagen und Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht anerkennt und zu einem bis heute ungelösten Konflikt in der nachkonziliaren katholischen Kirche geführt hat. Primäre Bezugsgröße des T. ist die katholische Kirche des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jh. Seit Papst Pius IX. hatte sie im Abwehrkampf gegen den Umbruch zur Moderne eine spezifische dogmatische und organisatorische Gestalt angenommen. Scharfe Verurteilungen der Päpste betrafen nicht nur die Religionsfreiheit und die Deklaration der Menschenrechte, sondern auch alle Versuche katholischer Philosophen und Theologen, auf eine Versöhnung mit der liberalen Ideenwelt (Liberalismus) hinzuarbeiten. Mit einem Höhepunkt unter dem Pontifikat Pius X. (1903–14) wurden alle Bemühungen um eine Öffnung des strikten Kirchenkurses der Abwehr als Modernismus deklariert und in aller Schärfe bekämpft. Die von Erzbischof M. Lefebvre gegründete Priesterbruderschaft trägt nicht zufällig den Namen Pius X. Hier geht man davon aus, dass mit zentralen Beschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils die Ideen der Französischen Revolution einen siegreichen Einzug in die Kirche selbst gehalten hätten. So entspreche die Religionsfreiheit der liberté, die Kollegialität der egalité und der Ökumenismus der fraternité. Gleichzeitig richtet sich die Kritik des T. auf die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils, durch die die einzig wahre vorkonziliare Liturgie der katholischen Kirche verdrängt würde. M. Lefebvres extremer T. und seiner Priesterbruderschaft führte zum Bruch mit der katholischen Kirche, als ohne Erlaubnis Roms nicht nur Priester, sondern auch drei Bischöfe geweiht wurden. Wie schwer sich die Päpste mit der Verurteilung M. Lefebvres und seiner Priesterbruderschaft tun, zeigt sich nicht nur an den vielen Versöhnungsversuchen, sondern auch daran, dass Papst Benedikt XVI. im Jahr 2009 die Exkommunikation der drei illegitim geweihten Bischöfe ohne kirchenrechtlich vorgeschriebene Zeichen der Reue wieder aufhob. Die Auseinandersetzungen stehen in einem engen Zusammenhang mit dem innerkirchlichen Kampf um eine angemessene Hermeneutik der Konzilsbeschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils. Von einem „gemäßigten T.“ lässt sich sprechen, wo diese strikt im Licht der Beschlüsse des Ersten Vatikanischen Konzils interpretiert werden. Über die Minderheit der Konzilsväter, der auch Erzbischof M. Lefebvre angehörte, hat der gemäßigte T. Eingang in die Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils gefunden. Auch wo man sich bei der Umsetzung des Konzils strikt am Kompromisscharakter vieler Konzilsbeschlüsse orientiert und nachkonziliare Weiterentwicklungen zurückweist, nähert man sich dem T. an. Deshalb kann es nicht überraschen, dass Benedikt XVI. als Befürworter einer „Hermeneutik der Reform“ (Benedikt XVI. 2005: 11) bis heute die katholischen Traditionalisten der Piusbruderschaft um fast jeden Preis in die Kirche zurückholen möchte.