Tierethik

Version vom 14. November 2022, 06:00 Uhr von Staatslexikon (Diskussion | Beiträge) (Tierethik)
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1. Begriff

T. ist Ethik, die nach einem angemessenen Umgang des Menschen mit dem Tier fragt. Sie kann eine eigene Bereichsethik sein, wie es sie seit den 1970er Jahren gibt. Sie kann aber auch Querschnittsmaterie von Bereichsethiken oder ethischen Ansätzen sein, insofern diese Auswirkungen auf Tiere reflektieren. Als solche kommt sie seit der Antike vor. Im engeren Sinne kann man von T. erst sprechen, wenn dem Tier direkt ein moralischer Status a priori zugestanden wird, wenn es also um seiner selbst willen Beachtung findet. Ist dies nicht der Fall und kommt das Tier nur indirekt um des Menschen willen in den Blick, lässt sich bestenfalls in einem weiten Sinn von T. sprechen.

Wie die meisten Bereichsethiken ist auch die T. im 21. Jh. nicht ohne den Kontext der globalisierten Ökonomie zu denken. Das gilt unmittelbar einleuchtend für die kommerzielle Tiernutzung, betrifft aber ebenso die Heimtierhaltung und den Umgang des Menschen mit Wildtieren.

2. Tierethik in der Bibel

Die Bibel gibt den Tieren breiten Raum und weist zudem eine Fülle tierethischer Normen auf. In den Schöpfungserzählungen (Gen 1–9) wird die große Nähe und Ähnlichkeit zwischen Mensch und Tier dargestellt. Beide sind unmittelbar von Gott geschaffen und teilen Lebensräume und Nahrung der Erde (Gen 1). Beide sind von der Erde genommen, mit dem Lebensatem beschenkt und kehren zum Staub der Erde zurück (Gen 2–3). Beide sitzen im selben Boot und können nur miteinander überleben (Gen 6–8). Beide sind Bundesgenossen Gottes und haben damit moralischen Status (Gen 9). Sie müssen gerecht behandelt werden. Der Mensch übernimmt dabei als Stellvertreter (Hirte, Haushalter, „Ebenbild“) Gottes die Verantwortung dafür, dass allen Geschöpfen der ihnen zustehende Lebensraum auch wirklich zukommt. Die Tiere sind ihm zur Fürsorge anvertraut, er darf ihnen Namen geben (Gen 2).

In den Rechtsnormen der Tora, insb. im Gebot der Sabbatruhe, genießt das Tier einen ähnlichen Rechtsschutz wie sozial schlecht gestellte Menschen. So kommt darin ein starkes Mitgefühl mit den Tieren zum Ausdruck, wie es auch die narrativen Texte der Bibel prägt. Von Bedeutung ist, dass sowohl das AT als auch das NT die Tiere in die Erlösungsvorstellungen einbezieht. Nach Jes 11 u. a. nehmen sie teil am messianischen Friedensreich, in dem Wolf und Lamm, Kuh und Bärin, Säugling und Natter beieinanderwohnen. Nach Röm 8 sollen sie wie der Mensch „zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes“ gelangen. Während Mensch und Tier auf Erden in Konkurrenz zueinander stehen und diese nur durch Gerechtigkeit auffangen können, verheißt die Bibel in der Vision vom Schöpfungsfrieden, dass diese Konkurrenz einem friedlichen Miteinander in der Fülle des Lebens Platz machen wird.

3. Tierethik in der antiken Philosophie

Im Gegensatz zur Bibel ist die Position des Tieres in der griechischen Philosophie weitaus prekärer. „Seit ca. 400 und besonders gern im Hellenismus und in der römischen Kaiserzeit werden die Tierethiken […] als ἄλογα [aloga] bezeichnet: Sie sind die Lebewesen ohne Logos, also sprachlose und dann auch vernunftlose Wesen.“ (Dierauer 1998: 1196) Mit Diogenes von Apollonia und Sokrates taucht der Gedanke auf, Tiere seien nur um des Menschen willen geschaffen. Auf diese Weise setzt sich eine materiale Anthropozentrik durch, die dem Tier keinen moralischen Status um seiner selbst willen zuerkennt. Zwar gehen manche von einer Seelenwanderung zwischen Mensch und Tier aus (Pythagoras, Platon u. a.) oder betonen die Fähigkeit der Tiere, Lust und Schmerz zu empfinden (Aristoteles), doch eine größere Ähnlichkeit zwischen Mensch und Tier und eine Denkfähigkeit der Tiere nehmen nur wenige an (Theophrast, Porphyrios, Straton, Karneades, Plutarch). Mit der Stoa, die den Graben zwischen dem vernunftfähigen Menschen und dem vernunftlosen Tier am breitesten zieht, neigt sich die Waagschale endgültig zugunsten einer strikten Anthropozentrik.

4. Tierethik vom frühen Christentum bis zur Gegenwart

Gestützt durch die Bibel lebt die griechische Minderheitenposition, die den Tieren moralischen Status um ihrer selbst willen zugesteht, auch in der Kirche weiter. Bes. im Mönchtum gewinnt sie – teilweise noch bis heute – starken Rückhalt. Die Gesamtkirche hingegen folgt der Position Augustinus’, der die griechische Mehrheitsmeinung von den vernunftlosen Tieren vertritt und ihnen anders als Paulus keinen Platz im Himmel einräumt. Mehr und mehr sickert in kirchliches Lehren und theologisches Denken diese material anthropozentrische Position ein, die die biblischen Impulse übersieht bzw. in ihrem Sinne umdeutet. Bis weit in die Neuzeit hinein bleibt sie dominant.

Die Wende beginnt mit Jeremy Bentham und dem Utilitarismus. Für ihn ist nicht entscheidend, ob Tiere denken oder sprechen können, sondern ob sie fühlen, Lust und Schmerz empfinden können (Pathozentrik). Gemäß dem utilitaristischen Ziel, „das größte Glück der größten Zahl“ zu befördern, sei der Mensch verpflichtet, alle schmerzempfindenden Wesen in seiner Urteilsbildung zu berücksichtigen. Die schmerzfreie Tötung von Tieren ist im Utilitarismus aber nicht prinzipiell verboten. Das gilt auch für den gegenwärtig einflussreichsten utilitaristischen Tierethiker, Peter Singer. Zwar lehnt er die Tiertötung auf Grund der Massentierhaltung ab, ein prinzipielles Argument gegen sie hat er aber nicht in der Hand.

Gegenspieler P. Singers und des Utilitarismus ist die Tierrechtsethik von Tom Regan. Sie erkennt intelligenten Tieren den Status von „Subjekten eines Lebens“ (Regan 1983: 243) zu, die umfassende Rechte besitzen, u. a. das Recht auf Leben und körperliche Integrität, das nur in Notwehr suspendiert werden darf. T. Regan verbindet den Subjektstatus der intelligenteren Tiere mit einem Verbot ihrer Nutzung und fordert deswegen eine völlige Abschaffung der Tierwirtschaft.

Ausgehend von der Debatte zwischen P. Singer und T. Regan werden gegenwärtig eine Reihe weiterer Ansätze der T. entwickelt. Sie reichen von feministischen (Lori Gruen) und pragmatistischen (Cora Diamond, Alice Crary) zu kontraktualistischen (Mark Rowlands) und relationistischen (Elisabeth Anderson, Clare Palmer) Modellen. Ihr Pluralismus ist innerhalb weniger Jahrzehnte enorm gewachsen.

5. Systematische Überlegungen

Eine moderne, biblisch inspirierte T. wird sich auch um der Kompatibilität mit den gängigen Tierschutzgesetzen willen im Rahmen klassischer Gerechtigkeitstheorien bewegen. In ihr haben Tiere einen „Eigenwert“ (Paul Taylor, Friedo Ricken, Papst Franziskus in der Enzyklika „Laudato si’“) bzw. eine „Würde“ (Andrew Linzey, Hans Münk, Michael Rosenberger), weil sie Träger eigener Güter sind und ein praktisches Selbstverhältnis aufweisen (philosophisch) bzw. als Mitgeschöpfe Gottunmittelbarkeit besitzen und in die Erlösung einbezogen sind (theologisch). Sie dürfen daher niemals bloß als Mittel für menschliche Zwecke behandelt werden, sondern sind um ihrer selbst willen anzuerkennen. Das verbietet weder ihre Nutzung noch ihre Tötung, verpflichtet aber zu einer unparteilichen Abwägung ihrer Güter. Erfordernisse von Ökosystemen und Wirtschaftssystemen spielen darin eine Rolle und können im Grenzfall Vorrang beanspruchen, sofern das Einzelwohl von Mensch und Tier durch sie erst ermöglicht wird (Gemeinwohlprinzip, Gemeinwohl). Sie sind aber keine Legitimation für die gegenwärtige, eindeutig ungerechte Ausbeutung zahlloser Tiere. Das Gerechtigkeitspostulat für Tiere in die Praxis umzusetzen erfordert fundamentale Reformen.