Theater

Version vom 8. Juni 2022, 08:08 Uhr von Staatslexikon (Diskussion | Beiträge) (Theater)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)

1. Begriff – Definition und Geschichte

Der Begriff T. bezeichnet Ereignisse, die durch das Zusammenwirken zweier Gruppen von Personen zustande kommen – Handelnden und Zuschauenden. Der Begründer der deutschen T.-Wissenschaft, Max Herrmann, definiert T. als „ein soziales Spiel […] – ein Spiel Aller für Alle. Ein Spiel, in dem alle Teilnehmer sind, Teilnehmer und Zuschauer. […] Das Publikum ist als mitspielender Faktor beteiligt. […] Es ist beim Theater immer eine soziale Gemeinde vorhanden“ (Herrmann 1920: 19). Weitergehende Bestimmungen sind kultur-, zeit-, orts- und milieuabhängig. Darüber hinaus wird der Begriff für spezifische Bauwerke und Räume verwendet, in denen sich „etwas des Zeigens Würdiges ereignet“ (Rusterholz 1970: 15). Nicht zuletzt bezieht er sich auch auf ein bestimmtes Verhalten, mit dem eine Person auf unangemessene Weise die Aufmerksamkeit anderer auf sich zieht („Mach nicht so ein T.!“).

Der Begriff geht auf den griechischen Terminus theatron zurück. Er bezeichnet ein spezifisches Sitzarrangement für die Versammlung der Athener Bürger bei Festen, kultischen, sportlichen und anderen Veranstaltungen – den Ort, von dem man schaut. Das Gleiche gilt für den lateinischen Terminus theatrum. In den deutschsprachigen Ländern wurde er bis ins 17. Jh. hinein für jeglichen erhöhten Schauplatz verwendet, auf dem etwas des Schauens Würdiges gezeigt wurde.

Im 17. Jh. fand der alte Topos vom theatrum mundi bzw. theatrum vitae humanae erneut weite Verbreitung. In ihm ist Gott nicht lediglich als derjenige vorausgesetzt, der die gesellschaftlichen Rollen verteilt, sondern v. a. als der Zuschauer, der das Spiel der Agierenden auf der Bühne der Welt anschaut, bewertet und entspr. belohnt oder bestraft.

Gegen Ende des 18. Jh. trat eine allmähliche Verengung des Begriffs ein. Er verwies von nun an bis gegen Ende des 19. Jh. v. a. – wenn auch nie ausschließlich – auf das institutionelle T., in dem professionelle Schauspieler Texte – welcher Art auch immer – zur Aufführung brachten.

Eine wesentliche Veränderung des Begriffs wurde zu Beginn des 20. Jh. durch die historischen Avantgarde-Bewegungen bewirkt. Zum einen verengten sie ihn ausdrücklich auf einen rein ästhetischen Begriff, der nur auf T. als eine spezifische autonome Kunst anwendbar ist – eine Kunst, die, wie Edward Gordon Craig erläutert, durch ihr Material bestimmt wird, das vom Material jeder anderen Kunst grundsätzlich verschieden ist. Zum anderen erhoben sie die Forderung, die Kluft zwischen Kunst und Leben zu schließen und T. in Wirklichkeit zu überführen. Daraus resultierte eine enorme Erweiterung des T.-Begriffs. Er wurde allmählich auf die verschiedensten kulturellen Bereiche ausgedehnt und entspr. ständig erweitert. Er fand auf jede Art Ausstellungs-, Demonstrations- und Spektakelereignis Anwendung. Seit den 1970er Jahren untersucht die T.-Wissenschaft diese Entwicklung. Für weitere Neuorientierungen lieferte die Auseinandersetzung mit der Performance-Kultur der 1960er und 1970er Jahre, die Hinwendung zum T. außereuropäischer Kulturen, das bis dahin als Domäne der Ethnologie galt, begriffsgeschichtliche Untersuchungen zu „T.“ sowie die Einsicht in die zunehmende Theatralisierung unserer Gegenwartskultur wichtige Impulse. Von nun an galt: Wo jemand sich, einen anderen oder etwas zur Schau stellt oder darstellt oder die Darstellung selbst zur Schau stellt, sich oder andere bewusst den Blicken anderer aussetzt, wird von „T.“ gesprochen.

2. Theater und Gesellschaft

Wie aus der Definition des Begriffs abzuleiten, stellt T. per se ein soziales Phänomen dar. Dies gilt sowohl, wenn seine Aufführungen einen festen und häufig hervorgehobenen Bestandteil von religiösen, politischen, sportlichen u. a. Festen bilden – wie z. B. im antiken Griechenland, im europäischen Mittelalter oder bei Partei- und Gewerkschaftsfesten im 20. Jh. – als auch, wenn sie jenseits eines außer ihnen liegenden Anlasses als autonome Kunst stattfinden.

Wegen seines implizit sozialen Charakters haben unterschiedliche soziale Gruppen es sich angeeignet, um es für ihre jeweiligen Zwecke zu nutzen. Bezogen auf Europa gilt das für das religiöse T. des Mittelalters – die geistlichen Spiele, die zu hohen christlichen Feiertagen (Sonn- und Feiertage) aufgeführt wurden und sich z. T. über mehrere Tage hinzogen, wie häufig die Passionsspiele – ebenso wie für das höfische T. In Opernaufführungen wurden – meist in mythologischer Form – bestimmte politische Botschaften formuliert oder in Tragödien- und Komödienaufführungen spezifische höfische Werte vermittelt sowie „unhöfisches“ Verhalten dem Gelächter preisgegeben. Das bürgerliche T., das sich in deutschen Staaten im 18. Jh. herausbildete, diente „als moralische Anstalt“ (Schiller 1784) der Übermittlung bürgerlicher Werte, die auf die Familie oder die Empathiefähigkeit des Einzelnen oder anderes zielte. Das sog.e Volks-T. – zunächst als Jahrmarkts-T., später dann in speziellen T.-Gebäuden – diente bis zum Ende des 19. Jh. überwiegend der Unterhaltung – dem Erstaunen und der Belustigung –, ehe es im 20. Jh. politische Funktionen (Politik) übernahm. Erwin Piscators politisches T. in den 1920er Jahren, das Massen-T. in den ersten Jahren nach der russischen Revolution sowie die unterschiedlichen Formen von politischem T., wie sie v. a. seit den 1960er Jahren in den verschiedensten Weltregionen mit je anderen Zielsetzungen entstanden – darunter ganz prominent postkoloniales T. (Postkolonialismus) – stellen bis heute den bes.n Bezug des T.s zur Gesellschaft eindrucksvoll unter Beweis.

Dieser Bezug ist im deutschsprachigen Raum seit dem 18. Jh. immer wieder von Philosophen und Soziologen aufgegriffen und im Hinblick auf ihr Verständnis von Gesellschaft produktiv gemacht worden. So heißt es bereits in Immanuel Kants Schrift „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“: „[…] die Menschen sind insgesamt, je civilisirter, desto mehr schauspieler“ (Kant 1975: 42). Im Zuge der Veränderungen des T.-Begriffs durch die historischen Avantgarde-Bewegungen wird das Rollenspiel des Schauspielers pointiert zum sozialen Rollenspiel in Beziehung gesetzt. So begreift Georg Simmel das soziale Rollenhandeln (Soziale Rolle) als eine Vorform des Rollenspiels auf dem T.: „Nun ist das nicht gleich eine für sich stehende Kunstleistung […] Das ‚Spielen einer Rolle‘ […] gehört zu den Funktionen, die unser tägliches Leben konstituieren“ (Simmel 1968: 79). Hellmuth Plessner entwickelte in den 1920er Jahren die Idee von der „exzentrischen Position des Menschen“ (Plessner 2016: 417), die er später zu einer „Anthropologie des Schauspielers“ (Plessner 2016) weiter ausarbeitete: Der Mensch tritt sich/einem anderen gegenüber, um ein Bild von sich als einem anderen zu entwerfen, das er durch die Augen eines anderen oder in den Augen eines anderen reflektiert sieht. In beiden Theorien erscheint der Schauspieler als Inbegriff des Menschen als eines sozialen Wesens und entspr. T. als der Ort, an dem er sich als ein solches soziales Wesen zur Schau stellt und den Zuschauer herausfordert, sich in ihm als ein soziales Wesen zu spiegeln und dabei zugl. die Beziehung zwischen Schauspieler und Zuschauer als eine soziale Grundbeziehung zu erfahren und zu begreifen.

3. Theater als Kunst

In der zweiten Hälfte des 18. Jh. wurde in deutschsprachigen Ländern zunehmend der Kunstcharakter (Kunst) von T. herausgestellt, der keineswegs nur in den zur Aufführung gebrachten Texten, sondern auch in der Schauspielkunst als einer Kunst eigener Art lokalisiert wird. Bereits in Gotthold Ephraim Lessings „Hamburgischer Dramaturgie“ (1767/68) wird wiederholt auf die Kunst des Schauspielers verwiesen. 1785/86 erschien die zweibändige Ausgabe der „Ideen zu einer Mimik“ des Philosophen Johann Jakob Engel. In ihr wird minutiös der Nachweis geführt, dass und inwiefern die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen aufbauende neue Schauspielkunst – v. a. im Hinblick auf die Darstellung von Emotionen – als eine Kunst sui generis zu begreifen sei.

Nach der Französischen Revolution nahm die Diskussion um Funktion und Fähigkeit der Kunst im Allgemeinen und T. im Besonderen eine neue Wendung. In seinen „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1795) entwickelte Friedrich Schiller die Idee, „daß man, um jenes politische Problem [der Freiheit] zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muß, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert“ (Schiller 1795: 12). Wie der Terreur gezeigt habe, sei es der Revolution nicht gelungen, die im Prozess der Zivilisation verlorene Ganzheit des Menschen wiederherzustellen. Dies vermöge nur die Kunst, denn sie sei imstande, Formtrieb und Stofftrieb, die gewöhnlich miteinander in Streit lägen, im Spieltrieb (Spiel) zu versöhnen: „Der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und soll nur mit der Schönheit spielen. Denn […] der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ (Schiller 1795: 87 f.).

Während F. Schiller T. als Kunst als den Weg zu politischer Freiheit, zu einem freien Staat betrachtete, entwickelte Johann Wolfgang von Goethe das Weimarer Hof-T. zu einer Institution, die es dem Einzelnen – Schauspieler wie Zuschauer – ermöglichen sollte, sein je eigenes Potential voll zu entfalten – also sich zu bilden. T. als Kunst wurde entspr. als eine Institution der Bildung verstanden. Obwohl T. in den meisten deutschen Städten und Höfen immer auch – teilweise sogar überwiegend – als Unterhaltungs-T. fungierte, setzte sich die Vorstellung von T. als einer Institution der Bildung im Laufe des 19. Jh. durch. Entspr. galt es v. a. als eine Institution des Bildungsbürgertums.

Um diese Möglichkeit der Bildung auch den Angehörigen der Arbeiterklasse zu eröffnen, wurde 1890 der Verein Freie Volksbühne Berlin gegründet. § 1 seiner Satzung lautet: „Der Verein Freie Volksbühne stellt sich die Aufgabe, die Poesie in ihrer modernen Richtung dem Volk vorzuführen und insbesondere zeitgemäße, von Wahrhaftigkeit erfüllte Dichtungen darzustellen, vorzulesen und durch Vorträge zu erläutern“. Die Vorstellungen fanden an Sonntagnachmittagen statt. Man eröffnete mit Henrik Ibsens „Stützen der Gesellschaft“ (1877) und fuhr mit Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ (1889) fort. Die Freie Volksbühne verstand sich weniger als ein direkter Beitrag zum Klassenkampf denn als Institution, die es den Arbeitern ermöglichen sollte, Bildung zu erwerben – und über diesen Weg zur Emanzipation zu gelangen.

Auch wenn T. als autonome Kunst häufig als Gegensatz zu politischem oder auch didaktischem T. begriffen wird, stellte bereits F. Schiller klar, dass die Autonomie der Kunst die Voraussetzung dafür darstellt, dass sie letzten Endes einem Ziel außerhalb ihrer selbst dienen kann – der Ermöglichung politischer Freiheit und/oder der Bildung des Einzelnen. T. als Kunst ist insofern per se politisch. Seit den historischen Avantgarde-Bewegungen hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass im T. als einer Kunstform, die sich nur in einer sozialen Situation entfalten kann – in der leiblichen Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern –, die jeweilige Ästhetik bzw. das Ästhetische immer schon politisch ist. Sei es die seit den 1920er Jahren von Erwin Piscator oder Bertolt Brecht entwickelte Ästhetik, sei es die seit den ausgehenden 1940er Jahren von Julian Beck und Judith Malina (The Living Theatre) oder die seit den 1980er Jahren entstandene und auf Einar Schleef zurückgehende neue Form eines chorischen T.s, in allen diesen wie in vielen anderen Beispielen ist es gerade das Ästhetische, welches imstande ist, politische Wirkung zu entfalten. T. als Kunst stellt in diesem Sinn immer zumindest ein Politikum dar.