Symbolische Politik

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Das Symbolische war zu allen Zeiten Bestandteil menschlicher Kommunikation. Insofern ist s. P. als Politik der Zeichen (insb. in Form von Begriffen und Slogans, Abzeichen, Fahnen und Bildern, Gesten, Ritualen und Inszenierungen) keine Erfindung der modernen Mediengesellschaft. Globale Reichweite und universale Nutzung v. a. elektronischer Plattformen haben allerdings den Wirkungsgrad beim Einsatz symbolischer Mittel in einer historisch nie da gewesenen Weise erhöht.

S. P. umschreibt ein politisches Phänomen, das im allg.en Sprachgebrauch anders besetzt ist als in der Fachsprache, nämlich als polemische Formel. Sie steht für politische Täuschungshandlungen, die von der politischen Realität ablenken; eine Art Politiksurrogat, das sich von materieller Politik unterscheidet. Materielle Politik realisiere sich demgegenüber in überprüfbaren Entscheidungen (z. B. Gesetze, Verträge, Steuern etc.). S. P. und materielle Politik können Verbindungen eingehen. Das inzwischen verfestigte, vorwiegend negative Verständnis s.r P. entspricht nicht ihrer insgesamt differenzierteren Sicht in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Danach bedeutet s. P. den strategischen Einsatz von Zeichen, um den politischen Orientierungsbedarf in der Gesellschaft zu bedienen. Durch s. P. können Aufmerksamkeit geweckt, der Eindruck politischer Handlungsbereitschaft vermittelt und Loyalität oder Protest zum Ausdruck gebracht werden. Dabei wird das symbolische Kapital der Zeichen in politische Macht konvertiert.

Aus kulturtheoretischer Perspektive ist das Symbolische für soziale Realität konstitutiv. Symbolisches bildet Wirklichkeit nicht ab und steht auch nicht lediglich in Stellvertretung ihrer Gegenstände, sondern wird zum Vehikel für die Vorstellung von Wirklichkeit. Es trägt zum sinnhaften Aufbau der Welt (Ernst Cassirer) bei. Als Bestandteil politischer Kommunikation zielt s. P. nicht allein auf Benennung und Deutung. Vielmehr findet mit den Mitteln s.r P. der Wettbewerb um Benennungsmacht und politische Deutungshoheit seinen Ausdruck. S. P. stellt nicht lediglich eine Spielart und auch nicht notwendigerweise eine Verfallsform politischer Kommunikation dar. Ebenso wenig sollte sie als schmückendes ästhetisches Beiwerk oder als ideologischer Ballast im Gegensatz zu vermeintlich realer Politik missverstanden werden. S. P. war schon immer und bleibt integraler Bestandteil von politischer Kommunikation und damit von Politik überhaupt. S. P. beschränkt sich auch nicht auf demonstrative Staatsakte, auf nationale Gedenkveranstaltungen (Erinnerungskultur) oder große Manifestationen. Als kommunikatives Universalphänomen entfaltet sie ihre Bedeutung auf allen Ebenen der Politik. Denn „Politik pur“ gibt es nicht. Vielmehr kommt gerade in s.r P. zum Ausdruck, dass Politik stets in der Doppelrealität von Ereignis und Deutung, von Nennwert und Symbolwert vermittelt und wahrgenommen wird.

Zur internationalen und deutschen Debatte über s. P. hat Murray Edelman mit seinen Schriften „The Symbolic Uses of Politics“ und „Politics as Symbolic Actions“ sowie „Constructing the Political Spectacle“ einen entscheidenden Anstoß gegeben. Er knüpft an Grundannahmen der interaktionistischen (George Herbert Mead) und interpretativen Soziologie an und fordert die Erweiterung normativer und institutioneller Politikkonzepte durch die affektive und evaluative Seite des Politischen. M. Edelman begreift politische Handlungen als Handhabung bestimmter Rollen, die in dramatisierter, inszenierter oder symbolisierter Form ihren Ausdruck finden. Mit Verweis auf Walter Lippmanns (zuerst 1922) klassische Studie zur öffentlichen Meinung beurteilt er Politik als zu komplex, um unmittelbar erfasst zu werden. Die Betrachtung einer dramatischen symbolischen Szenerie von Abstraktionen trete an die Stelle des Bedürfnisses, die Verhältnisse zu ändern. Mit Bildern, Inszenierungen, Symbolen entstehe ein „Panoptikum“. Diese Ersatzwelt könne auf eine objektive Wirklichkeit verweisen („Verweisungssymbole“). Demgegenüber täuschten „Verdichtungssymbole“ (Edelmann 1976: 5) über die erfahrbare Wirklichkeit hinweg. Öffentlich vermittelte Politik werde zum Ritual, zu einem politischen Zuschauersport. S. P. sei ein Instrument der Manipulation durch politische Eliten.

Im Zuge einer inzwischen intensiven Beschäftigung mit politischer Kommunikation, Merkmalen der Inszenierung, politischen Ritualen, dem Spannungsverhältnis von „Entscheidungs- und Darstellungspolitik“ und vielem anderem mehr ersuchen die Sozialwissenschaften die Bedeutung und auch die Probleme s.r P. für die Legitimationsbeschaffung (Legitimation) im demokratischen System, wie überhaupt in politischen Systemen, zu untersuchen. Wahlkämpfe sind dabei ein bevorzugt beforschtes Kommunikationsereignis. Als bes. schwierig erweist sich, die spezifische Bedeutung des Symbolischen im politischen Kommunikationsprozess herauszuarbeiten, empirisch zu quantifizieren und zu qualifizieren. Maßgeblich dafür ist, dass der Unterscheidung zwischen Politik und Kommunikation primär ein analytischer Charakter zukommt, weil Politik weithin als Kommunikation begriffen werden muss. Zudem hat es Politik vielfach mit Kollektivakteuren und Institutionen zu tun, die selbst als symbolische Ordnungen ein zentrales Element bei der Herstellung, Stabilisierung und Wandlung sozialer Beziehungen darstellen.

S. P. ist dann erfolgreich, wenn sie ein spezifisches Repertoire aktualisiert, das an die jeweilige politische „Deutungskultur“ (Rohe 1987: 42) bzw. an den „symbolischen Raum“ (Bourdieu 2006) anschlussfähig ist. S. P. als Pseudopolitik erweist sich als Spezialfall eines basalen Aspekts politischen Handelns, das stets instrumentelle und expressive Anteile hat. Dabei können vier Grundfunktionen s.r P. unterschieden werden:

a) S. P. hat Signalfunktion, schafft Aufmerksamkeit, durchbricht Informationsroutinen, stiftet Ordnung in der Wahrnehmung von Politik und trägt damit zur Verhaltenssicherheit bei.

b) Durch Komplexitätsreduktion bietet sie ein Regulativ für die Bewältigung von unübersehbaren Informationsmengen.

c) S. P. zielt nicht nur auf die Benennung politischer Sachverhalte, sondern ist Teil des politischen Kampfes um Benennungsmacht.

d) Schließlich spricht s. P. durch die Wahrnehmung des Symbolischen im Modus suggestiver Unmittelbarkeit nicht nur die Ratio an, sondern mobilisiert auch Emotionen.

S. P. ist selbst Politik und nicht nur Darstellung von Politik. Als solche bleibt sie ein ambivalentes Phänomen. Publizistische Periodizität, mediale Dauerpräsenz und v. a. die Eindrücklichkeit visueller Darstellungsmöglichkeiten über das Internet bieten einen unbegrenzten Resonanzboden für die Vermittlung und Wirkung „symbolischer Macht“ (Bourdieu 1991: 99). Verstärkt wird die Wirkungsmacht dadurch, dass mit den sog.en Sozialen Medien (Social Media) eine Medienwelt entstanden ist, die sich der kritischen Öffentlichkeit weitgehend entzieht.

Nicht die Existenz s.r P. ist in Frage zu stellen, sondern deren Qualität. S. P. bleibt ein Kommunikationsmodus, der – v. a., aber nicht nur – auf der „Vorderbühne“ der Politik eingesetzt wird. Mitentscheidend für politischen Erfolg wird sein, wer unterschiedliche „Bühnen“ bespielen kann und sich dabei auch s.r P. in angemessener Weise zu bedienen weiß.