Supranationalität

1. Begriff

Aus dem Lateinischen „supra“ (über) und „natio“ (Volksstamm, Staat) zusammengesetzt, soll S. in der Rechtswissenschaft (v. a. im Völkerrecht und Europarecht) und in der Politikwissenschaft (Lehre von den internationalen Beziehungen) eine von den jeweiligen Nationalstaaten geschaffene, ihnen übergeordnete Ebene bezeichnen. Eine Legaldefinition existiert nicht, sieht man von der urspr.en Fassung des Art. 9 Abs. 5 S. 2 EGKSV ab, der den Befugnissen der Hohen Behörde (jetzt: Europäische Kommission) einen caractère supranational attestierte. Obwohl dies später gestrichen wurde, zeichnete sich gerade die EGKS und zeichnet sich heute auch die EU durch ihre S. aus. Dies unterscheidet sie von anderen internationalen Organisationen. Kennzeichnend für die S. ist die Übertragung staatlicher Befugnisse und damit von Hoheitsrechten (Gesetzgebung, Rechtsprechung, Verwaltung) durch die Vertragsstaaten auf eine Organisation, die diese ihnen gegenüber und ggf. sogar in diesen ausübt. Der Grad an S. richtet sich nach Intensität und Ausgestaltung dieser Befugnisse. Gegenbegriff zur S. ist Intergouvernementalität, d. h. das Zusammenwirken von Staaten ohne Kompetenzübertragung auf die supranationale Einrichtung. Von einem Staat unterscheidet sich eine supranationale Organisation dadurch, dass ihre Kompetenzen von der Übertragung durch die Staaten abgeleitet sind, sie somit über keine Kompetenz-Kompetenz verfügt, sondern Zuteilung und Bestand von Kompetenzen von der erfolgten und fortbestehenden Übertragung abhängig sind.

2. Elemente der Supranationalität – Anwendungsbereich

Elemente der S. sind:

a) Übertragung von Hoheitsrechten auf eine Organisation, die diese selbst ausübt (Eigenständigkeit);

b) verbindliche Mehrheitsbeschlüsse, so dass der Vertreter eines Mitgliedstaats überstimmt werden kann;

c) unabhängige Beschlussorgane, in denen die Mitgliedstaaten nicht vertreten sind;

d) unmittelbare Geltung der Beschlüsse in den Mitgliedstaaten (Durchgriffswirkung);

e) Vorrang des von der supranationalen Organisation erlassenen Rechts vor dem Recht ihrer Mitgliedstaaten.

Einzelne dieser Elemente fanden sich zwar bereits bei früheren, zwischen Staaten begründeten internationalen Organisationen wie dem Deutschen Zollverein von 1834, der Europäischen Donaukommission von 1856 und finden sich bei bestehenden internationalen Organisationen wie der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation (ICAO). Die Vereinten Nationen haben mit dem UN-Sicherheitsrat ein Organ, in dem nicht alle Mitglieder vertreten sind, das aber gleichwohl verbindliche Beschlüsse fassen kann (Art. 25 UN-Charta). Gemeinschaften wie die AU, CAN, CARICOM, ASEAN und auch MERCOSUR sind trotz ihrer Organisationsstruktur und rechtlichen Bindungen letztlich intergouvernemental strukturiert. Sieht man die Kombination der die S. kennzeichnenden Elemente als begriffsprägend an, ist bislang die EU die einzige Organisation, auf die dies zutrifft. Daher wird auch in ihrer S. der Unterschied zu herkömmlichen völkerrechtlichen Organisationen gesehen.

3. Supranationalität als Besonderheit der EU

Die EU hat eigene Organe, die z. T. aus Vertretern der Mitgliedstaaten bestehen (Europäischer Rat und Rat der Europäischen Union), z. T. aber (ungeachtet deren Mitwirkung an der Besetzung) davon unabhängig sind (EU-Kommission, EuGH, EZB). Auf die EU wurden Hoheitsrechte übertragen (vgl. Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG). Das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union fungieren gemeinsam als Gesetzgeber (Art. 14 Abs. 1, Art. 16 Abs. 1 EUV) und erlassen Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse. Der EuGH sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge (Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV) und ist daher für die verbindliche Auslegung des primären (einschließlich der EuGRC) wie des sekundären Unionsrechts zuständig. Die EU-Kommission hat das Initiativrecht für Gesetze und Exekutivbefugnisse, v. a. im Wettbewerbsrecht (Kartell- und Beihilfenrecht). Die EZB ist für die Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion für die Währungspolitik und damit für einen wesentlichen Faktor der Souveränität zuständig. EU-Verordnungen, aber auch wichtige Teile des Primärrechts, insb. die Grundfreiheiten des Europäischen Binnenmarktes, haben unmittelbare Geltung in den Mitgliedstaaten und begründen Rechte für den Einzelnen. Die bes.n Rechte werden auch in der durch den Vertrag von Maastricht eingeführten Unionsbürgerschaft deutlich. Beschlüsse des Rates der Europäischen Union und damit auch der Gesetzgebung werden grundsätzlich mit qualifizierter Mehrheit (Mehrheitsprinzip) gefasst (Art. 16 Abs. 3 EUV). Der EuGH betont die „Eigenständigkeit“ des Unionsrechts, das von den Mitgliedstaaten anerkannten Vorrang vor dem nationalen Recht hat (allerdings auch aufgrund und letztlich im Rahmen jeweiliger verfassungsrechtlicher Ermächtigung). Die EU ist finanziell selbständig durch Eigenmittel, deren System allerdings durch einstimmigen Beschluss des Rates der Europäischen Union festgelegt wird (Art. 311 AEUV). Die EU übt, ohne selbst Staat zu sein, auf weiten Gebieten (Binnenmarkt, Gemeinsame Handelspolitik, Währungsunion, Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts) Staatsfunktionen aus, die ihr übertragen wurden. Sie bedarf daher einer hinreichenden demokratischen Legitimation und eines effektiven Grundrechtsschutzes gegen die Maßnahmen ihrer Organe. Sie muss ferner darauf achten, gemäß dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 EUV) nur im Rahmen der übertragenen Kompetenzen zu handeln.

4. Rechtspolitische Bewertung

S. in der Ausformung der genannten Elemente ist Voraussetzung für eine enge Integrationsgemeinschaft (Europäischer Integrationsprozess), als die die EU gemäß der in der Präambel des EUV genannten Entschlossenheit der Vertragsparteien, „den Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas“ weiterzuführen, angelegt ist. Dies erfordert wegen der Durchgriffswirkung in den Mitgliedstaaten deren Einsicht, dass damit notwendig die Bereitschaft zu Kompromissen und die Einschränkung eigener politischer Gestaltungsfreiheit verbunden ist. W…urden Beschlüsse aufgrund hinreichender Ermächtigung mit Mehrheit gefasst, sind sie auch dann zu befolgen, wenn sie den eigenen politischen Vorstellungen widersprechen. Dies erklärt, warum politisch heikle Materien wie Finanzen, Steuern und weite Teile der Außenpolitik nach wie vor der Einstimmigkeit vorbehalten sind. Durch die vorgegebenen Werte (Art. 2 EUV) stellt die EU Anforderungen an das politische System ihrer Mitgliedstaaten, die sie ggf. durchsetzen muss. Wichtig ist, das Ausmaß des „immer enger“ zu hinterfragen und die Balance zwischen Kompetenzen der EU und verbliebenen Kompetenzen der Mitgliedstaaten und somit das rechte Maß an „Europäisierung“ zu wahren, damit die S. und die mit ihr verbundenen Besonderheiten einer zweigleisigen demokratischen Legitimation (vgl. Art. 10 Abs. 2 EUV; Frage des behaupteten „Demokratiedefizits“) akzeptiert werden. Ist dies in einem Mitgliedstaat nicht mehr der Fall, besteht die Möglichkeit, die supranationale Union durch Austritt zu verlassen (Art. 50 EUV), was durch das Vereinigte Königreich erfolgt ist (sog.er „Brexit“). Denn die EU ist keine Zwangsgemeinschaft.