Ständestaat

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Parallel und als Alternative zum Aufstieg des bürgerlich-liberalen Nationalstaates und seiner kapitalistischen Wirtschaftsordnung (Kapitalismus) entwickelten politische Vordenker des ausgehenden 19. Jh. Theorien für Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen auf „ständischer“ Basis. Die vorwiegend katholischen Autoren beschworen dabei das Ideal einer korporativ verfassten Vormoderne, die im Gefolge der Reformation, v. a. aber der Französischen Revolution in Individuen, Klassen und Parteien zerfallen sei. „Stände“ bezeichneten in diesem Kontext große Bereiche der Gesellschaft wie Landwirtschaft, Gewerbe, Industrie, Handel oder öffentlicher Dienst. Zum friedlichen Ausgleich divergierender Interessen (z. B. zwischen Arbeitgebern und -nehmern) sollten die Angehörigen der Stände ihre Belange wie vordem eigenständig und intern regeln können. Die vielgestaltigen Vorstöße fanden v. a. in Kreisen Widerhall, die zu den Verlierern der Modernisierung zählten oder in ihrer Existenz bedroht waren. Dazu zählten Kleinbauern und Gewerbetreibende ebenso wie Vertreter alter Eliten (z. B. Adel, Klerus), die durch die neue Zeit an Einfluss und Ansehen einbüßten. Paternalistisch-human gesinnte katholische Fabrikanten wie Alessandro Rossi in Italien, Léon Harmel in Frankreich oder Franz Brandts in Deutschland entwickelten gemäß diesen Idealen erste Modelle der Arbeiterwohlfahrt und Arbeitermitbestimmung in ihren Betrieben.

Frühe Wortführer und Anhänger korporativer Konzepte stammten aus Belgien und Frankreich. Der französische Adelsspross René de La Tour du Pin gab ihnen mit der Artikelsammlung „Vers un ordre social chretien“ (1907) eine systematisierte Form. Im deutschen Sprachraum sorgten u. a. Adam Heinrich Mueller und Karl Freiherr von Vogelsang für eine erste Konjunktur von Stände-Konzepten. Der gebürtige Schlesier bzw. in Mecklenburg begüterte Staatsrechtler K. von Vogelsang war vom späteren Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler für den Katholizismus gewonnen worden und inspirierte mit seinen Ideen u. a. die Hocharistokraten Karl Loewenstein, Cheforganisator der regelmäßigen Deutschen Katholikentage, und Alois Liechtenstein. Mit diesem entfaltete er nach seiner Übersiedlung nach Wien 1864 rege publizistische und politische Aktivitäten i. S. einer Sozialreform auf konservativ-katholischer Grundlage. Beide werden daher zu den geistigen Gründervätern der christlichsozialen Bewegung in Österreich gerechnet, wiewohl ihnen diese gerade in den vormodernen Stände-Idealen aufs Erste nicht folgte. Ihre Erfolge verdankten sich vielmehr moderner Organisationsarbeit und Interessenspolitik, u. a. zugunsten der Etablierung des allgemeinen (Männer-)Wahlrechts. Arbeitgeber und Arbeitnehmer in einer Korporation zu organisieren, wurde allein von christlichsozialen Bauernbünden für den Bereich der Landwirtschaft gefordert, aber kaum umgesetzt.

Auch die lehramtlich erstmals von Papst Leo XIII. formulierte katholische Soziallehre stützte sich vorerst nicht auf korporative Konzepte. Die Enzykliken „Rerum novarum“ von 1891 sowie „Graves de communi re“ von 1901 enthielten zwar Stehsätze über eine bessere ständische Vergangenheit. Als Lösung der Sozialen Frage erblickten sie aber den „Gerechten Lohn“, den wohlmeinende Unternehmer freiwillig bezahlten oder Arbeitervereine und Gewerkschaften erstritten. Ihm wurde zugetraut, sowohl den umstürzlerischen Sozialismus als auch die wirtschaftsliberale Ausbeutung zu überwinden.

Der Umbruch von 1918 bzw. die Krisen der Parteiendemokratie in vielen Ländern verliehen korporativen Gesellschaftsmodellen in der Zwischenkriegszeit neue Brisanz. Im Italien des Benito Mussolini kaschierten korporativ beschickte faschistische (Faschismus) Gremien ab 1924, dass der Bevölkerung die politische Mitbestimmung per Wahlrecht nun verwehrt wurde. Im deutschsprachigen Raum befeuerte der in Österreich geborene und in Tübingen promovierte Philosoph, Staats- und Sozialwissenschaftler Othmar Spann mit seinen Ausführungen zum ständisch-gegliederten „organischen“ oder „wahre[n] Staat“ (1921) die Stände-Diskussion, die zunehmend in die Diskurse katholisch-autoritärer Kreise ebenso wie der faschistischen Heimwehr-Bewegung Österreichs und von nationalen Gruppierungen einschließlich des Nationalsozialismus einfloss. Ebenfalls auf fruchtbaren Boden fiel die Idee einer korporativen Ordnung im seit der Revolution von 1910 politisch aufgewühlten Portugal, wo sie in António de Oliveira Salazar und seinem Centro Católico schon vor 1931 engagierte Verfechter fand.

Weltweit wirksamen Aufschwung bescherte dem Stände-Konzept Papst Pius XI. mit der Enzyklika „Quadragesimo anno“ von 1931. Sie sah Gesellschaften vor, die sich aus freien Stücken in korporativen Einheiten organisierten, die subsidiär einen Großteil ihrer Belange unabhängig vom Staat regelten. Damit referierte sie primär den offenen deutschen Ständediskurs, v. a. des sogenannten Königswerder Kreises und damit der Mönchengladbacher Schule des Sozialkatholizismus (Sozialer Katholizismus), der Wahlen innerhalb der Stände nicht ausschloss. Vom Papst selbst wurden jedoch auch Elemente eingefügt, die dem Staatskorporatismus des faschistischen Italien entlehnt waren. Die drei Hauptimpulse der Enzyklika

(a) Subsidiarität;

b) korporative Struktur;

c) Ablehnung jeder Form von Sozialismus)

konnten daher verschieden ausgelegt werden. Auf sie beriefen sich in der Folge autoritäre Staatenlenker (in Polen, im Baltikum) ebenso wie Politiker katholischer Parteien in demokratischen Staaten (u. a. Schweiz, Frankreich, Spanien vor 1936); in einigen Ländern wurden Elemente korporativer Konzepte in die bestehende Ordnung integriert (z. B. in Ungarn, Irland).

Explizit nahmen v. a. Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg für Österreich sowie A. Salazar für Portugal für sich in Anspruch, die päpstliche Enzyklika in die politische Realität umzusetzen, was nur partiell zutraf. Die neuen Verfassungen, noch mehr die politische Realität dieser Länder widersprachen krass dem Prinzip der Subsidiarität. Bisher föderale Strukturen wurden zurückgedrängt, praktisch alle legislativen und administrativen Kompetenzen bei den Regierungen bzw. ihren Chefs gebündelt. Insofern die „Stände“ der Enzyklika die Omnipotenz des Staates begrenzen sollten, waren „S.en“ eine contradictio in se. So blieben die im Bundesstaat Österreich (1934–38) von der Staatsspitze her oktroyierten Gremien (Staatsrat, Bundeskulturrat, Bundeswirtschaftsrat, Länderrat, Bundestag) weitgehend bedeutungslos. Die ständische Gliederung in sieben Aufgabenbereiche (vom Agrarsektor bis zum öffentlichen Dienst) wurde nur ansatzweise umgesetzt. Portugal wie Österreich gerieten de facto zu ständisch verbrämten Kanzlerdiktaturen. Umgesetzt wurde durch Parteienverbote allein der dritte Impuls des Lehrschreibens, die Ausschaltung des Sozialismus.

Ihre konkrete Umsetzung in etlichen Ländern ramponierte schon in den 1930er Jahren das Vertrauen in christlich-korporative Staatsmodelle. In den folgenden päpstlichen Lehrschreiben zur Sozialen Frage wurden sie nicht mehr propagiert. Auf der iberischen Halbinsel bestimmten sie dennoch bis in die 1970er Jahre die politische Realität. Eine Renaissance und neue Anerkennung fanden korporative Politikmodelle jedoch in etlichen Demokratien nach 1945 in Form sozialpartnerschaftlicher Regelungen (Sozialpartnerschaft) wirtschaftlicher Belange durch organisierte Arbeitgeber und -nehmer.