Strukturalismus

Der S. zählt zu den bedeutenden Geistes- und Kulturströmungen des 20. Jh. Von der Sprachwissenschaft ausgehend, griff er auf andere Disziplinen über. Sein methodischer Ansatz geht auf den Genfer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure zurück. Dessen linguistisches Modell wird zur Analyse verschiedener Phänomenbereiche verwendet, wobei Sinn als Effekt differentieller Bestimmungen aufgefasst wird. Die Fruchtbarkeit des Ansatzes ist von seiner Offenheit und der Geschichte seiner Verwandlungen nicht zu trennen. Er hat als Genfer, russischer, tschechischer, Kopenhagener, amerikanischer und französischer S. Gestalt angenommen.

In F. de Saussures Genfer Vorlesungen 1906–11 (postum 1916 als „Cours de linguistique générale“ publiziert) wurde gegenüber der historischen Sprachforschung die Frage nach der Sprache als Ganzem aufgeworfen. F. de Saussure gab der synchronen Betrachtung gegenüber der diachronen den Vorzug. Er unterschied zwischen langue (Sprache als System), parole (Sprechen) und langage (Sprachfähigkeit). Die Sprache ist ein System von Zeichen. Ein Zeichen ist nicht die sinnliche Inkarnierung einer davon unabhängigen Bedeutung, sondern die untrennbare Verbindung von signifiant (Signifikant, Ausdruck) und signifié (Signifikat, Inhalt). Die sprachphilosophisch starke These besagt, dass Signifikant und Signifikat in ein und demselben Vorgang entstehen. Für sich genommen sind Gedanken sowie Laute nebulös. Erst durch ihre Verkoppelung – die im Zeichen geschieht und die Sprache ausmacht – entstehen Bestimmtheit und Artikulation. Bedeutung ist differentiell konstituiert: Zeichen haben ihren Sinn nicht aus sich, sondern als „Werte“ innerhalb eines Systems von Unterschieden.

F. de Saussures Ideen fanden erste Aufnahme außerhalb Genfs im 1915 gegründeten Moskauer Linguistenkreis, dessen Hauptfigur Roman Ossipowitsch Jakobson war. Enge Beziehungen bestanden zum 1916/17 gegründeten Petersburger Kreis. Die beiden Gruppen (russischer Formalismus) waren urspr. literarische und ästhetische Bewegungen. Sie wandten sich gegen die biographische und literaturgeschichtliche Interpretation sowie gegen das symbolistische Pathos vom begnadeten Künstler. Dichtung war für sie ein Handwerk, dessen Regeln es zu erfassen galt.

1926 wurde der Prager Linguistenkreis gegründet. Von den russischen Gruppen gehörten ihm R. O. Jakobson und Nikolai Sergejewitsch Trubetzkoy an. Der Kreis war interdisziplinär und international ausgerichtet. „Struktur“ und „S.“ wurden zu tragenden Begriffen. Bes. wichtig war die Entwicklung der Phonologie. Die kleinsten Lautelemente (Phoneme) wurden als Kombinationen phonologischer Merkmale verstanden, die in einem System von Oppositionen (stimmhaft/stimmlos, labial/dental, Verschlusslaut/Nasallaut usw.) organisiert sind. Damit war ein klares und folgenreiches Paradigma für den Rückgang von Phänomen zu Struktur gegeben.

Der Kopenhagener Linguistenkreis, 1934 gegründet, fasste Sprache als algebraische Struktur auf, deren Elemente und Relationen mathematisch darstellbar sind. Louis Hjelmslev baute dies zu einer Kombinatorik phonologischer und semantischer Merkmale aus (Glossematik).

Im amerikanischen S. der 30er und 40er Jahre, hervorgegangen aus der Erforschung der nordamerikanischen Indianersprachen, vertrat Leonard Bloomfield einen dezidiert antimentalistischen S., während laut Edward Sapir die Sprachstrukturen die psychischen Muster spiegeln, die beim Bilden und Verstehen von Sätzen befolgt werden. Noam Chomsky thematisierte ab 1955 die Fähigkeit zur Erzeugung von Sätzen und entwickelte eine generative Grammatik.

Die nachhaltigste Entfaltung erfuhr der S. in Frankreich. Als Hauptvertreter kann Claude Lévi-Strauss gelten. Er verband die Fäden der bisherigen Entwicklung und gelangte, insb. an das Phonologie-Modell des Prager S. anknüpfend, seit 1949 zu einem ethnologisch akzentuierten S. von großer Anwendungsbreite und kultureller Resonanz. Der Bogen seiner Untersuchungen spannte sich von den elementaren Strukturen der Verwandtschaft zum Ursprung der Tischsitten, von der Kritik des Totemismus zur Analyse des wilden Denkens und von der Kunst zur Mythologie (Mythos). C. Lévi-Strauss entwarf eine strukturale Anthropologie, deren Pointe darin liegt, dass es sich um eine „Anthropologie ohne Menschen“ (Kampits 1984) handelt. Er repräsentiert einen S., der unsere Welt und unser Erleben wie von einem fernen Planeten aus betrachtet. Der Rückgang von der parole auf die langue, vom erlebten Sinn auf die zugrundeliegende Strukturmechanik, führt von den Einbildungen der Subjekte zur Wahrheit der Strukturen. Nicht unser Denken, sondern das unbewusste Denken des Geistes, das in diesen Strukturen wirksam ist und einer universellen Logik folgt, ist das wahre Denken. Daher erreicht man die Wahrheit über den Menschen erst, wenn man sich vom Menschen distanziert. „Das letzte Ziel der Wissenschaften vom Menschen ist nicht, ihn zu konstituieren, sondern ihn aufzulösen“ (Lévi-Strauss 1973: 284). Dieser S. gerät zu einem Super-Rationalismus auf informationstheoretischer Basis mit universalistischen Ansprüchen und massiven Invarianzbehauptungen. Auf allen Niveaus und in allen Gesellschaften geschehe dasselbe – alles andere sei Einbildung von Individuen und Geschichtsideologien (Geschichte, Geschichtsphilosophie).

Von Anfang an besaß der S. große Affinität zu Fragen der Literatur. Die Gruppe Tel Quel (1960 gegründet: Philippe Sollers, Jean Ricardou, Julia Kristeva, Marcelin Pleynet, Jaques Derrida, Jean Thibaudeau) wandte sich gegen die akademisch üblichen biographischen, soziologischen, psychologischen und literaturhistorischen Erklärungsmuster und untersuchte Texte in ihrer Autonomie. Das Schreiben (im emphatischen Sinn der écriture) teilt nicht vorhandenes Wissen mit, sondern erprobt Möglichkeiten der Sprache und bringt Strukturen hervor, die sich dem Leser zur Deutung anbieten. Jeder Text entsteht aus anderen Texten (Intertextualität: J. Kristeva) und wird durch die Aktivität des Lesers fortgeführt; darauf hat insb. Roland Barthes, Hauptfigur der nouvelle critique, hingewiesen. Der nouvelle critique entsprach der nouveau roman (Nathalie Sarraute, Alain Robbe-Grillet, Michael Butor u. a.) sowie im Film die nouvelle vague (François Truffaut, Éric Rohmer, Jean-Luc Godard, Claude Henri Jean Chabrol, Jaques Rivette, Louis Malle). Die strukturalistische Tätigkeit, die R. Barthes zufolge darin besteht, mittels Zerlegung und Arrangement das Simulakrum eines Gegebenen hervorzubringen, um dessen Funktionsregeln klar zutage treten zu lassen, erfolgt ebenso wie in den Wissenschaften in Literatur und Film, in Musik (Pierre Boulez, Henri Pousseur) und Malerei (Piet Mondrian). In den Niederlanden formierte sich ein architektonischer S. (Aldo van Eyck, Herman Hertzberger).

Eine strukturalistische Version von Psychoanalyse entwickelte Jaques Marie Émile Lacan. Das Unbewusste ist wie eine Sprache strukturiert und daher mit strukturalistischen Methoden zu analysieren. Sigmund Freud gilt als Vorläufer F. de Saussures. Man kann sowohl strukturalistische Erkenntnisse für eine vertiefte Psychoanalyse nutzbar machen als auch eine Neuformulierung des S. vom Boden der Psychoanalyse aus in Angriff nehmen. Signifikant und Signifikat sind J. M. É. Lacan zufolge – anders als F. de Saussure meinte – stets getrennt. Subjektivität und Bedeutung entspringen dieser Spaltung. Damit dringt die Differenz in das Herz des Zeichens ein. Dezentrierung löst das Zentrum auf, statt Präsenz herrscht Unabschließbarkeit, der Post-S. steht vor der Tür.

Einen strukturalistischen Marxismus entwickelte Louis Pierre Althusser. Der S. sei geeignet, Karl Marx’ Einsicht, dass nicht die Menschen, sondern die Produktionsverhältnisse die Subjekte der Geschichte sind, zu vertiefen. Erneut hat die strukturalistische Entmachtung des Subjekts eine Bevollmächtigung der Strukturen zur Kehrseite. Dieser heikle Punkt führte zu Auseinandersetzungen mit Phänomenologie und Hermeneutik (Jean-Paul Sartre, Paul Ricœur).

Den Übergang zum Post-S. vollzog J. Derrida. Er kritisierte den S. an seiner Herzstelle, am Zeichenbegriff. Er tat es durch Radikalisierung. Zeichen sind, was sie sind, nicht durch Selbstbezug, sondern mittels des Geflechts anderer Zeichen. Nimmt man diese Grundthese ernst, so muss man einsehen, dass Sinn nie präsent, sondern immer aufgeschoben ist. Zudem ist die Struktur letztlich nicht stabil und geschlossen, sondern veränderlich und offen.

Während der S. dem Ideal des Kristalls huldigte, Totaltransparenz anzielte und darin die Erkenntnistradition der Neuzeit fortsetzte, richtet sich das Interesse des Post-S. auf das Verhältnis von Disziplin und Undisziplinierbarem, Erkanntem und Ungedachtem. Die Grundkategorie Struktur wird durch die neue Perspektive des Spiels abgelöst. Konsequent ging daraus schließlich – bei Jean-François Lyotard – das Denken der Postmoderne hervor, das sich gänzlich der Differenz und Pluralität der Sprachspiele und Lebensformen zuwandte.