Strategie

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1. Grundlagen

S. kalkuliert den Zusammenhang zwischen selbstgesteckten Zielen, eigenen Handlungskapazitäten und relevanten Kontextfaktoren der Umwelt in erfolgsorientierter Perspektive. Strategische Akteure durchdenken die eigenen Wahlmöglichkeiten und wählen erfolgversprechende Handlungsoptionen aus. S. lässt sich damit als eine spezifische Form der Rationalisierung ziel- und erfolgsorientierten Denkens und Handelns (Handeln, Handlung) verstehen. Die zentrale Differenz zum zweckrationalen Handeln (Max Weber), das gedanklich Ziele, Mittel, Folgen miteinander in Beziehung setzt, markiert dabei die systematische Analyse und Kalkulation von Umwelt- und Lagefaktoren für die Entwicklung von S.n. Strategisch ist das Denken in Kontext- und Wirkungsketten sowie die Fähigkeit, aus den sich daraus ergebenden Wechselbeziehungen Schlussfolgerungen für das eigenen Handeln zu ziehen. Vom sequenzorientierten Plan, der ein fertiges Handlungsprogramm vorsieht, unterscheidet S. die dynamische Interaktionsorientierung, die Flexibilität und Anpassung des eigenen Vorgehens als Reaktion auf das Handeln von interagierenden Akteuren erlaubt.

Der S.-Begriff wird missverstanden, sofern er nur für langfristige und große Ziele reserviert bleibt. Alles, was über eine Einzelsituation hinausgeht bzw. die Nichtigkeitsschwelle überschreitet, ist S. prinzipiell zugänglich. Es gibt kurz-, mittel- und langfristig angelegte, auf kleine, mittlere und große Ziele gerichtete S.n. Starr objektivierbare Handlungshorizonte und Zielgrößen existieren nicht. Der strategische Akteur wählt die strategische Einheit selbst. Er bewegt sich beim Vordenken seiner Handlungen in dem von ihm festgelegten zeitlichen und sachlichen Bezugsrahmen.

2. Kontexte

S. verändert ihre Gestalt, je nachdem in welchem Kontext sie zur Anwendung gelangt. Spezifischer Kontext ist die Differenz, die strategisch den Unterschied macht. S. im funktional differenzierten Teilsystem Politik hat andere Sinnbezüge als in der Wirtschaft oder beim Militär. Die strategische Kontextdifferenz von Demokratie, Markt und Krieg spiegelt sich in jeweils unterschiedlichen Institutionen, Akteurkonstellationen und Handlungsrationalitäten.

So stehen einfache Freund-Feind-Dichotomien im Kontext des Krieges komplexeren Akteurkonfigurationen der Politik gegenüber, die niemals vollständig in Gegnerschaft aufgehen, sondern immer auch Kooperationsfähigkeit und -bereitschaft erfordern. In der Logik des Krieges liegt es, dem Feind seinen eigenen Willen mit physischer Gewalt aufzuzwingen, ihn in letzter Konsequenz zu vernichten. Anders die Logik der Politik, in der es nicht um Zerstörung, sondern v. a. um Gestaltung geht. Neben dem Streben nach Macht – als Voraussetzung für Gestaltungsmöglichkeiten – ist die Lösung gesellschaftlicher Probleme zentrales S.-Ziel politischer Akteure.

Strategische Politik verbindet die Dualität von Macht- und Gestaltungszielen, anders als S. von Wirtschaftsakteuren, die sich nicht um die Verbindung von gesellschaftlichen Gesamt- und Teilinteressen bemühen muss, sondern allein auf die Optimierung eines Partikularnutzens (Gewinnerzielung) gerichtet bleiben kann.

Neben der Differenz von Politik, Wirtschaft und Militär in den institutionellen Rahmenbedingungen, Akteurkonfigurationen und Handlungslogiken ergeben sich für S.-Akteure in ihren Teilsystemen jeweils kontextspezifische Spannungsverhältnisse. So kämpft strategische Politik teilweise mit den demokratischen Ansprüchen von Partizipation, Öffentlichkeit und Transparenz, die strategieimmanenten Elementen wie Führungszentrierung und – zumindest partiell – Geheimhaltung widersprechen. Solche Schwierigkeiten hat militärische S. nicht. Dort wiederum ergeben sich Konflikte bei der Wahl zwischen möglichst effektiven, aber auch verhältnismäßigen Mitteln der Kriegsführung – zumal unter demokratischen Rahmenbedingungen. Wiederum anderen Spannungsfeldern sieht sich ökonomische S. ausgesetzt, wenn sie etwa zwischen den Möglichkeiten der Internalisierung oder Externalisierung von Kosten entscheiden muss.

3. Akteure

Strategische Handlungsträger sind Individuen oder Kollektive. Feldherren, Unternehmer, Präsidenten mögen berühmter sein, aber meist ist der moderne S.-Akteur ein kollektiver Akteur: eine Regierung, ein Unternehmen, eine Armee. Für das Kollektiv sind Individuen insoweit bedeutsam, als sie durch ihre Eigen- und Interaktionen das Handeln des Kollektivs festlegen können. Der zentrale Mechanismus für die Herstellung kollektiver Realität ist Zurechnung. Die strategische Wirksamkeit von Individuen bestimmt sich dann über den Kollektivakteur, den sie repräsentieren und dem sie zugerechnet werden.

Kollektive Akteure müssen S.-Fähigkeit erwerben und fortlaufend reproduzieren, um strategisch handlungsfähig zu werden. Der Grad an S.-Fähigkeit entscheidet darüber, inwieweit die Herstellung einer kollektiven Realität durch individuelles Handeln gelingt. S.-Fähigkeit bezeichnet dann die strategischen Handlungskapazitäten des organisierten Gesamtakteurs, wichtige strategische Vorarbeiten und Handlungen führen aber nur Einzelne bzw. kleine Gruppen (strategisches Zentrum) im Namen des Kollektivs aus. Kollektive strategische Handlungsfähigkeit ist für den Erfolg oft wichtiger als die gewählte S.

Für die Strukturierung kollektiven Handelns existieren je spezifische Voraussetzungen in Politik, Wirtschaft und Militär. Am schwersten hat es demokratische Politik. Sie wird bestimmt von Freiwilligenorganisationen: Bewegungen und Initiativen, Vereinen und Verbänden, schließlich Parteien. Sie transportieren Werte und Interessen, Ideen und Ideologien, mit denen Bürger die Gesellschaft gestalten wollen. Überall muss in Freiwilligenorganisationen um Zustimmung und Mitwirkung der Bürger geworben werden. In der Wirtschaft und im Militär existieren solche Ansprüche auf Partizipation sowie die werte- und interessengeleitete Positionierung der Organisation nach den Präferenzen der Mitglieder nicht. Dort wird kollektives Handeln weniger über Freiwilligkeit als über ausgeprägt hierarchisierte Organisationsformen (Wirtschaft) oder strikte Hierarchien (Militär) hergestellt.

4. Rationalität

S. ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als der Versuch der Handlungsrationalisierung auf einem mittleren Niveau. Vorteile von S.n liegen in der systematischen Kalkulation relevanter Akteurinteraktionen und Umweltfaktoren sowie im zielgerichteten Durchdenken eigener Handlungsalternativen. Das befreit den Akteur nicht von den Unwägbarkeiten der Welt, bereitet ihn aber besser darauf vor. Kalkulationen als situationsübergreifende, ziel- und erfolgsorientierte Vorteilsüberlegungen sind die basalen Denkoperationen im S.-Prozess. Sie können die Form von Ad-hoc-Kalkulationen, Maximen, Vorteilsheuristiken oder elaborierten strategischen Kalkülen (z. B. Angriff/Verteidigung, Imitation/Innovation, Konzentration/Diversifikation) annehmen. Strategisches Kalkulieren bedeutet nicht „ausrechnen“, sondern „abschätzen“ von Erfolgsfaktoren. Unsicheres Wissen und externe Komplexität erschweren das strategische Geschäft. Die Grenzen menschlicher Rationalität (bounded rationality) kann auch S. nicht überwinden. Dennoch muss S. gegen grundsätzliche Rationalitätszweifel verteidigt werden. Situatives, reaktives, zielloses, inkrementelles, voluntaristisches, emotionales oder traditionales Handeln sind schlechtere Alternativen. Ebenso sollten sich S.-Ansätze vor Überrationalisierungen hüten. Ein strategischer Realismus steht der rationalistischen Unter- und Überforderung von S. entgegen. Er baut auf die praktischen Potentiale der strategischen Strukturierung des eigenen Denkens und Handelns, ohne einem überoptimistischen Steuerungswahn zu verfallen oder an garantierte Erfolge zu glauben. Ein produktives S.-Verständnis kennt die Limitierungen menschlicher Rationalität.