Staatswissenschaften

1. Entstehung im 18. Jh.

Der Begriff „S.“ als Bezeichnung eines akademischen Faches wie eines Fächerverbunds wurde ab der Mitte des 18. Jh. geläufig. Beiden lag ein vormodernes Verständnis des Staates zugrunde, das sich auf das lateinische „status“ zurückführt und einen Zustand, einen Stand und einen Rang meinte.

S. in der Einzahl wurde synonym für die ältere, aristotelisch geprägte Phase der Politikwissenschaft gebraucht. Diese gehörte seit Gründung der Universitäten im späten Mittelalter zu den akademischen Lehrgegenständen.

Die S. in der Mehrzahl gingen in der zweiten Hälfte des 18. Jh. aus dem Konglomerat der Kameral- und Policeywissenschaften der Frühen Neuzeit hervor. Zu den S. gehörte die ältere Policeywissenschaft als das Fach von Organisation und Inhalten der inneren Verwaltung, die Kameralwissenschaft (Kameralismus) als Lehre von den fürstlichen Finanzen, die Ökonomik sowohl als Haus- wie auch als Staatswirtschaftslehre, die Staatenkunde als beschreibend-historische Länderberichte und ein ganzer Kranz von technologischen Fächern (Landwirtschaftslehre, Forstwissenschaft, Bergbau und selbst Bienenkunde).

Diese utilitaristischen Gebrauchswissenschaften dienten der akademischen Ausbildung von höheren Verwaltungsbeamten im Rahmen des Kameralstudiums.

2. Entfaltung der Staatswissenschaften im 19. Jh.

Mit der Wende vom 18. zum 19. Jh. erfuhren die S. im Wandel des Staats- wie des Wissenschaftsverständnisses einen Transformationsprozess. Die Aufklärungsphilosophie (Aufklärung) und insb. die marktwirtschaftlichen Ideen von Adam Smith revolutionierten ihr Lehrgebäude. Die umfassende Verwaltungslehre der Policeywissenschaft verengte sich zur Verwaltungsrechtswissenschaft (Verwaltungsrecht). An die Stelle der fürstlichen Kameralwissenschaft trat die klassische Nationalökonomie, die von den wirtschaftenden Individuen ausging. Die ältere qualitativ orientierte Staatenkunde wurde zur quantitativ ausgerichteten modernen Statistik. Das staatswissenschaftliche Kernfach der älteren Politiklehre mutierte in der ersten Hälfte des 19. Jh. zu einer philosophisch oder historisch inspirierten liberal-bürgerlichen Verfassungslehre, die nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution von 1848/49 in der zweiten Hälfte des 19. Jh. weitgehend unterging.

In der akademischen Lehre waren die S. der Konzeption der preußischen Universitätsreformer zufolge elementarer Bestandteil des in den Philosophischen Fakultäten verankerten Bildungsstudiums. In der Forschung dominierte das Bestreben der staatswissenschaftlichen Einzelfächer, sich entspr. dem modernen Wissenschaftsideal durch eigenständige Theorien und Methoden autonomes Ansehen zu verschaffen, aber auch die Einheit der auseinanderstrebenden S. zu bewahren. Diese Bemühungen führten zu umfangreichen Handwörterbüchern wie dem von Carl von Rotteck und Carl Theodor Welcker in den Jahren 1834 bis 1843 veröffentlichten „Staats-Lexikon“ und dem nachfolgenden „Deutschen Staats-Wörterbuch“ von Johann Caspar Bluntschli und Karl Ludwig Brater. Auch das erstmals 1889 erscheinende „Staatslexikon“ der Görres-Gesellschaft steht in dieser Tradition.

Die Gründung der renommierten „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“ 1843 war der Höhepunkt der Reformbemühungen des altliberalen Staatswissenschaftlers Robert von Mohl an der 1817 auf Initiative Friedrich Lists in Tübingen etablierten „Staatswirtschaftlichen Fakultät“, die einen eigenständigen Studiengang für den allg.en höheren Verwaltungsdienst ermöglichen sollte. Auf längere Sicht allerdings höhlte in Deutschland das sich in Preußen beim Zugang zur höheren Verwaltung durchsetzende Juristenprivileg mit seiner Fokussierung auf die justiziellen Fächer des Privat- und Strafrechts die urspr.e Ausbildungsfunktion der gesamten S. aus.

3. Zusammenschluss zu Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultäten

Die Idee institutioneller Zusammenfassung aller S. wurde auch an anderen deutschen Universitäten realisiert. Nach der Gründung des Deutschen Reiches kam es, beginnend 1872 mit der Reichsuniversität Straßburg, an den meisten preußischen und mitteldeutschen Universitäten zur Etablierung von „Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultäten“, in welchen die bisherigen Juristischen Fakultäten und die staatswissenschaftlichen Fächer zusammengefasst wurden.

Trotz dieser institutionellen Bemühungen um den organisatorischen Zusammenhalt der S. verstärkte sich mit Beginn des 20. Jh. die inhaltliche Ausdifferenzierung ihrer Einzelfächer, insb. der Dualismus von Rechts- und Wirtschaftswissenschaften. Zu einem interessanten Intermezzo in dieser scheinbar unaufhaltsamen Entwicklung kam es im Dritten Reich, als Ernst Rudolf Huber 1934 die Übernahme der Herausgeberschaft der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“ nutzte, deren urspr.es Programm der Einheit der gesamten S. unter dem politischen Schlagwort einer „deutschen Staatswissenschaft“ wiederzubeleben (Huber 1935).

4. Abschied vom Staat und seiner Wissenschaft nach 1945

Nach dem Ende der Hitlerdiktatur galt in der frühen BRD die Idee einer S. zusammen mit dem ihr zugrundeliegenden Begriff des Staates als kompromittiert, hatten doch konservative Obrigkeitsstaatsideologien zum Aufstieg des Hitlerregimes beigetragen und war die Tradition einer gesamten S. durch die Indienstnahme für eine nationalsozialistisch verbrämte Wissenschaftskonzeption diskreditiert worden. Prototypisch für diese Vorbehalte war die nach 1945 in der BRD (wieder-) etablierte Politikwissenschaft, welche sich als Demokratiewissenschaft definierte und ihr Hauptaugenmerk auf den politischen Wissensbildungsprozess (Parlament, Wahlen, Parteien, Interessensverbände) legte (zu den Konjunkturen der bundesdeutschen Politikwissenschaft auf dem Gebiet der Theorie und Praxis des Staates s. ausführlich bei Anderas Anter und Wilhelm Bleek [dies.: 2013]).

An die Stelle der tradierten S. trat in Forschung und Lehre der Begriff der Sozialwissenschaften. Dieser Entwicklung entspr. spalteten sich die meisten Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultäten schon in der Weimarer Republik und spätestens mit der bundesdeutschen Hochschulreform der 1960er Jahre in drei Bestandteile auf: Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften.

5. Sozialwissenschaftliche Wiederentdeckungen des Staates

Obwohl zumal im progressiven Wissenschaftslager oft von einem „Abschied vom Staat“ gesprochen wurde, ist das Realphänomen staatlicher Institutionen und Aktivitäten in der rechts-, wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Diskussion nie untergegangen. Zur expliziten Wiederbelebung staatswissenschaftlicher Bemühungen insb. auch in der deutschen Politikwissenschaft kam es im Zusammenhang mit der Mitte der 1960er Jahre einsetzenden Debatte um die Reform zentraler Tätigkeitsbereiche staatlichen Handelns in Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Sozial- und Umweltpolitik. Zu den Politikfeldanalysen (Policy) gehören nicht nur die Inhalte, sondern auch die Organisation der staatlichen Aktivitäten in Regierung und Verwaltung sowie deren Zusammenspiel mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Akteuren. Der Begriff des (modernen) Staates gibt grundlegenden wissenschaftlichen Publikationen wieder ihren Titel. Ihm widmen sich auch Periodika wie die seit 1962 bestehende Zeitschrift mehr juristischer und konservativer Ausrichtung „Der Staat“. Aber auch Neugründungen aus dem eher progressiven und sozialwissenschaftlichen Lager („Staatswissenschaft und Staatspraxis“, 1990; „Der moderne Staat“ [seit 2008]) haben den interdisziplinären sowie praxisbezogenen Anspruch der „gesamten S.“ wieder aufgenommen.

6. Perspektiven der Staatswissenschaft(en)

Organisatorisch sind Bemühungen zu beobachten, in der BRD die S. als Fächerverbund wiederzubeleben. Den Anfang machte 1973 unter dem Einfluss von Thomas Ellwein die Münchener Hochschule, heute Universität der Bundeswehr mit der Errichtung einer „Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften“. Studiengänge staatswissenschaftlicher Ausrichtung gibt es auch an den Universitäten Passau und Lüneburg. Bei der Wiedergründung der Universität Erfurt 1994 wurden unter Berufung auf Geburtsort und Werk Max Webers die Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in einer „Staatswissenschaftlichen Fakultät“ zusammengeführt.

Auf längere Sicht erfolgversprechender erscheint die Wiederbelebung des Konzeptes der S. in der Forschung der Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, aber auch der Geschichtswissenschaft. Theorie und Empirie des Staates erweisen sich nicht nur als Inspiration für die Einzelfächer, sondern auch als interdisziplinäre Brücke zu den staatswissenschaftlichen Nachbarwissenschaften.