Staatsversagen

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  1. I. Wirtschaftswissenschaften
  2. II. Politikwissenschaft

I. Wirtschaftswissenschaften

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1. Staatsversagen als ökonomischer Fachbegriff

Von S. wird in den Wirtschaftswissenschaften dann gesprochen, wenn staatliches Handeln oder Nichthandeln zu Fehlallokationen bzw. Ineffizienzen auf Märkten, im Wirtschaftssystem oder in anderen Gesellschaftsbereichen führt. Ob eine Fehlallokation bzw. Ineffizienz vorliegt, wird mittels des Instrumentariums der Wohlfahrtsökonomik bestimmt; etwa durch Kosten-Nutzen-Analysen oder die modellhafte Bestimmung der aus wohlfahrtsökonomischer Sicht optimalen bzw. effizienten Allokation von Ressourcen. Während Marktversagen Situationen bezeichnet, in denen Märkte nicht so perfekt funktionieren, wie im wohlfahrtsökonomischen Modell der vollkommenen Konkurrenz (z. B. aufgrund von externen Effekten, Marktmacht oder Informationsproblemen), so trägt der Begriff des S.s dem Umstand Rechnung, dass staatliches Handeln nicht nur Probleme lösen und Ineffizienzen beseitigen kann (z. B. Marktversagen); staatliches Handeln kann selbst wiederum zur Quelle von Fehlallokationen bzw. Ineffizienzen werden. Als Synonym zum Begriff S. (engl. government failure) wird in den Wirtschaftswissenschaften häufig auch der Begriff Politikversagen verwendet. Der alltagsweltliche Sprachgebrauch folgt oft nicht der engen wohlfahrtsökonomischen Begriffsdefinition, sondern in öffentlichen Diskussionen wird Staats- bzw. Politikversagen häufig als politischer (Kampf-)Begriff verwendet, mit dem kritische Beobachter auf (subjektiv) empfundene Missstände in Politik und Verwaltung aufmerksam machen möchten.

2. Formen des Staatsversagens

In der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur wird zwischen verschiedenen Ursachen bzw. Quellen des S.s unterschieden. Vertreter des Wirtschafts- und Ordoliberalismus weisen darauf hin, dass gut gemeinte wirtschaftspolitische (Wirtschaftspolitik) Eingriffe (z. B. Subventionen, Zölle oder Preis-, Mengen- und Qualitätsregulierungen) zu Allokationsineffizienzen und unbeabsichtigten Nebenwirkungen führen können. Wirtschaftspolitische Interventionen können demnach u. U. volkswirtschaftliche Wohlfahrtsverluste nach sich ziehen. Wenn ein gut gemeinter Staatseingriff nicht die intendierten Wirkungen zeitigt, sondern neue Ineffizienzen und weitere Probleme erzeugt, dann kann dies u. a. an der mangelnden bzw. begrenzten Steuerungsfähigkeit (Steuerung) der an der Intervention beteiligten politisch-administrativen Akteure liegen. Während der Staat in wohlfahrtsökonomischen Modellwelten oft als allwissender Sozialplaner modelliert wird, kann es in einer konkreten, realweltlichen Situation sein, dass im Politikbetrieb und Verwaltungsapparat die für einen Eingriff notwendigen Qualifikationen und die nötige Expertise fehlen, oder dass Entscheidungsträgern in Politik und Verwaltung situations- bzw. entscheidungsrelevante Informationen fehlen. Friedrich August von Hayek spricht mit Blick auf derartige Informations- und Wissensprobleme der Staatstätigkeit in diesem Zusammenhang auch von der „Anmaßung von Wissen“ (Hayek 1975), die staatliches Handeln zur Problemquelle machen kann.

Auf eine weitere mögliche Ursache von S. macht die ökonomische Theorie der Politik, oft auch als Neue Politische Ökonomie oder Public Choice Theory bezeichnet, aufmerksam. Während in Modellen der traditionellen Wohlfahrtsökonomik von wohlwollenden, gemeinwohlorientierten politisch-administrativen Akteuren ausgegangen wird, berücksichtigt die ökonomische Theorie der Politik in der Tradition von Anthony Downs, James Buchanan und Gordon Tullock, dass Akteure in Politik und Verwaltung in der Realität natürlich auch eigene Interessen verfolgen können. Z. B. kann es sein, dass zur Bearbeitung eines Marktversagenstatbestands nicht die aus wohlfahrtsökonomischer Sicht effizienteste und effektivste Politikmaßnahme ergriffen wird, da die beteiligten politischen Entscheidungsträger erwarten, dass diese Maßnahme in der Bevölkerung unpopulär ist und Wählerstimmen kosten würde. Der politische Wettbewerb um Wählerstimmen bzw. das Motiv der Steigerung von Popularitätswerten in Hinblick auf den nächsten Wahltermin kann also dazu führen, dass nicht diejenigen Politikmaßnahmen ergriffen werden, die aus wohlfahrtsökonomischer Perspektive zur Erhöhung der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt angezeigt wären; sondern solche Maßnahmen, die der Stimmenmaximierung und Erhöhung der Wiederwahlchancen dienen (z. B. Wahlgeschenke in Form bestimmter Staatsausgaben oder Steuererleichterungen).

Während die traditionelle Wohlfahrtsökonomik von einem Verwaltungsapparat ausgeht, der wohlwollend und gemeinwohlorientiert an der Bearbeitung von Marktversagensproblemen (d. h. an der Beseitigung von Ineffizienzen) oder anderen gesellschaftlichen Problemen mitwirkt, so weist die ökonomische Theorie der Bürokratie in der Tradition von William Arthur Niskanen darauf hin, dass die Verwaltung selbst eine Quelle neuer Ineffizienzen sein kann. In diesem Kontext wird in den Wirtschaftswissenschaften bisweilen auch der Begriff des Bürokratie- bzw. Verwaltungsversagens als Spezialfall von S. verwendet. Bspw. kann es sein, dass das Selbsterhaltungsinteresse und Eigennutzstreben von Verwaltungsmitarbeitern (z. B. in Form von Macht, Prestige, Einkommen) dazu führt, dass ineffiziente Strukturen und Behörden aufrechterhalten bzw. nicht reformiert werden. Auch kann es sein, dass Bürokratien keinen Anreiz haben, sorgsam und wirtschaftlich mit öffentlichen Mitteln bzw. Steuergeldern umzugehen, und somit Steuergeld verschwenden. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass Staatsbetriebe wie z. B. diejenigen, die zur Korrektur des Marktversagenstatbestands des natürlichen Monopols (u. a. Stromnetz, Schienennetz) geschaffen wurden, vielfach mit Qualitäts- und Effizienzproblemen zu kämpfen hatten.

Zudem kann, wie die ökonomische Theorie der Interessengruppen in der Tradition von Mancur Olson herausgearbeitet hat, auch das Lobbying (Lobby) bzw. die Einflussnahme durch Wirtschaftsunternehmen (Unternehmen) und ihre Verbände, aber auch durch Gewerkschaften und andere Interessengruppen dazu führen, dass politisch-administrative Akteure nicht die (wirtschafts-)politischen Entscheidungen treffen, die aus wohlfahrtsökonomischer Sicht i. S. d. gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt angezeigt wären; sondern solche, die den Partikularinteressen bestimmter Gruppen innerhalb der Gesellschaft dienen. Politiker könnten sich z. B. für gesamtgesellschaftlich ineffiziente Politikmaßnahmen-Vorschläge bestimmter Interessengruppen stark machen, weil sie Parteispenden, Wählerstimmenzusagen oder andere Zuwendungen (Aufsichtsratsposten, Nebeneinkünfte, Jobs für Familienmitglieder etc.) von diesen Gruppen erhalten haben. Werden solche (Geschäfts-)Beziehungen publik, dann stellt sich nicht nur die demokratietheoretische Frage der Legitimität dieser Beziehungen, sondern vielfach wird auch juristisch die Legalität der jeweiligen Transaktionen zwischen Politikern und Interessengruppenvertretern überprüft. Zahlreiche empirische Studien innerhalb der polit-ökonomischen Literatur belegen, dass sich u. U. auch Verwaltungsmitarbeiter anfällig für Lobbying-Aktivitäten und konkrete Zuwendungen (Korruption) von Interessengruppen zeigen.

3. Theorie und Empirie: Potentielles und tatsächliches Staatsversagen

Während die ökonomische Theorie des Marktversagens darauf aufmerksam macht, dass Märkte nicht immer und überall perfekt funktionieren, weist die ökonomische Theorie des S.s darauf hin, dass in Politik und Verwaltung aus verschiedenen Gründen bisweilen Entscheidungen getroffen werden, die nicht zur Sicherung oder Erhöhung der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt des betreffenden Gemeinwesens führen. Insb. staatliche Eingriffe in das Marktgeschehen und Wirtschaftssystem betrachtet diese Theorie mit großer Skepsis und mahnt in diesem Bereich zur Zurückhaltung bzw. zu gut überlegter und wohldosierter Staatstätigkeit. Die Stärke dieser Theorie ist demnach, dass sie sozusagen worst case-Szenarien bzw. Hypothesen dahingehend entwirft, was in Politik und Verwaltung in puncto ökonomischer Effizienz und Effektivität unter bestimmten Bedingungen suboptimal geschehen könnte. Auf Basis dieser theoretischen Szenarien kann dann darüber nachgedacht werden, mittels welcher Mechanismen die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von S. reduziert werden kann. Ein Kritikpunkt an dieser Theorie besteht darin, dass sie ein recht düsteres bzw. negatives Bild von Politik, Verwaltung und Staatstätigkeit zeichnet. Was bei der Betonung der Funktionsmängel und Ineffizienzen im Politikbetrieb und Verwaltungsapparat leicht aus dem Blick gerät, ist der Tatbestand, dass der Staat und seine Bediensteten vielfach sehr gute Arbeit leisten, wenn es um die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen für die Bevölkerung oder den Schutz der Bürger (z. B. im Falle von Naturkatastrophen [ Katastrophenschutz ]) geht. Dass es eine Reihe von ökonomischen Theorien gibt, die vor der Möglichkeit des S.s warnen, bedeutet indes nicht, dass es in der Realität auch zwangsläufig so kommt, wie theoretisch vermutet. Von daher muss im konkreten Einzelfall empirisch untersucht werden, ob tatsächlich aus (wohlfahrts-)ökonomischer Perspektive ein Fall von S. vorliegt und mittels welcher Mechanismen das jeweilige S. verhindert bzw. korrigiert werden kann.

II. Politikwissenschaft

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1. Definitionen

Der nur wenig präzise Begriff des S.s wird für verschiedenartigste Entscheidungs-, Handlungs- und Leistungsdefizite des Staates, konkret seiner Institutionen und Handlungsträger verwendet. Die Handhabung ist höchst uneinheitlich:

a) Handlungstheoretisch wird unterschieden zwischen solchen Fehlleistungen staatlichen Handelns, die als korrigierbar oder auch revidierbar angesehen werden, und strukturell verursachten Defiziten, also S. in engerem, gesellschaftstheoretisch/holistisch begründetem Begriffsverständnis.

b) In staatsrechtlicher Perspektive tritt S. dann ein, wenn der Staat seine territoriale Integrität, die innere (Innere Sicherheit) wie äußere Sicherheit und die Wohlfahrt seiner Bürger, die Legalität staatlichen Handelns nicht oder nur unzulänglich zu gewährleisten vermag. Dabei ist das „Monopol der legitimen physischen Gewaltsamkeit“ (Weber 1988: 506) des Staates zur Durchsetzung seiner Entscheidungen im Innern in Frage gestellt, beschränkt oder gar ausgehöhlt sowie die völkerrechtliche Souveränität nach außen durch Interdependenzen geteilt bzw. vermittelt und/oder gar aufgehoben.

c) Sozialwissenschaftlich bzw. systemtheoretisch erfasst der Begriff des S.s (oder genauer: des politischen Systemversagens) Defizite seiner subsystemisch nur ihm eigenen Steuerungsleistungen (Steuerung), sowohl bei direkter, gesamtsystemisch verbindlicher (legislativer) Entscheidungsfindung, (administrativer) Implementation und (justizialer) Konfliktregulierung als auch bei unzureichender bzw. fehlender indirekter oder (dezentraler) Kontext-Steuerung.

d) Politikwissenschaftlich ist S. bestimmt worden als die strukturell verursachte unzulängliche „Versorgung eines Landes mit öffentlichen Gütern, [da] deren Preis zu hoch und deren Qualität zu niedrig ist“ sowie als die „gleichfalls nicht zufällige Unfähigkeit, Entscheidungen zu fällen, deren Notwendigkeit weithin unbestritten ist“ (Jänicke 1986: 11).

2. Formen und Begründungen

Art und Ausmaß von S. hängen ab insb.:

a) von den jeweiligen Legitimitätsansprüchen (Legitimation) des Staates und deren Akzeptanz,

b) vom sozio-politischen Entwicklungsstand wie

c) von der konkreten Gestalt der Staatsorganisation und des Staatsinterventionismus. Formen von S. können von revidierbaren Fehleistungen des Staates bei Input- wie Output-Legitimation, strukturellen Defiziten, (partiellen) Anomien bis hin zum Staatszerfall (Failed States) reichen.

In Anbetracht der Abwesenheit von Letztbegründungen jenseits der drei allg.en Staatszwecke – Sicherheit, Freiheit, soziale Gerechtigkeit – unterliegen mit dem Wandel der Staatsaufgaben auch die Funktionserwartungen wie die Handlungs- und Leistungsdefizite raum-zeitlich unterschiedlich zu bewertenden Prozessen von S. Dies gilt bei historisch-diachroner Betrachtung, aber auch in synchron-gegenwartsbezogener Perspektive, etwa bei Vergleichen von S. in Staaten unterschiedlicher kultureller oder auch sozialer Entwicklung, und sogar für industrielle Demokratien in der sog.en OECD-Welt, deren Gegenwart als Folge sich beschleunigenden Gesellschafts- wie Politikwandels zunehmend von Prozessen „variierender“ (Lundgreen 2014: 35) wie „begrenzter Staatlichkeit“ (Risse/Lehmkuhl 2007) bestimmt wird. Infolgedessen unterliegen auch die Kriterien von S. dynamischen Veränderungen; zudem fallen die Begründungen je nach den zugrunde gelegten staats- und politiktheoretischen Positionsbestimmungen unterschiedlich aus:

a) In Anbetracht der Souveränitätsverluste des Nationalstaates (auch Deutschlands), die als Folge der verschiedenen Souveränitätsteilungen und -verflechtungen international, EU-europäisch, national zu komplexen, vertikalen wie horizontalen Politikverflechtungen führen, verlieren (anders als die Populisten eines antiquierten Nationalismus suggerieren) das Prinzip völkerrechtlicher Souveränität und deren traditionelle Instrumente an Gewicht; vielmehr signalisieren die begrenzte oder ganz fehlende Bereitschaft zur multinationalen Kooperation und/oder transnationalen Integration, zur Konsensbildung auf der Basis des Multilateralismus etc. das Politikversagen staatlicher Akteure in internationalen Kontexten.

b) Mit Blick auf die Staatsorganisation im Innern sind es insb. Demokratiedefizite als Folge von unzulänglichen bzw. ungleichen Partizipationschancen (Partizipation), von intransparenten Governance-Prozessen (Governance), von Reformträgheiten, die S. indizieren.

c) Bezogen auf den Staatsinterventionismus im Sozialstaat definieren Neokonservatismus und Neoliberalismus S. als Unregierbarkeit, als Überlastung (government overload) als Folge der Anspruchsinflation und leiten daraus Forderungen nach Deregulierung, Abbau von Staatstätigkeit ab, v. a. die Notwendigkeit des Rückzugs des Staates aus der Wirtschaft. Neo-marxistische Theoretiker hingegen führen S. kapitalismuskritisch auf die nur selektiven Handlungsmöglichkeiten des Staates zurück, die begrenzt seien durch den unaufhebbaren Widerspruch zwischen den Imperativen der Kapitalverwertung einerseits und der Notwendigkeit der Sicherung demokratischer Massenloyalität andererseits. Demgegenüber setzen sozialdemokratische Theoretiker des „Dritten Weges“ oder auch des Sozialinvestitionsstaats nicht mehr primär auf die Vorsorge des aktiven Staates, sondern auf die Aktivierung der Selbsthilfe und Selbststeuerung der Kräfte, Netzwerke und Institutionen der Zivilgesellschaft und sehen v. a. in mangelhafter Begleitung bei der Aktivierung und/oder dem Fehlen der Gewährleistungsgarantie des Staates S.