Staatsoberhaupt

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  1. I. Politikwissenschaftlich
  2. II. Rechtswissenschaftlich

I. Politikwissenschaftlich

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1. Herkunft

Die Verhaltensforschung versteht unter einem „Alphatier“ das Leittier in Herden oder Rudeln. Dieses hat vorrangigen Zugriff auf Nahrungsmittel und Weibchen, muss allerdings in Konflikten beweisen, dass es an Kraft oder Erfahrung die Rivalen übertrifft. Stirbt – etwa bei Gorillas – ein solcher Anführer oder besiegt ihn ein Rivale, so kommt es oft zum Zerfall der von ihm geführten Gruppe. Es wäre erstaunlich, wenn die schon aus den einfachsten menschlichen Sozialverbänden bekannten Rollen des Vorkämpfers, Streitschlichters oder Clanchefs nicht in bruchloser Entwicklung aus solchen, bereits unter Primaten wirksamen Sozialstrukturen hervorgegangen wären. Tatsächlich kennen schon die ältesten Geschichtsquellen erbliche, ernannte oder gewählte Anführer, später dann Fürsten oder (Priester-)Könige.

2. Geschichtliche Vielfalt

Spannungen traten immer wieder auf zwischen den Rollen von militärisch-politischen und geistlichen Anführern. Sie hingen regelmäßig mit Vorstellungen darüber zusammen, ob die sichtbare Welt mit unsichtbaren Gottheiten zu tun habe, die über Mittelsleute ins politisch-gesellschaftliche Geschehen hineinwirken könnten. Das Aufkommen von Monotheismus machte daraus eine zentrale politische Machtfrage: Wem gebührt die oberste Position in einem Sozialverband? Im biblischen Israel unterstanden die Könige Gott, der sich lehrend oder strafend seiner Propheten bediente. Islamische Kalifen sahen sich selbst in der Tradition des letzten aller Propheten und regierten persönlich im göttlichen Auftrag. Ägyptische Pharaonen konnten als lebende Götter gelten, und chinesische Kaiser legitimierten sich durch ein „Mandat des Himmels“; beide verbanden deshalb kultische mit politischer Macht. Doch in der christlichen Tradition gab es seit jeher einen Dualismus zwischen den obersten Verwaltern politischer und geistlicher Macht (s. Mt 22,12; Lk 20,25). Die Konflikte um den Vorrang ließen sich dann entweder nach einer der beiden Seiten auflösen oder in Balance halten. Nur in – geschichtlich seltenen – säkularen Gesellschaften kann eine geistliche Position überhaupt nicht legitim zu einer auch politischen Position werden. Wer also das „Oberhaupt“ eines Sozialverbandes ist, und ob es mehr als nur eines geben soll, resultiert somit aus kulturell sehr vielfältigen Organisationsmöglichkeiten des Verhältnisses zwischen Religion und Politik.

Im Übrigen setzt die Position eines „S.s“ die Entstehung der Sozialfiguration des „Staates“ voraus. Die geht zwar dem modernen Territorial- und Verfassungsstaat weit voraus, teilt mit ihm aber Grundmerkmale: Auf einem angebbaren Gebiet wird über einen bestimmbaren Personenkreis halbwegs verlässliche – „weltliche“ oder „geistliche“ – Herrschaft ausgeübt. Das vom Inhaber der jeweiligen Spitzenposition ausgeübte Amt wird – oberhalb der Vorstellungskraft vormenschlicher Primaten – dann auch noch gedanklich von der es jeweils innehabenden Person unterschieden. Das gibt dann etwa einem König gleichsam „zwei Körper“ (Kantorowicz 1992) und stellt so die Transpersonalität des Staates sicher, also dessen Zusammenhalt auch nach dem Tod des S.s.

3. Funktionen und Strukturen im Wandel

Ein S. kann sowohl symbolische als auch instrumentelle Leistungen erbringen. Symbolisch fungiert ein S., wenn es Staat oder Volk gegenüber anderen Staaten, gegenüber Gottheiten oder gegenüber der eigenen Bevölkerung repräsentiert. Dann tritt das S. auf als nominell oder real Handlungsbevollmächtigter (vormodern etwa als „Souverän“, in der modernen Delegationstheorie als „Agent“), als Liturg einer (Zivil-)Religion, oder als „Symbol der Einheit“. Instrumentelle Leistungen erfüllt ein S. etwa als militärischer Anführer, oberster Richter, Gesetzgeber, Chef der Verwaltung oder Garant von Wohlergehen in Krisen. Während der Herausbildung des modernen, säkularen Staates sowie der ihn kennzeichnenden Arbeitsteilung fielen immer mehr dieser Funktionen anderen, oft neu entstehenden Institutionen bzw. deren jeweiligen Inhabern zu: Generälen, Richtern, Parlamentariern, Ministern, staatlichen Versicherungen. Auf diese Weise konnte die Rolle eine S.s sogar entbehrlich werden. So ist es jetzt etwa in allen deutschen Bundesländern, die rechtlich weiterhin Staaten sind – und früher oft Monarchien waren.

Wo sich im Rahmen einer Monarchie, wie einst in England, ein parlamentarisches Regierungssystem (Parlament, Parlamentarismus) entwickelte, schrumpfte die politische Rolle des S.s auf das symbolische „Herrschen“, während das instrumentelle Regieren immer umfangreicher der Führung des Parlaments zufiel. Wo hingegen die Formen konstitutioneller Monarchie nur republikanisiert wurden, wie in den präsidentiellen Regierungssystemen, wurde das monarchische S. zum Staatspräsidenten. Und wo sich politische Parteien wie religiöse Orden organisierten sowie später – meist im Dienst ihrer „politischen Religion“ (Totalitarismus) – die politische Macht übernahmen, rückten die Anführer genau dieser Parteien (etwa die Generalsekretäre kommunistischer Parteien) in jene Positionen, aus der sich die jeweils für erforderlich gehaltenen symbolischen und instrumentellen Funktionen eines S.s ausüben ließen.

Zwischen diesen Grundformen gibt es vielfältige Varianten der Rolle eines S.s., desgleichen – je nach gesellschaftlich vorherrschenden Legitimationsressourcen (Legitimation) – unterschiedliche Rechtfertigungen für die jeweilige Ausgestaltung dieser Rolle. Im Einzelnen kann es sich um einen wirklich regierenden Präsidenten handeln wie in den USA. Der kann auch ein Diktator sein, wie so oft im „Hyperpräsidentialismus“ vieler südamerikanischer und afrikanischer Staaten. Das S. kann, wie in parlamentarischen Demokratien, auch ein „Staatsnotar“ sein, ebenso ein „Zeremonienmeister“, mitunter selbst eine Zeremonialfigur wie der japanische Kaiser. Das alles pflegt dann mit der Erwartung von Überparteilichkeit einherzugehen. Es kann außerdem eine – oft labile – Machtteilung geben zwischen einem (mit oder ohne Reservevollmachten, mit oder ohne klarer Kompetenzabgrenzung) mitregierenden S. sowie einem Regierungschef, der sich auf Parlament, Militär oder gesellschaftliche Korporationen stützt. Und wo Demokratie zum – wenigstens ideologisch vorgeblendeten – Organisationsprinzip eines Staates wurde, hängt die reale Machtposition des S.s sehr stark davon ab, wie dessen Beziehungen zum Volk ausgestaltet sind: Wird das S. vom Volk gewählt? Kann es eigenständig Volksabstimmungen ansetzen oder das Parlament auflösen? Wie stark sind die Medien und der öffentliche Diskurs auf das S. ausgerichtet?

Was auch immer ein S. dann obendrein dazu bewegen mag, im Rahmen einer Verfassungsordnung, oder auch diese sprengend, auf eine – oft mit den Begriffen „Bonapartismus“ oder „Cäsarismus“ bezeichnete – ganz persönliche Rolle auszugehen (etwa Notzeiten, die nach seiner Prärogative verlangen, oder neue politisch-religiöse Anforderungen an sein Amt): Nie reicht zum Begreifen solcher Entwicklungen der Blick ins Verfassungsrecht, sondern stets braucht es ein Verstehen der Verfassungspraxis und ihrer soziokulturellen Ressourcen sowie jener Entwicklungsdynamik mitsamt ihrer Antriebskräfte, die das alles prägt.

II. Rechtswissenschaftlich

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Als S. wird jenes zumindest protokollarisch höchste staatliche Amt bezeichnet, dessen Träger völkerrechtlich sowohl zur umfassenden Vertretung „seines“ Staates berechtigt, als auch durch umfassende Immunität geschützt ist. Wer S. ist, bleibt indes eine Frage der jeweiligen Verfassungsordnung, die diese wiederum nur selten ausdrücklich beantwortet. Einen bemerkenswerten Sonderfall bildet die Schweiz, die überhaupt kein S. als gesondertes Staatsorgan kennt und den Bundesrat als Kollegialorgan die völkerrechtlich vorausgesetzten Aufgaben des S.s wahrnehmen lässt.

Staatsformübergreifend stellt das S. eine Art Fremdkörper der Wissenschaften von Staat und Recht dar, der schillernd zwischen einem jeden Inhalts entleerten atavistischen „Un-Begriff“ (Wiegand 2008: 483) und dem Sehnsuchtsobjekt hypostasierter antiparlamentarischer Affekte oszilliert. Selbst nüchterne Höchstgerichte hören „the clanking of mediaeval chains of the ghosts of the past“ (Council of Civil Service Unions v Minister for the Civil Service, [1984] UKHL 9 [Lord Roskill]), wenn sie über die Kompetenzen eines S.s entscheiden.

1. Genealogie

In der Tat erweist sich der moderne Begriff des S.s als Ergebnis eines komplexen Säkularisationsprozesses (Säkularisierung), der auf die Übertragung der urspr. sakramentalen, Corpus-Christi-Lehre (1 Kor. 12,12) in die ekklesiologische Sphäre durch Bonifaz VIII. in der Bulle „Unam sanctam“ zurückreicht: „Corpus christi mysticum ibi est, ubi est caput, scilicet papa“. Mit der folgenden Ideenwanderung „von der Liturgie zur Rechtswissenschaft“ (Kantorowicz 1990: 106) verdünnt sich die, ihrerseits auch aus archaischen W…urzeln wachsende, politische Theologie des Königtums zu einer politischen Organologie. Spätestens mit der wirkmächtigen Ikonographie des Frontispizes des Hobbesschen Leviathans ist das S. aus Vorstellungen der Staatsorganisation nicht mehr wegzudenken. Als juristische Kategorie erlaubte es den Übergang zur Republik durch bloße Neubesetzung.

2. Typologie

Der Typ des S.s ist für die jeweilige Staatsform begriffsbestimmend und häufig für den konkreten Staat namensgebend. Die moderne Dichotomie von Monarchie und Republik entfaltet sich in den drei Dimensionen der Kreation, der Temporalität und der Sakralität: Das S. wird in der Monarchie grundsätzlich durch Erbfolge und auf Lebenszeit, in Republiken grundsätzlich durch Wahl und auf Zeit berufen. Ein Proprium der Monarchie bleibt die offen sakrale Dimension des S.s. Selbst wenn sich das Gottesgnadentum und das aus ihm folgende monarchische Prinzip rechtlich weitestgehend erledigt haben, führen einige Monarchen das Prädikat von Gottes Gnaden und/oder ihr Summepiskopat fort – die Königin von England ist sogar noch gesalbt.

Weniger scharf lässt sich angesichts zahlloser Zwischenformen die Abgrenzung von exekutiven und repräsentativen Staatsoberhäuptern vornehmen, die neben der jeweiligen Kompetenzausstattung auch von der gelebten Verfassungspraxis abhängt.

3. Funktionen

Im modernen Verfassungsstaat führt jedenfalls das repräsentative S. ein „verschleiertes Zepter“ (Twomey 2018): Staatsformübergreifend sind die Kompetenzen des S.s und ihre Ausübung häufig von seltsamen – rechtlichen wie tatsächlichen – Unklarheiten gekennzeichnet; nicht zuletzt leben zahlreiche, oft mit dem Präfix der „Reserve“ gekennzeichnete Vollmachten eines S.s gerade davon, möglichst nie ausgeübt werden zu müssen. Daneben verbleiben Aspekte des S.s, die sich einer Reduktion auf Kompetenzausübung entziehen und für die sich im deutschsprachigen Schrifttum die Redeweise von den „Funktionen“ des S.s etabliert hat. Deren gemeinsamer Kern liegt in der historischen Konstante, nach der das S. die „Staatsgewalt vorstellt“ (Kant 1914: 338). Inbegriff der nach außen gerichteten Vertretungsfunktion ist der Staatsbesuch; in der zugrundeliegenden völkerrechtlichen Identifikation des S.s mit „seinem“ Staat lebt die Genealogie des S.s bes. eindrucksvoll fort. Die nach innen gewendete Repräsentationsfunktion verdichtet sich u. a. zur bes.n Verantwortung des S.s für Staatssymbole und -zeremoniell. Die Integrationsfunktion weist dem S. die Aufgabe zu, „die Einheit des Staatsvolks […] zu ‚verkörpern‘, d. h. ein Symbol für sie zu sein“ (Smend 1994: 144). Sie folgt weniger aus der je nach Verfassungsordnung ohnehin unterschiedlich ausgeprägten politischen Neutralität des S.s, sondern aus seiner Organstruktur: Im S. fallen Amtsausübung und „Gewissen“ (Hegel 1979: 454) sowie anschließende Äußerung in öffentlicher Rede in einer natürlichen Person zusammen, während die anderen Verfassungsorgane als Kollektivorgane auf den – i. d. R. geschriebenen – Kompromiss verwiesen sind. Zu dieser kommunikativen Dimension tritt eine performative hinzu: Das S. kann sein Amt etwa schon durch bloße Anwesenheit, durch Sich-Zeigen ausüben. Auch die unzähligen Schirmherrschaften des S.s als aufgeklärtes Erbe der königlichen Thaumaturgen gehören hierher, wie auch das nahezu jedem S. zukommende Gnadenrecht. In der dem S. beigelegten integrativen Kraft leben folglich Spuren der archaischen Auratisierung des Königtums in der modernen Republik nach.