Staatenverbund

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1. Funktion und Genese des Begriffs

Mit dem Begriff „S.“ versuchen das BVerfG und die deutsche Staatsrechtslehre die bes. Natur der EU zu erfassen, welche an Integrationsdichte einerseits über einen klassischen Staatenbund hinausgeht, andererseits hinter der Staatsqualität eines Bundesstaates aber zurückbleibt. Als Rechtsbegriff geprägt hat ihn – auf Vorarbeiten von Paul Kirchhof zurückgehend – das BVerfG, das ihn im Urteil zum Maastricht-Vertrag (BVerfGE 89,155) eingeführt, im Urteil zum Lissabon-Vertrag (BVerfGE 123,267) näher konkretisiert und seither an ihm festgehalten hat (zuletzt z. B. in BVerfG 27.6.2018 – 2 BvR 1287/17, NJW 2018: 2393 Rdnr. 42).

2. Bedeutungsgehalt

Das BVerfG hat den Begriff wie folgt definiert (BVerfGE 123,267, LS. 1): „Das Grundgesetz ermächtigt mit Art. 23 GG zur Beteiligung und Entwicklung einer als Staatenverbund konzipierten Europäischen Union. Der Begriff des Verbundes erfasst eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – das heißt die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben“. Aus dem Blickwinkel des nationalen Verfassungsrechts wird auf diese Weise festgehalten, dass die Mitgliedstaaten im Integrationsprozess bei aller inzwischen erreichten Kompetenzfülle der Union ihre Souveränität nicht aufgegeben haben und dass die EU auch weiterhin wesentlich auf der Kraft und Legitimität der in ihr zusammengeschlossenen Staaten beruht.

Die Rede vom S. will einerseits zugestehen, dass die EU – obwohl durch völkerrechtlichen Vertrag der Mitgliedstaaten gegründet – über eine normale internationale Organisation weit hinausgeht und eine hochintegrierte überstaatliche Föderation eigener Art verwirklicht. Die Union zeichnet sich insb. durch Supranationalität aus, d. h. sie ist imstande, dem Einzelnen gegenüber unmittelbar Hoheitsgewalt auszuüben, und etabliert eine autonome Rechtsordnung, die den nationalen Rechtsordnungen mit prinzipiellem Vorranganspruch gegenübertritt; das GG gestattet dies ausdrücklich („Übertragung von Hoheitsrechten“). Hinzu kommt, dass die EU mittlerweile über eine beinahe staatsähnliche Kompetenzfülle verfügt, die bis in den vormaligen Kernbereich souveräner Staatlichkeit hineinreicht; einen wesentlichen Teil ihrer Kompetenzen und Staatsfunktionen üben die (auf sich allein gestellt zur Erfüllung ihrer Aufgaben immer weniger tauglichen) Mitgliedstaaten in der EU nunmehr „gemeinsam“ (in vergemeinschafteter Form) aus (vgl. Art. 88–1 der Französischen Verfassung). Der unmittelbare Entscheidungsraum der demokratisch legitimierten Staatsorgane der Mitgliedstaaten wird dadurch verkürzt; umgekehrt müssen neuartige Mechanismen einer europäischen Demokratie verwirklicht werden (Art. 9 ff. EUV), und das obwohl die Union über kein Staatsvolk verfügt und wesentliche Gelingensbedingungen der Demokratie im vielsprachigen Europa strukturell erschwert sind; gerade deswegen dringt das BVerfG darauf, dass die Staatsvölker der Mitgliedstaaten die maßgeblichen Legitimationssubjekte bleiben, die bei den Wahlen zum Europäischen Parlament (aufgrund des Unionsbürgerwahlrechts), freilich bereits nur noch in supranational aufgebrochener Gestalt, Legitimation vermitteln (so dass Ansätze einer Union auch der Bürger sichtbar werden). Hervorgetreten ist schließlich ein in vielerlei Hinsicht „integriertes“ Verfassungsrecht – eine in den Verträgen manifestierte europäische Verfassungsrechtsordnung –, die zunehmend auch in den innerstaatlichen Raum hineinreicht und gemeinsame Verfassungswerte garantiert.

Die Rede vom S. will gegenüber dieser Entwicklung andererseits festhalten, dass die EU bei alledem doch nicht zum (Bundes-)Staat avanciert ist (und das unter dem GG auch nicht dürfte), sondern dass die Mitgliedstaaten souveräne Staaten bleiben und weiter (so das BVerfG) den demokratischen „Primärraum“ bilden, auf deren Legitimität auch die Union maßgeblich beruht. Entscheidend hierfür ist, dass die Union ihre Kompetenzen nicht aus eigener Legitimation und Souveränität heraus wahrnimmt (keine sog.e Kompetenz-Kompetenz), sondern über sie allein in dem Maße verfügt, in dem ihr die Mitgliedstaaten diese – als souveräne „Herren der Verträge“ – zur gemeinschaftlichen Erledigung übertragen haben; die Unionorgane dürfen ihre Befugnisse nicht ultra vires wahrnehmen, worüber das BVerfG auch wacht (ultra vires-Kontrolle); das Recht zum Austritt aus der Union (Art. 50 EUV) bleibt unberührt. Hinzu kommt, dass den Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des BVerfG (als demokratischem Primärraum) ein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung verbleiben muss (was das BVerfG bei Kompetenzübertragungen prüft). Maßgeblich ist schließlich, dass die Union zur Wahrung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck kommt, verpflichtet bleibt (Art. 4 Abs. 2 EUV); zudem behält sich das BVerfG gegenüber der EU die Prüfung vor, ob ihre Handlungen den unantastbaren Kerngehalt der Verfassungsidentität des GG (Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG) berühren (Identitätskontrolle) und sieht in diesem „letzten Wort der deutschen Verfassung“ auch einen wesentlichen Ausdruck der verbliebenen Souveränität Deutschlands.

3. Kritik und Rechtfertigung des Begriffs

Die Charakterisierung der EU als S. ist nicht ohne Diskussion und Kritik geblieben. Andere Umschreibungen – Verfassungsverbund, Mehrebenensystem, Föderation/Bund, European Governance etc. – mögen je nach dem mit ihnen verbundenen Erkenntnisinteresse durchaus ihre Berechtigung haben, ihnen fehlt jedoch das aus dem Blickwinkel des Staatsrechts entscheidende Moment des Insistierens auf das Fortbestehen nationaler Staatlichkeit. In jüngeren Entscheidungen spricht das BVerfG z. T. offener davon, die EU sei ein „Staaten-, Verfassungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsverbund“ (z. B. BVerfGE 146,216/254), ohne dadurch das Bekenntnis zum S. aufzugeben. Zuzugeben ist, dass sich der Begriff schwer übersetzen lässt und daher international nur beschränkt anschlussfähig ist. Dies ist jedoch kein Schaden, denn der Begriff dient der deutschen Staatsrechtslehre zur Selbstvergewisserung über ihren Gegenstand – den Staat – im Zuge des Europäischen Integrationsprozesses.