Staatenbund

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Der S. ist ein auf Dauer angelegter völkerrechtlicher Zusammenschluss gleichberechtigter, souveräner Staaten mit eigener Bundesorganisation, aber anders als die ihn bildenden Mitgliedstaaten nicht selbst Staat. Der S. gehört daher nach dem ihm zugrundeliegenden staatstheoretischen Prinzip zur Formenwelt des Föderalismus, in diesem Zusammenhang verstanden als die Idee einer handlungseinenden Verbindung weiterhin eigenständiger Staaten. Als Gegenentwurf beschreibt der Unitarismus das Prinzip geschlossener, zentral organisierter Staatlichkeit.

Abzugrenzen ist der S. nach den Kategorien der klassischen Staatslehre zuvörderst vom Bundesstaat, der jeweils spezifische Anteile von Föderalismus und Unitarismus vereint. Die Gegenüberstellung besticht zunächst durch ihre vermeintliche Klarheit. Hier Völkerrecht, Vertrag, Mediatisierung des Einzelnen, Einstimmigkeitsprinzip und Austrittsrecht; dort Staatsrecht, Verfassung, unmittelbare Anwendbarkeit, Bundeszwang und Sezessionsverbot. Größtmögliche Deutlichkeit herrscht insb. auch bei der Frage des Trägers der Souveränität: Beim S. allein die Mitgliedstaaten, im Bundesstaat der Gesamtverband. In den so idealtypisch beschriebenen Konstellationen geben beim Bundesstaat die Gliedstaaten Teile ihrer Souveränität unwiderruflich auf und unterwerfen sich Bundeszwang und Bundesgerichtsbarkeit. Den Übergang vom S. zum Bundesstaat markiert insoweit jedenfalls das fehlende Recht auf Austritt bzw. Sezession: „no State upon its own mere motion can lawfully get out of the Union“ (Lincoln 1861). Im Gegensatz dazu bleibt der S. als paritätische Staatenverbindung ganz Geschöpf des Völkerrechts mit zumeist außenpolitischer Zielsetzung, aus der Konferenz der Mitgliedstaaten hervorgehender Bundesorganisation und eigener Verwaltungsstruktur, jedoch ohne Kompetenz-Kompetenz. Seine Mitgliedstaaten sind nach dem Grundsatz pacta sunt servanda an ihre vertraglich eingegangenen Verpflichtungen gebunden, behalten aber auch jenseits von rebus sic stantibus-Situationen ihre souveräne Handlungsfreiheit bis hin zum Austritt aus dem Bund.

Die so bezeichneten Charakteristika des S.s erklären damit nach herrschender Ansicht gleichzeitig die Gründe für sein Schattendasein. Sein aus der Sicht der Mitgliedstaaten hervorstechender Vorzug – ihre eigene fortbestehende Souveränität – führt zu einem prekären Zwischenzustand der nicht souveränen Bundesorganisation, der sich – so die These – innerhalb kurzer Zeit konstruktiv oder destruktiv auflöst. Der S. entwickelt sich entweder zum Bundesstaat fort oder scheitert, etwa aufgrund von Kompetenz- oder Finanzierungsproblemen, die sich im schwerfälligen völkerrechtlichen Rechtssetzungsprozess jenseits des Mehrheitsprinzips nur schwer überwinden lassen. Und tatsächlich lassen einige historische Beispiele den S. als Durchgangsstadium zum Bundesstaat erscheinen: Nordamerikanische Konföderation (1778–88), Rheinbund (1806–13), Deutscher Bund (1815–66), Schweizerische Eidgenossenschaft (1815–48).

Wie stets im deutschen Bundesstaatsrecht sind allerdings die unitarischen Prämissen dieses Verständnisses im Blick zu behalten. Die nationalliberal-unitarisch orientierte klassische Staatslehre beschrieb schon das Deutsche Reich gerade durch die Abgrenzung zum Deutschen Bund und gewann so den Begriff des Bundesstaates. Die tatsächliche Gestalt von Staatenbünden lässt sich in dieser idealtypischen Reduzierung deswegen nicht immer erfassen. Weder ist in diesem Erklärungsschema Platz für die teilweise erheblichen Souveränitätsübertragungen der Mitgliedstaaten noch für die Völkerrechtssubjektivität des Bundes oder die teilweise unmittelbare Geltung des von ihm gesetzten Rechts. Begreift man demgegenüber den Bund als institutionalisierte „Schwebelage der Souveränität“ (Schönberger 2004: 104) und die bündische Grundsituation als eine der „Befriedung und Intervention“ (Schönberger 2004: 104), so erweitert sich sein Anwendungsbereich und Erklärungspotential. Es sind dann weniger klare Zuordnungen von Souveränität und in ihrem Gefolge von Kompetenz-Kompetenz, anhand derer sich das Verhältnis zwischen Bund und Mitgliedstaaten, beschreiben lässt, sondern vielmehr gegenläufige Souveränitätsselbstzuschreibungen zwischen Bund und Mitgliedstaaten, wie sie etwa den Diskurs zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten prägen.

Die EU ist dabei nach überwiegender Ansicht gerade kein S. Als supranationale Organisation mit einem eigenen Status der Unionsbürgerschaft lässt sie sich nicht in die gängigen idealtypisch reduzierten Kategorien des S.-Bundesstaat-Schemas fassen, sondern ist ein Hoheitsgebilde eigener Art (sui generis). Zwar kommt ihr keine Kompetenz-Kompetenz, wohl aber die Befugnis zu, im Anwendungsbereich des europäischen Primärrechts mit direktem Durchgriff auf die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten Hoheitsgewalt auszuüben. Die Austrittsmöglichkeit nach Art. 50 EUV, die jedenfalls eine Nähe zur Typologie des S.s aufweist, findet dabei bislang keine große Erwähnung. In diesem Sinne bezeichnet auch das BVerfG die EU nicht als S., sondern seit dem Maastricht-Urteil (BVerfGE 89,155) aus dem Jahr 1993 als Staatenverbund. Den zunächst rein deskriptiv verwendeten Begriff des Verbundes erhob es im Lissabon-Urteil von 2009 zum Rechtsbegriff und definierte ihn als „eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – d. h. die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben“ (BVerfGE 123,267, 1. LS.). Das BVerfG stützt damit nur begrifflich die sui generis-These, kehrt aber in seiner im Mittelpunkt stehenden Souveränitätsbehauptung letztlich zurück zur Ausgangsbeschreibung des S.s.

Der doppelte Negativbefund – kein Bundesstaat und kein Fall der als Gegenentwurf beschriebenen völkerrechtlichen Rohform des S.s – trägt indes zum Verständnis föderaler Gebilde jenseits des Staates nichts bei und hilft auch nicht, die dort wirkenden Antinomien zu erfassen. Gleiches gilt für neuere Staatenbünde in Form internationaler Organisationen (etwa: Vereinte Nationen, NATO), deren Spannungsfeld zwischen Gesamtverband und Mitgliedstaaten sich in den übersichtlichen geologischen Kategorien des „Mehrebenensystems“ kaum erfassen lässt. Die Konstellation der EU legt es deshalb ebenso wie das sich fortentwickelnde Recht der internationalen Organisationen nahe, die Theorie des Bundes für das Verständnis spezifischer föderaler Organisationsformen i. S. eines Verfassungsrechts internationaler Organisationen nutzbar zu machen.