Soziologie

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1. Bezugsprobleme des soziologischen Denkens

Wie für alle wissenschaftlichen Disziplinen gilt auch für die S., dass ihre Entstehung als Wissenschaft an die Entfaltung hinreichend komplexer Problembezüge gebunden ist. Für die S. war dies der Zeitpunkt, an dem sich der Blick auf die Formen des Zusammenlebens der Menschen an einem neuen Bezugsproblem schärfte: dem der Handlungskoordination bzw. dem der Anpassung unterschiedlicher Handlungsmöglichkeiten aneinander. Entscheidend dafür waren die historischen Voraussetzungen im 18. Jh. Man könnte Fragestellungen, die auf dieses Problem reagieren, schon in den sehr viel älteren Texten der „Nikomachischen Ethik“ Aristoteles’ entdecken. Aber die Vorläufer etwa in der jüngeren schottischen Moralphilosophie oder auch Jean-Jacques Rousseau und überhaupt die Texte der Aufklärung lassen sich bereits als Dokumente der Gestaltung der Gesellschaft lesen. Hintergrund hierfür waren die großen politischen Revolutionen, v. a. die Französische Revolution 1789, die spätere Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) und die damit verbundenen Optionssteigerungen im Hinblick auf technisches Wissen, ökonomische Rationalitäten und eine philosophische Neubeschreibung der Welt jenseits von metaphysischen Verortungen. Was aus heutiger Perspektive als gesellschaftlicher Umbruch und Beginn der neuzeitigen Wissenschaften verstanden werden kann, stellte sich im 18. Jh. v. a. als eine Erfahrung der Emanzipation von der politischen Autorität von Monarchen und der damit verbundenen Infragestellung kirchlicher Autoritäten und einer gottgegebenen Ordnung dar. Wer nach dem Ort dieser Entwicklung fragte, stieß fast zwangsläufig auf die Gesellschaft als nun neuem Ursprung sozialer Ordnung. Eine sich in vielerlei Hinsicht dynamisierende Gesellschaft lernte, sich als Gesellschaft zu verstehen, als Korrelat gesellschaftlicher Zugzwänge, die sich gestalten lassen.

Mit diesen neuen Gestaltungsmöglichkeiten entstanden Problembeschreibungen, die sich in der S. zum Teil bis heute erhalten haben. „Die Erfahrung des Sozialen auf den Begriff der ‚Gesellschaft‘ zu bringen, drückte eine Vorstellung von Einheit, von Zusammengehörigkeit aus, welche die Zeitgenossen wahrnahmen oder jedenfalls für die Zukunft anzustreben versuchten. Aber daneben stand die andere Erfahrung, dass die Gesellschaft aus verschiedenen, ungleichen Teilen bestand, aus größeren Verbänden, die hierarchisch übereinander angeordnet waren“ (Nolte 2000: 37). Soziale Ordnung erscheint aus dieser Perspektive als gelungene Form einer Handlungskoordination, bei der die Ungleichheit gesellschaftlicher Gruppen nach einer Integration verlangt. Wenn Walter Schulz (1972) die Philosophie dieser Zeit mit den Kategorien Verwissenschaftlichung, Verinnerlichung, Vergeistigung, Verleiblichung, Vergeschichtlichung und Verantwortung auf den Begriff bringt, wird damit gleichzeitig sichtbar, wie sich diese neu entstehende bürgerliche Gesellschaft verstand: als Ensemble von unverwechselbaren Subjekten, die sich über (moralische) Motive Auskunft geben und sich und andere mit Hilfe von guten Gründen und einer entspr.en Einsichtsfähigkeit steuern, „als Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute“ (Habermas 1990: 86).

Bemerkenswert in Bezug auf diese Zeit wären also drei Elemente:

a) Radikale Umwälzungen in Ökonomie, Recht, Wissenschaft, Verkehr und staatlichem Gemeinwesen führen zu einer janusköpfigen Situation: Einerseits ging die Sicherheit spendende Kraft vorheriger überzeitlicher Weltbilder verloren, andererseits gewann man einen nie zuvor da gewesenen Gestaltungsspielraum. Was als Gesellschaft sichtbar wurde, war nun nicht mehr nur ein Raum der Geselligkeit, nicht mehr bloße Sphäre gemeinsamen Lebens, sondern ein Spielraum für Gestaltung.

b) Gleichzeitig verstand sich diese Gesellschaft selbst sowohl als Adressat als auch als Publikum dieser Dynamik. Gesellschaft war kein abstrakter Begriff – sondern chiffrierte jenen Raum, jene Arena, in der sie sich selbst zum Thema wurde. Was entfesselt wurde, war v. a. Kommunikation, d. h. die beredte Form der Selbstwahrnehmung der Gesellschaft, des öffentlichen Diskurses und der Beobachtungen aller möglichen Handlungsfelder durch unterschiedliche Instanzen der Gesellschaft.

c) Darüber hinaus war aber auch die Beschleunigung der gesellschaftlichen Entwicklung selbst ein entscheidendes Thema. War die Welt zuvor stärker an der Tradierung ihrer Routinen orientiert, wurde die Dynamik der Gesellschaft nun selbst zu jenem Thema, das dynamische Debatten hervorgebracht hat. In ihrer Selbstbeschreibung als „Neueste Zeit“ zeigt sich die Reflexion dieser Erfahrungen: „die Revolution, der Fortschritt, die Entwicklung, die Krise, der Zeitgeist, alles Ausdrücke, die zeitliche Indikationen enthielten, die es zuvor in gleicher Weise noch nicht gegeben hatte“ (Koselleck 1992: 320).

2. Frühe vorsoziologische Denkfiguren

Wie sich auf dieser Grundlage im 19. Jh. aus dem Blick auf die Gesellschaft die S. als eigenständige Disziplin entwickelte, lässt sich beispielhaft an den Überlegungen der folgenden fünf Theoretiker zeigen: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Auguste Comte, Wilhelm Heinrich Riehl, Lorenz von Stein und Karl Marx.

G. W. F. Hegels Staats- und Rechtsphilosophie hat in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jh. ein Primat des Politischen, des Staates vor den anderen großen Sphären der Gesellschaft betont – vor der Familie nämlich und vor der bürgerlichen Gesellschaft. In der Familie geht der Einzelne völlig auf, in der bürgerlichen Gesellschaft ist er Wirtschaftsbürger und Eigentümer und verfolgt eigene Interessen, und dem Staat unterwirft er sich als Teil eines Ganzen, das aber aus freien Stücken. Die Mitgliedschaft im starken, selbstbewussten Nationalstaat – verfasst wurde dies 1821, kurz nach dem Wiener Kongress – mit starkem Identitäts- und Bekenntnisanspruch war es, die G. W. F. Hegel v. a. im Blick hatte. Aber G. W. F. Hegel erkannte auch an, dass der Mensch nicht nur Staatsbürger ist, sondern auch Wirtschaftsbürger – während Ersterer sich Kollektivinteressen unterzuordnen hat, verfolgt Zweiterer je eigene Ziele. Es dürfte deutlich sein, dass eine solche – zwar noch vorsoziologische, die S. aber stark bestimmende – Denkungsart dort entsteht, wo man die Erfahrung macht, dass unterschiedliche Sphären der Gesellschaft unterschiedliche Logiken ausbilden, unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen und unterschiedliche Anforderungen an den Menschen stellen – und damit je eigene Typen individuellen Handelns hervorbringen und legitimieren.

Bei A. Comte, dem die Prägung des Begriffs S. zugeschrieben wird, sollte die S. jene Wissenschaft darstellen, mit Hilfe derer sich zum einen die statischen Strukturen der Gesellschaft beschreiben lassen, die aber zum anderen in der Lage ist, die objektiven Bewegungsgesetze der gesellschaftlichen Entwicklung herauszuarbeiten. A. Comte hat ein geschichtsphilosophisches System (Geschichte, Geschichtsphilosophie) entworfen, nach dem sich im Laufe der Weltgeschichte nach dem theologischen und dem metaphysischen Zeitalter nun das Zeitalter der Rationalität, der Vernunft (Vernunft – Verstand), das positive Zeitalter durchsetzen werde. Hier sollten allein wissenschaftliche, gemäß den Naturwissenschaften gebildete Vernunftgründe Geltung besitzen und so eine allein auf Vernunft und rationales Kalkül gestützte Gesellschaftsform begründen. Der S. wies A. Comte die zentrale Rolle gesellschaftspolitischer Planung und Steuerung zu, die soziologische Vernunft sollte gar Züge einer positivistischen Zivilreligion annehmen und damit durch die positivistische Versöhnung von Ordnung und Fortschritt geschichtspraktische Relevanz erhalten.

In der zweiten Hälfte des 19. Jh. hat W. H. Riehl als Professor für Staatswissenschaft in München eine Gegenerzählung zu dieser Fortschrittsphilosophie entwickelt. Er entwirft ein Denkgebäude, in dem dafür geworben wird, die moderne Gesellschaft nicht schlicht nivellierend auf ein Prinzip zurückzuführen, sondern die unterschiedlichen Schichten und Gruppen der Gesellschaft in ihrer Vielfalt wieder in den „Volkskörper“ zu integrieren. Sein bes.s Interesse gilt dem Proletariat, das losgelöst von Brauchtum und Sitte wieder mit sozialen Bezügen versehen werden sollte. W. H. Riehl hält eine Reform der auseinanderstrebenden kapitalistischen Gesellschaft (Kapitalismus) vonnöten, und der S. kommt nach seiner Auffassung eine bes. Bedeutung zu, denn „in der Erkenntnis der Gesellschaft“ könnte „bereits die Reform der Gesellschaft vorgebildet“ sein (Riehl 1885: 35).

Ähnlich wie W. H. Riehl setzt auch L. von Stein, ab 1846 Professor für Nationalökonomie in Kiel, ab 1855 in Wien, an der sog.en Sozialen Frage an. Zentrales Thema für L. von Stein ist die Frage nach „Wesen, Bestimmung und Recht der Ungleichheit der Individuen mit ihren Folgen für alle menschliche Entwicklung“ (Stein 1988: 11). L. von Stein war kein Sozialrevolutionär, sondern stellte sich die Frage, in welcher Weise die Gesellschaft in der Lage ist, die durch den Industriekapitalismus bedingte radikale Ungleichheit der Klassen zu legitimieren und zu tolerieren und welche Rolle dem Staat zukommt, diese Ungleichheit abzumildern und damit sozialen Frieden zu stiften.

Ein weiteres Beispiel, das hier nicht fehlen darf, ist der wissenschaftliche Sozialismus von K. Marx und Friedrich Engels. K. Marx schrieb am 25.7.1867 in London im Vorwort zur ersten Aufl. des „Kapitals“, es sei „der letzte Endzweck dieses Werks, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen“ (Marx 1962: 15 f.), und zwar ein Bewegungsgesetz, das mit quasi-natürlicher Notwendigkeit sich entfalte und das im Prozess der Befreiung des Proletariats lediglich „die Geburtswehen abkürzen und mildern“ (Marx 1962: 16) helfen könne. Als wesentliche Ursache des radikalen Wandels gilt hier die Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsmittel hin zu einer industriell-technischen Produktionsweise.

Alle diese fünf frühen Theoretiker machen gleichermaßen auf radikale Umwälzungen der Gesellschaft aufmerksam. So verschieden sie auch sein mögen, der S. bzw. der Gesellschaftswissenschaft, weisen sie eine bes. Rolle zu. Sie solle eine bes., gewissermaßen mäeutische Funktion für das Entstehen eines neuen gesellschaftlichen Zustandes, für eine neue Epoche, für eine Zeit haben, die modern genannt wird.

3. Gründungstexte

Die eigentliche Konsolidierungsphase der S. als eigenständige wissenschaftliche Disziplin sollte erst zu Beginn des 20. Jh. einsetzen, und zwar auf der Grundlage von Texten von Émile Durkheim, „De la division du travail social“ (1893; Über die Arbeitsteilung), „Les règles de la méthode sociologique“ (1895; Die Regeln der soziologischen Methode), „Le suicide. Étude de sociologie“ (1897; Der Selbstmord), George Herbert Mead, „Mind, self, and society“ (1934; Geist, Identität und Gesellschaft), im deutschen Sprachraum Ferdinand Tönnies, „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (1897), Max Weber, „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ (1904), „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1904/05), „Wirtschaft und Gesellschaft“ (1922), und Georg Simmel, „Über sociale Differenzierung“ (1890), „Philosophie des Geldes“ (1900). Hier erst beginnt eine eigenständige Begriffs-, Methoden- und Theoriebildung, in deren unmittelbarer Kontinuität auch die heutige akademische S. nach wie vor steht. Ab nun stand weniger Programmatik als Pragmatik auf dem Programm: Die Konsolidierung der S. erfolgte nämlich insb. dadurch, dass die Erfahrung einer brüchig gewordenen Welt in soziologische Analysen von gesellschaftlichen Wandlungsprozessen übersetzt wurde: die Veränderung von Solidaritätsformen bei É. Durkheim, die Bestimmung der Identität des Einzelnen als Produkt der Gesellschaft bei G. H. Mead, der Wandel von Gemeinschaft zu Gesellschaft bei F. Tönnies, Rationalisierungsprozesse bei M. Weber und kulturelle Differenzierungs- und Individualisierungsprozesse bei G. Simmel.

4. Institutionalisierung

Den ersten Lehrstuhl, der den von A. Comte ca. 1838 geprägten Namen S. trug, hatte É. Durkheim (Bordeaux 1887) inne, der 1895 die „Regeln der soziologischen Methode“ veröffentlichte. Das erste Institut für S. entstand 1892 in Chicago (USA) und wurde von Albion Woodbury Small geleitet. Doch schon vorher existierten in England und den USA Social Science Associations (England 1857, USA 1865), die sich als Reformbewegungen verstanden, und noch früher gab es die Statistical Society of London (1834) und die American Statistical Association (1839), die beide auf der Grundlage großer statistischer Datenmengen Berichte veröffentlichten und z. B. eine entspr.e Armengesetzgebung vorbereiteten. Florence Nightingale, die als Begründerin der modernen Krankenpflege und als bedeutende Reformerin des frühen Gesundheitswesens gilt, war Mitglied beider Gesellschaften. Die ersten soziologischen Fachgesellschaften entstanden 1905 (USA) und 1909 (Deutschland).

Ein entscheidender Einschnitt für die deutsche S. war der Nationalsozialismus. Während sich die deutsche Fachgesellschaft für S. während dieser Zeit auflöste und viele Wissenschaftler (Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Karl Mannheim, Karl Popper, Marie Jahoda, Norbert Elias und viele andere) aufgrund ihrer jüdischen Herkunft oder politischer Aktivitäten emigrieren mussten, stabilisierte sich soziologische Expertise v. a. in der Form der sozialstatistischen Beschaffung und Aufbereitung von Daten. Die Machtzentren des Nationalsozialismus hatten ein großes Interesse an empirischen Untersuchungsmethoden, die in eigens gegründeten Zentren zum Zweck der Informationsbeschaffung (Rationalisierung, Produktivitätssteigerung in der Rüstungsindustrie, Einsatz von Zwangsarbeitern, ethnische Segregation, Verwaltung von Häftlingen/der Konzentrationslager) genutzt wurden. Auch frühe Formen der Meinungsforschung entstanden hier. Die großen deutschen Meinungsforschungsinstitute (EMNID-Institut, Institut für Demoskopie in Allensbach, IFO-Institut, Infratest, DIVO) wurden alle zwischen 1945 und 1950 gegründet (vgl. Adamski 2009; Klingemann 2009).

Die sich in der Nachkriegszeit anschließende flächendeckende Institutionalisierung der S. als akademischer Disziplin vermittelt ein sehr breit gefächertes Bild von dem, was die noch junge, aber nun mittlerweile etablierte S. leisten kann. Die S. ist seitdem sehr erfolgreich darin, der Gesellschaft kontraintuitive Selbstbeobachtungen anzubieten, Analysen über soziale Ungleichheit und Bildungsbeteiligung, über die Integration von Minderheiten und den kulturellen Wandel, über Familienformen, geschlechtliche Arbeitsteilung, Lebensalter und Globalisierungsprozesse. Politische, administrative und ökonomische Prozesse sind ohne soziologisches Wissen kaum möglich. Neben dieser erfolgreichen soziologischen Praxis freilich stellt sich die Frage der Gegenstandskonstitution und der theoretischen Selbstverortung.

5. Gegenstandskonstitution

Üblicherweise beschreibt sich die S. als eine multiparadigmatische S., deren Stärke darin besteht, dass die Paradigmen oder Theorietraditionen eine Form der friedlichen Koexistenz gefunden haben. Die Lehrbücher des Faches quittieren dies mit Kategorien wie eher kollektivistisch oder eher subjektivistisch gebaute Theorien oder unterscheiden quantitative von qualitativen/verstehenden S.n. Das ist aber eher die Abbildung der fachstabilisierenden Differenzierung unterschiedlicher Orientierungen. Es ist letztlich kein soziologisches Argument.

Sucht man nach einem soziologischen Argument, könnte man diese Vielfalt jedoch auch in zwei sehr charakteristischen Diskurssträngen aufeinander beziehen, um einerseits die historische Kontingenz der Entstehung dieser Vielfalt nicht zu stark zu betonen und um andererseits auch etwas über die Praxis der soziologischen Formenbildung sagen zu können und über die Frage danach, wie sich soziologische Argumentationsfiguren selbst hervorbringen.

Kreist, wie Jürgen Habermas herausgearbeitet hat, der philosophische Diskurs der Moderne um das Subjekt und seine Überwindung, so gilt das auch für die S., deren Gegenstand freilich nicht die philosophische Substitution der Vernünftigkeit des vernünftigen Subjekts ist. Was die S. seit ihren Anfängen umgetrieben hat, war nicht die Vernunft als solche, sondern die Rekonstruktion des Individuums als Subjekt/Objekt seiner Verhältnisse und der Verhältnisse als der Bedingung der jeweiligen Subjektivität. Die S. hat also zweierlei entdeckt: das handelnde Individuum und das Individuum als Produkt seiner Verhältnisse. Die S. als eigenständige Denkform ist erst entstanden, als sich die Welt als gesellschaftlicher Horizont darstellte, als die Ordnung der Welt als soziale Ordnung erschien und die Idee des individuellen Menschen als des Subjekts der Welt einer merkwürdigen Dekonstruktion unterzogen wurde: Zwar galt und gilt selbstverständlich der Mensch als das Subjekt der Welt, aber als ein vergesellschaftetes Subjekt, was seinen Subjektstatus unbemerkt korrumpiert.

Ein dominanter soziologischer Diskursstrang fasst soziologische Denkungsarten zusammen, die mit ihren Analysen an eben diesem Subjekt bzw. an einem Akteur beginnen. Diese Perspektive zehrt von einem Gesellschaftsbegriff und von einem Begriff des Sozialen, der auf Kontinuitäten setzt: auf stabile Strukturen bei Talcott Parsons, auf lebensweltliche Bedingungen authentischer Rede bei J. Habermas und auf eine gewisse widerständige Substantialität des Sozialen bei beiden, so unterschiedlich die Theorieanlagen auch immer sind. Diskontinuitäten erscheinen aus dieser Perspektive als Dysfunktionen oder Pathologien. Dieser Diskursstrang setzt angemessene Motive voraus, und selbst dort, wo fehlgeleitete Motive diagnostiziert werden, zehrt die Diagnose von der unterstellten Angemessenheit. Auch der gegenwärtige Utilitarismus und Ökonomismus der Rational Choice Theory setzt auf Motive des Handelns von Individuen und auf die motivierende Kollektivität von Gesellschaften. Immer geht es um einen Integrationsmechanismus, entweder i. S. d. Angemessenheit des Handelns oder der Angemessenheit der Handlungskoordination durch legitime Formen normativer Zumutungen oder durch strukturierende Konflikte. Gesellschaft erscheint dann als eine Arena für handelnde Subjekte, die ihre Interessen formulieren und sich gegen die Macht der Verhältnisse in Stellung bringen. Dies ist bis heute das milieuspezifische Bild einer S., die sich selbst als Spieler in dieser Arena vorfindet und den Gesellschaftsbegriff am Ende nah an politischen Funktionen und Leistungen engführt.

Ein zweiter Diskursstrang macht exakt das zum Thema: Er bürstet gegen den Strich, was dem ersten Diskursstrang als Selbstverständlichkeit erscheint – das Motiv als Movens des sozialen Handelns (Handeln, Handlung) und die Gesellschaft als (politisch) vernünftige Kollektivität. Dieser Diskursstrang beginnt mit G. H. Meads Umkehrung der Bedeutung des bewussten Motivs für die Handlung sowie mit John Deweys Einsicht, dass die Zurechnung auf Motive eine spezielle Funktion besitzt, mithin also unterscheidbar ist von anderen Möglichkeiten, nicht nur von anderen Motiven. Der zweite Diskursstrang behandelt also das als Explanandum, was der erste zum Explanans erhob. Es macht einen erheblichen Unterschied, ob eine soziologische Beobachtung in ihrem Gegenstand Motive und Formen der Kollektivität auf der Ebene der Inhalte unterscheidet oder ob sie sich für Ordnungsaufbau interessiert, für die praktische Ereignisstruktur der sozialen Welt, die die Einheit von Motiv und Kollektivität nicht immer schon voraussetzt. Im zweiten Diskursstrang sind es v. a. die S.n G. H. Meads, Pierre Bourdieus und Niklas Luhmanns, die die Dezentrierung des Akteurs betreiben, ohne diese theoretische Figur zu marginalisieren. Alle drei interessieren sich für die praktische, ereignisbasierte Herstellung und den Vollzug von Ordnung. Für alle ist das grundlegende Bezugsproblem der Aufweis von Bezugsproblemen, durch die erst sich die Praxis als Praxis entfalten kann. Bei P. Bourdieu ist es ein ökonomisches Bezugsproblem, bei der alle soziale Praxis der Selbstbehauptung und Distinktion mit ökonomischen Metaphern beschrieben wird. Bei N. Luhmann ist das Bezugsproblem die Frage danach, wie sich Ordnung und Strukturen in je konkreten Gegenwarten operativ aufbauen und wie sich jeweilige Gegenwarten zu anderen Kontexten verhalten.

6. Zeitgenössische Debatten

Die zeitgenössische S. ist nicht trennscharf in diese beiden Diskursstränge differenziert, aber theoretische Neuerungen und empirische Orientierungen zehren von diesen Theoriefiguren. Mit am prominentesten ist ohne Zweifel ein Import von für soziologische Fragestellungen eher unsensiblen Theorien der Verflüssigung von Bedeutungen und der Betonung der Arbitrarität aller Struktur v. a. aus den Kulturwissenschaften, insb. aus dem Poststrukturalismus und dem Dekonstruktivismus (Dekonstruktion). Solche Theorien sind zumeist eher strukturkonservativ gebaut, weil sie sich nahtlos in die Struktur des Arena-Modells, also des oben genannten ersten Diskursstrangs, einmustern und für die andere, die bessere Bedeutung kämpfen, indem sie Kategorien des Geschlechts, der Klasse, der Ethnizität usw. dekonstruieren. An den zweiten Diskursstrang schließen eher Theorien wie Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie oder Science and Technology Studies an, und zwar mit dem Versprechen, essentialistische Konzeptionen von Entitäten in relationale prozesshafte Assemblagen aufzulösen. Dieses Programm wird jedoch praktisch zumeist nicht durchgehalten. Stattdessen werden v. a. nicht-menschliche Entitäten zu Akteuren erhoben, ohne dass daraus Konsequenzen für das Problem des Ordnungsaufbaus gezogen werden. Deutlich ist jedenfalls, dass die großen Debatten der Vergangenheit, die sich eher an politisch-normativen Fragen orientiert haben, in der S. so nicht mehr stattfinden.

Relativ stabil erhalten hat sich der Konflikt zwischen solchen Parteien, die sich bereits in den 1960er Jahren unter dem Titel „Positivismusstreit“ gegenüberstanden – hier ging es um die Streitachse einer eher „kritischen“ und einer eher „affirmativen“, aber auch gleichzeitig einer eher an verstehender Methodik und einer an quantitativen Daten ansetzenden S. Diese Auseinandersetzung war schon damals eher unergiebig und geht auch heute an der Frage vorbei, auf welche komplexen Problembezüge das Fach reagieren kann, zumal völlig unbestritten ist, dass sowohl qualitative als auch quantitative Methoden in der S. gebraucht werden. Jedenfalls muss konzediert werden, dass das Fach international sehr erfolgreich darin ist, die Gesellschaft mit soziologischen Erkenntnissen zu versorgen, aber sie ist nicht mehr jener akademische Akteur, der sie mit kontraintuitiven, mit überraschenden Informationen konfrontiert. Das könnte auch an jenem Defizit liegen, sich selbst nicht mehr über die eigenen Konstitutionsbedingungen als Sozialwissenschaft aufzuklären. Insofern ist die S. ohne Zweifel auch ein wissenschaftliches Opfer ihres institutionellen Erfolgs.