Soziobiologie

S. bezeichnet das naturwissenschaftliche Unternehmen, tierliches und menschliches Sozialverhalten auf der Basis der Darwinischen Evolutionstheorie (Evolution) zu erklären. Human-Soziobiologen sind der Auffassung, dass auch der Mensch – wie alle anderen Organismen neben ihm – reines Produkt des evolutionären Naturgeschehens sei. Dies schließe den menschlichen Geist und seine Manifestationen im Denken, Fühlen und Handeln ausdrücklich mit ein, weshalb die Leistungen des menschlichen Geistes in Kultur und Gesellschaft mit den Implikationen des Evolutionsgeschehens behaftet und deshalb prinzipiell einer evolutionären Analyse zugänglich seien.

Im charakteristischen Unterschied zu herkömmlichen Sozialwissenschaften, wie etwa der Soziologie oder Kulturanthropologie, die schwerpunktmäßig die sog.en proximaten Ursachen (Wirkursachen) für soziale Prozesse und deren Dynamik untersuchen, streben Soziobiologen auch sog.e ultimate Erklärungen des Verhaltens an. Damit sind die funktionalen Zweckursachen sozialer Phänomene gemeint, welche in der adaptiven Selektionsgeschichte der Arten zu suchen sind. Mit Begriffen wie bspw. biologische Anpassung, Fitness und Selektionsvorteil bedienen sich Soziobiologen der Terminologie der Evolutionstheorie. Weiterhin spielen in der S. Kultur- und Artvergleiche eine hervorgehobene Rolle, nicht nur, weil auf diese Weise die Naturgeschichte des infrage stehenden Verhaltens studiert werden kann, sondern auch, weil durch das vergleichende Studium artspezifischer, kultureller und ethnohistorischer Variabilität die Regelhaftigkeit des sozialen Geschehens sichtbar wird.

Der Begriff S. geht auf das 1975 erschienene Lehrbuch „Sociobiology – The New Synthesis“ des vielfach ausgezeichneten Harvard-Zoologen Edward Osborne Wilson zurück. Ein wesentliches Verdienst dieser Monographie bestand darin, die zuvor von unterschiedlichen Autoren in Einzelpublikationen vorbereitete sog.e Hamiltonische Wende der Biologie systematisch entfaltet zu haben. Während man zuvor der Überzeugung war, dass die Mechanismen des Sozialverhaltens aus einer Gruppenselektion hervorgegangen seien, die das Sozialverhalten der Individuen nach deren Beitrag für die Arterhaltung, oder zumindest für das Gruppenwohl, bewerte, wurde in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts zunehmend deutlich, dass diese Überzeugung weder empirisch noch theoretisch Bestand haben konnte. Stattdessen setzte sich die Einsicht durch, dass die biologische Evolution ein konsequent genzentrierter Prozess ist. Die neue Sichtweise wurde v. a. vom britischen Zoologen Richard Dawkins durch sein Buch „The Selfish Gene“ (1975) popularisiert. Inzwischen gilt in der wissenschaftlichen Fachwelt die Hamiltonische Wende der Evolutionstheorie als umfassend vollzogen und bildet damit das derzeit breit akzeptierte Fundament aller modernen theoretischen und empirischen Biologie.

Dass es überhaupt zu einem Paradigmenwechsel in der Biologie kam, war eng mit dem sog.en Altruismus-Problem verknüpft. Wie sollte man sich erklären können, dass sich in einer kompetitiven Welt, die mit den Floskeln vom „struggle for life“ und „survival of the fittest“ skizziert wird, selbstloses Verhalten evolutionär durchsetzen konnte? Fortschritt im Verständnis dieses augenscheinlichen Paradoxons konnte durch die Einsicht erzielt werden, dass das, was auf der phänotypischen Ebene als Altruismus aufscheint, auf der genotypischen Ebene durchaus eigennützig sein kann. In mehreren Modellen wurde diese Einsicht aufgegriffen, erfolgreich theoretisch formalisiert und empirisch unterfüttert, so dass das Altruismus-Problem keine unüberwindliche Hürde mehr zum Verständnis der biologischen Evolution des Sozialverhaltens darstellt. Im Gegenteil: Vielen Soziobiologen gelten Altruismus und Kooperation als Musterbeispiele für die Erklärungskraft dessen, was im Jargon als „the gene’s eye view“ der Evolution bezeichnet wird.

Die Rezeptionsgeschichte der S. war anfänglich sehr holprig. Innerhalb der Wissenschaften, einschließlich der Biowissenschaften selbst, und auch innerhalb einer breiteren Öffentlichkeit gab es gegen die S. große, teilweise sehr emotionalisierte Widerstände. Beobachter der einschlägigen Debatten im letzten Drittel des 20. Jh. sprechen gar von den „Sociobiology Wars“ (Segerstråle 2000: 320). Die Gründe dafür haben mehrere unterschiedlich motivierte Ursachenbündel. So haben Missverständnisse zu Fehlinterpretationen soziobiologischer Arbeit geführt. Dies betraf v. a. die jeweilige Rolle von Genen bzw. von Tradition und Kultur für die soziale Praxis von Menschen, womit die Diskussion um die S. in der fruchtlosen Endlosschleife der Kulturalismus/Naturalismus-Debatte hängen blieb ohne die soziobiologischen Theorieofferten zur Rolle der Kultur im Evolutionsgeschehen sachgerecht zu würdigen. Ferner gab es ideologische Vorbehalte gegen die S. Für sich politisch links verstehende Wissenschaftler fiel wissenschaftliche und ideologisch motivierte Kritik legitimerweise aufeinander, womit die wissenschaftstheoretisch so wichtige Unterscheidung zwischen „Erklären“ und „Rechtfertigen“ eingeebnet wurde. Auf diese Weise wurden Soziobiologen gelegentlich mit der Unterstellung kollektiv unter Ideologieverdacht gestellt, dass sie eine politisch reaktionäre Agenda verfolgten.

Diese Debatten haben sicherlich ihren Teil dazu beigetragen, dass in der Folge der Begriff „S.“ eher gemieden wurde. Stattdessen hat sich bei praktisch gleichem Erkenntnisinteresse der Begriff „Verhaltensökologie“ (Behavioural Ecology) eingebürgert. In der Wissenschaftslandschaft hat sich inzwischen S./Verhaltensökologie gerade auch in Bezug auf das menschliche Sozialverhalten u. a. mit internationalen Fachgesellschaften und hochrangigen Zeitschriften fest etabliert. Überdies strahlen ihre Ergebnisse zunehmend in benachbarte Disziplinen aus. So hat sich eine Evolutionäre Psychologie entwickelt, eine Evolutionäre Soziologie scheint in statu nascendi, und auch die Philosophie blieb von der S. nicht unberührt, was bes. in Arbeiten zu einer Evolutionären Ethik sichtbar wird.