Sozialreform

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1. Begriffsverständnis

Sozialpolitik“ und „S.“ sind Begriffe, die selten trennscharf voneinander geschieden werden. In historischer Betrachtung kommt hinzu, dass mit „S.“ sehr Verschiedenes gemeint sein konnte. Im Ganzen kann man indes sagen, dass unter „S.“, einem v. a. im 19. Jh. geläufigen Begriff, eine grundsätzliche Veränderung der sozialen Ordnung auf friedlichem Weg verstanden wurde, verbunden mit dem Ziel einer gerechteren Verteilung der Lebenschancen. Demgegenüber wurden und werden als „Sozialpolitik“ alle Maßnahmen zur Korrektur und Regulierung der sozialen Verhältnisse bezeichnet (inkl. Fragen „technischer“ Funktionstüchtigkeit der bestehenden sozialpolitischen Systeme).

Programmatik und Zielsetzung der konkurrierenden Reformkonzepte, die sich unter „S.“ zusammengefasst fanden, wurden stark durch normative Ordnungsideen beeinflusst. Um die verschiedenen sozialreformerischen Lager voneinander abzugrenzen, wird der Begriff daher häufig mithilfe von weltanschaulich-ideellen Gruppenbezeichnungen aufgefächert. Danach gab es eine katholische und protestantische, eine liberale und konservative S., zugleich eine überwölbende bürgerliche S. Die bevorzugte Organisationsform dieser Bewegungen war der Verein, ihr wichtigstes Medium das geschriebene Wort. Sie verfolgten das dreifache Ziel, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, politischen Einfluss auszuüben und die Gruppenidentität (Identität) innerhalb des eigenen Trägermilieus zu schärfen. Unterschieden werden kann weiterhin zwischen einer eher praktisch ausgerichteten S., die auf die soziale Aktivierung hinwirken wollte, und einer stärker theoretisch geleiteten S., der es um die Verbreitung bestimmter Reformideen ging. Die erste zielte auf zivilgesellschaftliche Handlungsorientierungen, die zweite folgte stärker politischen Durchsetzungslogiken.

2. Sozialreform im 19. Jahrhundert

„S.“ wurde im 19. Jh. als Gegenbegriff zum revolutionären Umsturz (Reform; Revolution) verstanden. Er umschloss sehr unterschiedliche Antworten auf die Soziale Frage. Zu den frühen, öffentlichkeitswirksamen sozialreformerischen Vereinigungen zählte der 1844 gegründete Centralverein für das Wohl der arbeitenden Klasse, der für eine S. auf Grundlage frühliberalen Gedankenguts eintrat. Zur Bekämpfung der sozialen Not setzte der Centralverein einerseits auf Volksbildung und sittliche Hebung der arbeitenden Klassen, andererseits auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage mit Hilfe von Spar-, Prämien- und Vorsorgekassen. Später trat der Genossenschaftsgedanke (Genossenschaften) hinzu. Die konkrete Wirksamkeit des Centralvereins blieb indes beschränkt. Auf kirchlicher Seite waren es eher die Vertreter der praktischen S., die auf sich aufmerksam machten, im protestantischen Raum v. a. Johann Hinrich Wichern. Auf dessen Initiative entstand 1848/49 der Central-Ausschuss für die Innere Mission, der diakonische Vereinsarbeit mit der Evangelisation der Unterschichten zu verbinden suchte.

Im Kaiserreich war das Flaggschiff der bürgerlichen S. zunächst der 1873 gegründete Verein für Socialpolitik, in dem führende Nationalökonomen der „Historischen Schule“ (Gustav von Schmoller, Lujo Brentano) den Ton angaben (Historismus in der Wirtschaftswissenschaft). Anfänglich v. a. durch die scharfe Stoßrichtung gegen den Manchesterliberalismus bestimmt, propagierten die Führer des Vereins eine aktive Rolle des Staates bei der Bekämpfung der sozialen Gegenwartsnöte. Ihr zentrales Anliegen war, die Arbeiter wieder mit dem Staat zu versöhnen und ihre Integration in die Gesellschaft zu gewährleisten. G. von Schmoller und L. Brentano standen dabei für zwei unterschiedliche Denkströmungen, die eine eher liberalkonservativ, auf institutionalisierten Interessenausgleich bedacht und auf einen konfliktregulierenden starken Staat setzend, die andere mehr sozialliberal und weniger staatsinterventionistisch, für die Förderung der kollektiven Selbsthilfe und die gewerkschaftliche Selbstorganisation der Arbeiter im industriegesellschaftlichen Verteilungskampf eintretend (Stärkung des Koalitions- und Streikrechts). Nach der Jahrhundertwende wurde der Verein in der öffentlichen Wahrnehmung als „Stoßtrupp der Sozialreform“ (vom Bruch 1985: 76) zunehmend von der Gesellschaft für soziale Reform abgelöst, die den Hauptakzent ihrer Agitationsarbeit auf die Stärkung von Koalitionsrecht und Gewerkschaften, eine Erweiterung des Schieds- und Einigungswesens und die Förderung des Tarifvertragswesens legte. Den Arbeitern sollte eine gleichberechtigte Stellung mit den Arbeitgebern verschafft werden. Zur bedeutendsten Plattform der protestantischen Sozialreformer wurde seit 1890 der Evangelisch-Soziale Kongress, mit beträchtlichen Schnittmengen zur bürgerlichen S., während im katholischen Spektrum der im selben Jahr gegründete Volksverein für das katholische Deutschland als sozialpolitische Massenorganisation eine breite Mobilisierungswirkung entfalten konnte.

Was die Ordnungsideen anging, hatten die katholischen Antworten auf die soziale Frage im 19. Jh. allerdings lange Zeit eine stark rückwärtsgewandte Ausrichtung an ständestaatlichen Leitbildern besessen. Im letzten Drittel des 19. Jh. vollzog sich hier dann eine bedeutsame Wende. Der soziale Katholizismus stellte sich nunmehr auf den Boden der gegebenen marktkapitalistischen und industriewirtschaftlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit sollte vornehmlich durch die Gewährung sozialer Rechte entschärft werden. Bes. wichtig war dabei Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler, der in zwei Reden 1869 eine neue Sicht auf die Soziale Frage zu erkennen gab. Nicht mehr vorrangig mit dem Heilmittel der religiösen Erneuerung sollten die sozialen Nöte bekämpft werden, erforderlich erschienen vielmehr vom Staat zu gewährende soziale Schutzrechte (Koalitions- und Streikrecht, Arbeiterschutzgesetze). Auch katholische Sozialpolitiker wie Franz Hitze propagierten die Abkehr von berufsständischen Idealen (berufsständische Ordnung) und eine S. auf der Grundlage der marktwirtschaftlichen Ordnung, d. h. konkret reformpolitische Maßnahmen des Arbeiterschutzes, des Arbeitsrechts und der Arbeiterversicherung.

Einen nachhaltigen Impuls erfuhr der Sozialkatholizismus durch die päpstliche Sozialenzyklika „Rerum novarum“ von 1891 zur „Arbeiterfrage“ (Katholische Soziallehre), die ebenfalls vom Boden der bestehenden Sozialordnung aus argumentierte. Eine Verbesserung der Lage der Arbeiter sei nicht durch Klassenkampf zu erreichen, sondern nur durch sozialpartnerschaftlichen Interessenausgleich (Sozialpartnerschaft). Koalitionsrecht und katholische Arbeitervereine (Christliche Arbeitnehmerorganisationen) wurden anerkannt, das Kampfmittel des Streiks (Arbeitskampf) hingegen abgelehnt. Dem Staat wurde beim Schutz der Arbeiter vor übermäßiger Ausbeutung eine aktive Rolle zugedacht, ansonsten erhielten die vielfältigen sozial-caritativen Initiativen im Umkreis der Kirche weiteren Auftrieb.

Seit den 1880er Jahren rückte die staatliche S. ins Zentrum der Debatten – die Errichtung der Bismarckschen Arbeiterversicherung mit ihren drei Zweigen Kranken-, Unfall- und Alters-/Invaliditäts- bzw. Rentenversicherung (1883, 1884, 1889). Auch hier standen charakteristische sozialreformerische Leitentscheidungen zur Diskussion (Freiwilligkeit/Selbsthilfe oder staatlicher Zwang, staatliche Steuerung oder korporative Selbstverwaltung, Beitrags- oder Steuerfinanzierung, zentralistische oder föderalistische Organisationsmodelle, Begrenzung auf gewerbliche Arbeiterschaft oder Ausweitung auf weitere soziale Gruppen).

3. Sozialreform in der Weimarer Republik

In der Weimarer Republik erwiesen sich Zentrum und Sozialdemokratie als entscheidende Stützen des Sozialstaats und maßgebliche Motoren der Sozialpolitik; die SPD entwickelte sich zur treibenden Kraft eines evolutionären Sozialreformismus. Die Vereine der bürgerlichen S. büßten hingegen ein Stück ihrer Stichwortgeber- und Schrittmacherfunktion ein. Zugleich rückten in der S. neue Wirkungsfelder in den Vordergrund, insb. der soziale Wohnungsbau, die Sozialfürsorge und die Erweiterung der Sozialversicherung um den neuen Zweig der Arbeitslosenversicherung (1927). Im kollektiven Arbeitsrecht wurden Leitideen verwirklicht, wie sie zuvor vielfach von den bürgerlichen Sozialreformern verfochten worden waren. In Kreisen des Sozialkatholizismus erhielten berufsständische Leitkonzepte wieder neuen Auftrieb (so neben der Betonung des Prinzips der Subsidiarität auch in der päpstlichen Enzyklika „Quadragesimo anno“ 1931). Im Übrigen sahen sich die Sozialreformer unter den Vorzeichen schwerer wirtschaftlicher Krisen wiederholt in die Defensive gedrängt. Bereits 1923/24 wurde eine Diskussion über die Grenzen der Sozialpolitik entfacht. In der Schlusskrise der Republik, als es auf breiter Front zu Maßnahmen des Sozialabbaus kam, fanden sich die ideellen wie materiellen Fundamente der S. so grundsätzlich wie nie zuvor in Frage gestellt. Gleichzeitig stieß der Ruf nach einer eugenischen (Eugenik) oder rassenhygienischen Neuausrichtung der Sozialpolitik auf wachsenden Widerhall.

4. Sozialreform in der Bundesrepublik

Eine gewisse Renaissance erlebte der Begriff der „S.“ in den 1950er Jahren, als Bundeskanzler Konrad Adenauer 1953 eine „umfassende Sozialreform“ ankündigte. In der Folge belebte sich die Diskussion über mögliche Neuordnungskonzepte der sozialen Systeme. Die Zielsetzung der Bundesregierung war dabei allerdings eine vergleichsweise begrenzte. S. hieß für sie vornehmlich Sozialleistungsreform: Es ging darum, den „Wildwuchs“ an Sozialleistungen zu systematisieren, die Sozialleistungen stärker aufeinander abzustimmen und den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen. Das gelang nur in sehr begrenztem Umfang. Allerdings erwies sich die 1957 verabschiedete Rentenreform als überaus bedeutsame Etappe der bundesdeutschen S. Die Rente wurde „dynamisiert“, d. h. in regelmäßigen Abständen der Lohnentwicklung angepasst; aus dem Zuschuss zum Lebensunterhalt wurde eine „Lohnersatzleistung“. Die Beteiligung der nicht mehr erwerbstätigen Generation am Wohlstandszuwachs war ein Stück ausgleichender Generationengerechtigkeit. Das Prinzip der Dynamisierung strahlte auch auf andere Sozialleistungen aus. Neben der Rentenreform verblassten andere Anläufe zu einer einzelgesetzlichen S. – die Förderung der privaten Vermögensbildung, die Umsteuerung der Wohnungsbauförderung auf Eigenheimpolitik, eine auf den Ausbau individualisierter sozialer Dienste zielende Fürsorgereform, die Angleichung der Sozialleistungen von Arbeitern und Angestellten. Das terminologische Erbe der „S.“ trat alsbald der Begriff der „Gesellschaftspolitik“ an. Nach der Wiedervereinigung waren es 1994 die Einführung der Pflegeversicherung als fünfte Säule der Sozialversicherung und die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe im Rahmen der kontrovers diskutierten „Hartz IV“-Reformen 2003, die aufgrund ihres Neuordnungscharakters aus dem Kontinuum der sozialpolitischen Gesetzesproduktion herausstachen. Im letzteren Fall zeigte sich noch einmal, dass die Bezeichnung „S.“, die viele den Hartz-IV-Reformen nicht zugestehen wollten, stärker umstritten blieb als der wertneutralere Begriff der „Sozialpolitik“.