Sozialpolitik

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1. Definition

Unter praktischer S. versteht man die politische Beeinflussung gesellschaftlicher Verhältnisse und sozialer Beziehungen mit dem Ziel, die Lebenslage von Personen oder sozialen Gruppen entspr. der in einer Gesellschaft verfolgten Ziele zu verbessern. Diese Grundziele sind in allen demokratisch verfassten Gesellschaften die Sicherung der aktiven Freiheit und der sozialen Sicherheit sowie die Gewährleistung sozialer Gerechtigkeit. S. lässt sich somit als jenes politische Handeln definieren, das darauf gerichtet ist, die gesellschaftliche Stellung jener sozialen Gruppen oder Personen zu verbessern, die hinsichtlich ihrer Freiheitsspielräume eingeschränkt oder in Relation zu anderen schlechter gestellt sind. Je nach politischer Reichweite des Trägers unterscheidet man supra- und internationale, staatliche, kommunale und betriebliche S.

2. Notwendigkeit und Ziele

2.1 Notwendigkeit

S. ist in allen Gesellschaften nötig, in denen eine soziale Frage existiert, d. h. in denen die Unterschiede in den persönlichen Rechten oder den Lebenslagen der Gesellschaftsmitglieder so groß sind, dass sie entweder den von der Gesellschaft gesetzten Grundzielen widersprechen oder die politische Ordnung gefährden. S. ist damit systemunabhängig in allen arbeitsteilig organisierten Gesellschaften erforderlich. Denn ohne S. wäre in allen modernen Gesellschaften die Existenz erwerbsgeminderter oder nicht erwerbsfähiger Gesellschaftsmitglieder gefährdet. Des Weiteren steht das wirtschaftssystemunabhängige Ziel der Maximierung des Produktionsertrags in einem inhärenten Konflikt mit dem Ziel der Sicherung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen. Obwohl also die moderne staatliche S. historisch gesehen eine Reaktion auf die gesellschaftlichen Herausforderungen der Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) war, ist S. nicht nur eine „funktionale Begleiterscheinung kapitalistischer Entwicklung“ (Köppe/Starke/Leibfried 2018: 1577 f.). S. war und ist auch in vorindustrialisierten Gesellschaften und in planwirtschaftlich gesteuerten Wirtschaften (Zentralverwaltungswirtschaft) erforderlich.

Dennoch beginnt die Phase einer umfassenden, neuzeitlichen S. erst mit der Durchsetzung der Ideen des Liberalismus und der Industrialisierung. Dies ist auf drei eng miteinander verknüpfte Ursachen zurückzuführen. Zum einen wurde der sozialpolitische Handlungsbedarf durch die wirtschaftliche Liberalisierung und die Industrialisierung bes. groß und vielfältig. Mit der Durchsetzung der Ideen von Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde durch die Aufklärung und durch den politischen Liberalismus wurden persönliche Abhängigkeitsverhältnisse wie Grundherren- und Leibeigenschaft aufgehoben und Vertragsfreiheit, Gewerbe- und Berufsfreiheit, Freiheit der Arbeitsplatzwahl und Freizügigkeit eingeführt. Dadurch wurde die soziale Frage der vorindustriellen, feudalen und ständisch organisierten Gesellschaften (Feudalismus, Stand) gelöst, die in den strengen persönlichen und wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnissen bestanden hatte. Gleichzeitig entstand jedoch eine neue soziale Frage in Form der Arbeiterfrage des 19. Jh. Sie bestand im Wesentlichen darin, dass die eigentumslosen und sozial ungeschützten Arbeiter zur Existenzsicherung auf Verwertung ihrer Arbeitskraft angewiesen waren. Obgleich formal frei, waren sie gezwungen, ihre Arbeitskraft unabhängig von den jeweils herrschenden Lohn- und Arbeitsbedingungen anzubieten. Dieser Zwang verursachte in Verbindung mit den bestehenden Arbeitsmarktverhältnissen kaum existenzsichernde Löhne bei extrem langen Arbeitszeiten und gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen. Darüber hinaus bestanden nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs und die Bestrebungen der Arbeiterschaft um politische und gewerkschaftliche Organisation wurden zunächst bekämpft. Ein weiterer Grund für die Entwicklung staatlicher S. im 19. Jh. ist jedoch auch die Tatsache, dass erst die mit der Industrialisierung stark gestiegene Produktivität die wirtschaftlichen Voraussetzungen für staatliche S. schaffte. Schließlich ermöglichte die schrittweise Durchsetzung des allg.en, freien und geheimen Wahlrechts breiten Bevölkerungsschichten, ihren sozialpolitischen Bedarf zu artikulieren und politisch umzusetzen. Damit war in den westlichen Industriegesellschaften die Dringlichkeit, aber auch die Fähigkeit und die Bereitschaft zur Lösung sozialer Probleme gegeben.

Obwohl die Arbeiterfrage in den entwickelten Gesellschaften heute als gelöst bezeichnet werden kann, ist die Notwendigkeit einer staatlichen S. weiterhin gegeben. Denn für die überwiegende Mehrheit der Menschen stellt die Erwerbstätigkeit nach wie vor ihre Existenzgrundlage dar. Damit ist die Verfasstheit der Arbeitsmärkte und die Regulierung der Arbeitsbeziehungen weiterhin entscheidend für die Lebenslage der Menschen. Da sich private Versicherungslösungen als unzureichend erwiesen haben, um die sog.en Standardrisiken Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Tod des Ernährers abzudecken, ist auch in entwickelten Volkswirtschaften ein umfassendes System sozialer Sicherung erforderlich. Und schließlich steigt mit zunehmendem Wohlstand der gesellschaftliche Bedarf an einer gleichmäßigen Verteilung von Bildungschancen, Einkommen und Vermögen sowie des Zugangs zu Gesundheits- und sozialen Dienstleistungen.

2.2 Ziele

Generelle Ziele der S. sind a) die Sicherung der individuellen Freiheit und der freien Entfaltungsmöglichkeiten aller Gesellschaftsmitglieder sowie b) die Herstellung von sozialer Gerechtigkeit i. S. v. Startchancen- und Verteilungsgerechtigkeit.

Diese Finalzielsetzungen sollen durch die Realisierung bestimmter Modalziele erreicht werden. Ein vordringliches Ziel staatlicher S. ist der Schutz der unter Arbeitsangebotszwang stehenden abhängig Beschäftigten vor den Gefährdungen, die von der Ausübung der Erwerbstätigkeit ausgehen (S. als Schutzpolitik). Als die gravierendsten Missstände abhängiger Beschäftigungsformen gelten Kinderarbeit, überlange Arbeitszeiten sowie gefahrgeneigte und gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen. Entspr. der Dringlichkeit der Schutzbedarfe beginnt die staatliche S. mit einem Verbot der Kinderarbeit und dem Schutz jugendlicher Arbeiter (Erlass des Kinderarbeitsschutzes durch das preußische Regulativ 1839, durch das eidgenössische Fabrikgesetz 1877 und durch die Gewerbeordnung 1885 in Österreich-Ungarn). Dieser spezielle, zunächst nur auf Kinder und Jugendliche beschränkte Arbeiterschutz wurde in den Folgejahren nach Art und Umfang ausgeweitet, zunächst durch den Wöchnerinnen- bzw. Mutterschutz (1877 in der Schweiz, 1878 in Deutschland und 1885 in Österreich) und anschließend durch einen allg.en Arbeitszeitschutz im Zuge des generellen Verbots der Arbeit an Sonn- und Feiertagen. In der Folgezeit wurden diese Schutzmaßnahmen auf Angestellte und weitere Berufsgruppen ausgeweitet, so dass die S. bereits ab der ersten Hälfte des 20. Jh. keine reine Politik für Industriearbeiter mehr war.

Da für vermögenslose Arbeitnehmer die Verwertung ihrer Arbeitskraft die einzige Erwerbsquelle darstellt, ist neben dem Schutz der Arbeitskraft die soziale Sicherung bei einem Verlust der Erwerbsfähigkeit eine weitere vordringliche Aufgabe der S. So wurde in Deutschland durch die bismarcksche Sozialgesetzgebung schon sehr frühzeitig ein umfassendes System sozialer Sicherung eingeführt (Krankenversicherung 1883, Unfallversicherung 1884, Rentenversicherung 1889). Dieser Schutz vor den wirtschaftlichen Folgen von Unfall, Krankheit, Invalidität oder dem Tod des Ernährers wurde 1927 durch die Arbeitslosenversicherung und 1994 durch die gesetzliche Pflegeversicherung ergänzt (Sozialversicherung). In Österreich wurde im Jahr 1889 die Arbeiter-Unfall- und -Krankenversicherung eingeführt, 1906 trat die gesetzliche Rentenversicherung für Angestellte und 1920 die Arbeitslosenversicherung hinzu. Das Sozialstaatsmodell der Schweiz ist durch die starke Stellung der Kantone und eine enge Verflechtung von öffentlichen und privaten Akteuren charakterisiert, wodurch die Einführung einer bundeseinheitlichen Sozialversicherung erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung erfolgte. Noch im Jahr 1900 scheiterte die Gesetzesvorlage einer obligatorischen Unfall- und Krankenversicherung in einer Volksabstimmung. Die Einführung einer einheitlichen Unfallversicherung erfolgte im Jahr 1918, die einer bundesstaatlichen Alters- und Hinterlassenenversicherung im Jahr 1948. Eine obligatorische gesamtstaatliche Arbeitslosenversicherung wurde in der Schweiz erst im Jahr 1977 eingeführt. Die Schweiz kennt keine gesetzliche Krankenversicherung; seit 1996 existiert jedoch eine bundeseinheitliche Versicherungspflicht.

Die Erweiterung der S. von einer Politik zum Schutz der Arbeitnehmer zu einer Politik der Angleichung materieller Lebenslagen (S. als Ausgleichspolitik) begann in Deutschland in der Weimarer Republik, nachdem die sozialen Sicherungsziele weitgehend erreicht waren und dem Ziel des Ausgleichs von Einkommens- und Vermögensunterschieden größere Bedeutung beigemessen wurde. Zahlreiche Transferleistungen wie das Wohngeld, das Kindergeld, der Kinderzuschlag, die Förderung der Vermögensbildung, die Ausbildungsförderungen und andere Maßnahmen dienen dem Ziel, die Einkommenssituation von Haushalten mit geringen Einkünften zu verbessern. Die größten Umverteilungseffekte zeitigen jedoch das progressive Steuersystem und das System sozialer Sicherung.

Schließlich dienen sozialpolitische Regelungen auch der Sicherstellung der gesellschaftlichen Anerkennung und von Teilhabechancen von Einzelnen bzw. sozialen Gruppen (S. als Gesellschaftspolitik). S. als gesellschaftsgestaltende Strukturpolitik beginnt im Bereich der Bildungspolitik bereits im 18. Jh. mit der Einführung der allg.en Schulpflicht und deren faktischer Durchsetzung im Zuge der Kinder- und Jugendschutzgesetzgebung des 19. Jh. Eine weitere Zäsur stellt die Anerkennung der Gewerkschaften und die Einführung der Tarifautonomie dar (Schweiz: 1911, Deutschland: 1918, Österreich: 1919). Die Anerkennung der Tarifautonomie repräsentiert den Aufstieg der abhängig Beschäftigten vom „Objekt“ staatlicher S. zur selbstverantwortlichen Sozialpartei. In die gleiche Richtung zielen die gesetzlichen Regelungen zur Betriebs- und Unternehmensverfassung. Durch das BetrVG (Betriebsverfassungsrecht) werden den Arbeitnehmern bzw. ihren Vertretern Informations-, Anhörungs- und Mitwirkungsrechte in sozialen, personellen und wirtschaftlichen Angelegenheiten eingeräumt, das MitbestG (Mitbestimmung) gibt den Arbeitnehmervertretungen einen zusätzlichen Einfluss auf die Unternehmensführung in großen Kapitalgesellschaften. Durch die Regelungen der Betriebs- und Unternehmensverfassung werden die Leitungs- und Dispositionsbefugnisse im Unternehmen nicht mehr streng einseitig durch die Interessenvertreter der Anteilseigner ausgeübt, sondern unter Beteiligung der im Unternehmen Beschäftigten.

Von dem Gedanken der sozialen Teilhabe ist auch die soziale Grundsicherung getragen. Denn durch die Leistungen der Grundsicherung werden nicht nur die Mittel zum notwendigen Lebensunterhalt bereitgestellt; die Hilfeempfänger sollen darüber hinaus befähigt werden, am politischen und gesellschaftlichen Leben zu partizipieren (sog.es sozioökonomisches Existenzminimum). Schließlich ist bei der Ausgestaltung aller sozialpolitischen Leistungen darauf zu achten, dass die Wirkungen dieser Maßnahmen gesellschaftspolitischen Zielen wie der Chancengleichheit (Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit) oder der Gleichbehandlung der Geschlechter (Gender) nicht entgegenstehen bzw. diese nach Möglichkeit unterstützen. Sozialpolitische Maßnahmen mit dem expliziten Ziel des Abbaus indirekter geschlechtsspezifischer Diskriminierung sind bspw. der Ausbau der Kindertagesbetreuung und die Partnermonate beim Elterngeld.

3. Instrumente und Träger

3.1 Instrumente

Als Instrumente umfasst die S. rechtliche Regelungen, die Vergabe von Geldleistungen sowie die verbilligte oder unentgeltliche Vergabe von Sach- und Dienstleistungen. Hinsichtlich des Zwangscharakters unterscheidet man zwischen zwingenden und führenden Instrumenten. Zwingende Instrumente schreiben ein bestimmtes Verhalten oder Unterlassen vor (z. B. die Versicherungspflicht oder bestimmte Beschäftigungsverbote), führende Instrumente wollen Anreize setzen, um Menschen zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen (z. B. die Förderung einer privaten, kapitalgedeckten Alterssicherung). Eine bes. Form der Verhaltensbeeinflussung ist das nudging. Dabei wird versucht, durch eine Veränderung der Rahmenbedingungen das Verhalten von Menschen in vorhersagbarer Weise zu beeinflussen, ohne die individuelle Entscheidungsfreiheit einzuschränken oder auf ökonomische Anreize zurückzugreifen (libertärer Paternalismus). Dies geschieht in der S. insb. durch eine gezielte Ausgestaltung bei der Befreiung von der Versicherungspflicht.

3.2 Träger

Urspr. wurden sozialpolitische Maßnahmen durch Verbände, Kirchen, Unternehmen und private Organisationen erbracht. Aufgrund der Vereinheitlichung und Verrechtlichung der S. sowie der Tatsache, dass S. weiterhin primär eine nationalstaatliche Aufgabe ist, ist mittlerweile der Staat Hauptträger. Internationale S. findet v. a. im Rahmen zwischenstaatlicher Sozialversicherungsabkommen statt. Eine Zwischenstellung zwischen inter- und supranationaler S. nehmen die sozialpolitischen Maßnahmen der EU ein. Die S. zählt innerhalb der EU zu den Politikbereichen, die weiterhin grundsätzlich nationalstaatlich geregelt werden. Der Europäische Rat kann jedoch unter Mitwirkung des Europäischen Parlaments Richtlinien zu bestimmten sozialpolitischen Mindeststandards mit qualifizierter Mehrheit erlassen. Diese Richtlinien sind für alle Mitglieder der EU bindend. In bestimmten sozialpolitischen Bereichen wie der sozialen Sicherung, der Mitbestimmung oder den Regelungen über die Beschäftigungsbedingungen ist jedoch weiterhin Einstimmigkeit erforderlich.

Ein weiterer sozialpolitischer Akteur, der in jüngster Zeit verstärkt diskutiert wird, sind multinationale Unternehmen. Da es bislang nicht gelungen ist, globale Mindeststandards bei den Arbeitsbedingungen auch in den Entwicklungs- und Schwellenländern durchzusetzen, wird zunehmend versucht, multinational agierende Unternehmen zur Einhaltung dieser Mindeststandards in ihren Betrieben und in den Betrieben ihrer Zulieferer zu bewegen.

4. Wirkungen

Die S. verursacht zahlreiche persönliche, gesamtwirtschaftliche und gesellschaftspolitische Wirkungen. Primäre Wirkung aus Sicht der Haushalte ist der Schutz vor den wirtschaftlichen Folgen der sog.en Standardrisiken Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Tod des Ernährers. Die Eingriffe des Staates durch sozialpolitische Maßnahmen sind aber auch gesamtwirtschaftlich erheblich. Seit Mitte der 1990er Jahre beträgt die Sozialleistungsquote, also der Anteil der Sozialleistungen am BIP, in Deutschland und Österreich annähernd 30 %, für die Schweiz liegt sie mit 25 % etwas niedriger. Dadurch und durch zahlreiche regulatorische Maßnahmen stabilisiert die S. den Wirtschaftskreislauf, verhindert massive Rezessionen und egalisiert die Einkommensverteilung. Gleichzeitig erhöht die S. aber auch die Produktionskosten und verteuert den Faktor Arbeit. Ob und inwieweit der Sozialstaat das Wirtschaftswachstum beeinflusst, ist in der Literatur umstritten.

Die zentrale gesellschaftspolitische Wirkung neuzeitlicher staatlicher S. besteht jedoch in der Tatsache, dass durch sie die soziale Frage i. S. d. Arbeiterfrage gelöst wurde. Beschäftigte in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis sind den Standardrisiken nicht mehr schutzlos ausgeliefert und unterliegen nicht mehr dem extremen Arbeitsangebotszwang der Frühindustrialisierung. Darüber hinaus können die Leitungs- und Dispositionsbefugnisse in den Unternehmen nicht mehr streng einseitig ausgeübt werden. Durch die S. ist die Wirtschaftsordnung somit nicht mehr kapitalistisch verfasst; die S. repräsentiert vielmehr die Überwindung des Kapitalismus durch den demokratischen Sozialstaat.

5. Herausforderungen und Probleme

Der moderne Sozialstaat sieht sich mit zahlreichen Problemen konfrontiert. Die Wesentlichen sind der demographische Wandel, die Globalisierung und die Digitalisierung der Arbeitswelt. Durch den demographischen Wandel wird der Altenquotient, also der Anteil der Über-65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung, in allen OECD-Staaten deutlich steigen. Für Deutschland, Österreich und die Schweiz wird ein Anstieg dieses Anteils von derzeit etwa einem Drittel auf deutlich über 50 % prognostiziert. Dadurch erhöhen sich die altersbedingten sozialpolitischen Ausgaben für Gesundheit, Pflege und Rente, welche durch Steuern und Sozialabgaben finanziert werden müssen. Diese zunehmende Belastung der ohnehin schon stark belasteten Haushalte und Unternehmen stellt die langfristige finanzielle Tragfähigkeit des Sozialstaats in Frage. Die Globalisierung ermöglicht es Unternehmen, ihre Produktionsstätten ohne den Verlust von Absatzmärkten in Länder mit niedrigen Belastungen durch sozialpolitische Maßnahmen zu verlagern. Dadurch besteht die Gefahr, dass die Staaten in einen ruinösen Standortwettbewerb um die niedrigsten Sozialstandards und die geringste Abgabenbelastung eintreten. Ein spezifisches sozialpolitisches Problem der Globalisierung stellt sich für die EU. Sie steht vor der Frage, inwieweit ein einheitlicher Währungs- und Wirtschaftsraum (EWWU) mit unterschiedlichen nationalen Sozialsystemen dauerhaft funktionsfähig bleiben kann, oder ob der Europäische Binnenmarkt durch eine integrierte europäische S. ergänzt werden muss. Weitgehend ungeklärt sind schließlich noch die Auswirkungen der Digitalisierung der Arbeitswelt auf die staatliche S. Auch wenn nicht davon auszugehen ist, dass die Digitalisierung das sog.e Normalarbeitsverhältnis überflüssig machen wird, so ist doch absehbar, dass in der digitalen Wirtschaft neue Beschäftigungsformen jenseits des klassischen abhängigen Beschäftigungsverhältnisses sozialpolitisch geschützt und reguliert werden müssen.