Sozialpartnerschaft

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1. Konzept

Mit dem Begriff S. wird allgemein die institutionalisierte Kooperation zwischen Verbänden wirtschaftlicher Interessen verstanden, insb. zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Der Begriff wird im deutschen Sprachraum v. a. auf die Tarifpartnerschaft bezogen, deren Kern die Lohnpolitik ist. In Österreich steht er für ein umfassendes System des Interessenausgleichs über die Lohnpolitik hinaus – für ein System der Machtteilung, für eine Fortsetzung der Großen Koalition mit anderen Mitteln.

Im internationalen Kontext ist S. mit dem Diskurs über den Korporatismus und seine Entwicklung verbunden. Unter Korporatismus wird, beginnend mit der Entwicklung der Katholischen Soziallehre ab 1891 (Papst Leo XIII. und dessen Enzyklika „Rerum Novarum“), die Übertragung zentraler Kompetenzen zur Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft auf die organisierten Interessen der in „Ständen“ organisierten Betroffenen verstanden.

Dieser Gedanke wurde auch vom italienischen Faschismus aufgegriffen, der den Staat nicht als parlamentarisches Mehrparteiensystem gestalten wollte, sondern korporativ organisiert – unter dem Diktat der faschistischen Einheitspartei. Dieser explizit antidemokratische Korporatismus, der auch in den vom Faschismus beeinflussten Systemen in Europa (Österreich bis 1938 sowie Portugal, Spanien) und in Lateinamerika in unterschiedlichen Formen existierte, wurde ab 1945 v. a. in Europa als Neokorporatismus nicht als Antithese zur, sondern als Ergänzung der liberalen Demokratie weiterentwickelt. Anfänge eines solchen, demokratischen Korporatismus gab es schon davor – etwa der „New Deal“ während der Präsidentschaft Franklin D. Roosevelts in den USA, aber auch in den Niederlanden.

Das Konzept des Neo-Korporatismus baut auf dem „Tripartismus“ auf: der nicht nur ad hoc, sondern systematisch organisierten Kooperation zwischen den drei Partnern Staat (vertreten durch Parlament und Regierung), Arbeit (vertreten durch Gewerkschaften) und Kapital (vertreten durch die Arbeitgeberverbände). Auf diese Weise ist die so verstandene S. auch eine Konkretisierung der Sozialen Marktwirtschaft, wie sie in der BRD nach 1949 entwickelt wurde: nicht als Alternative zur Marktwirtschaft, sondern als eine Möglichkeit zu deren sozialer Ausgestaltung.

In den real existierenden Demokratien Europas ist S. kein „dritter Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus; sehr wohl aber ein Weg, eine marktwirtschaftliche (in diesem Sinne kapitalistische) Ordnung politisch zu steuern. S. ist der systematische Versuch, Marktwirtschaft sozial verträglich zu gestalten. Eine solche Politik wird heute als eine der historischen Bedingungen für die Stabilisierung und damit für den Erfolg der Demokratie in Europa – jedenfalls in Westeuropa – nach 1945 gesehen.

2. Voraussetzungen für die Umsetzung

Der „Tripartismus“ setzt voraus, dass die Interessenvertreter der Faktoren Arbeit und Kapital in mehrfacher Hinsicht Autonomie genießen: Grundsätzlich müssen sie voneinander unabhängig sein – und sie müssen auch ein Maximum an Selbständigkeit vom dritten Partner eingeräumt bekommen, vom Staat. Dieser wiederum darf seine Kernkompetenzen als Verfassungs- und Rechtsstaat nicht an die Sozialpartner verlieren.

Als Konsequenz kommt der Organisationsform der Partner eine bes. Bedeutung zu: Der Staat ist, wie aus der Erfahrung in Europa nach 1945 ableitbar, nur als demokratisch organisiertes Mehrparteiensystem in der Lage, S. zu respektieren. Die Verbände der Arbeitgeber und Arbeitnehmer wiederum müssen, um dauerhaft sozialpartnerschaftlich agieren zu können, eine Balance zwischen interner Zentralisierung und interner Demokratie sichern: Zentralisierung, um in den Konflikten mit der jeweils anderen Seite (und mit dem Staat) mit einer Stimme zu sprechen; und interne Demokratie, um die Akzeptanz sozialpartnerschaftlich getroffener Entscheidungen – die immer Kompromisscharakter haben – sicher zu stellen.

S. lässt sich nur schwer umsetzen, wenn – etwa wie in der italienischen oder der französischen Tradition – „ideologisch“ voneinander abgegrenzte Gewerkschaften in Konkurrenz zueinander stehen; oder wenn, wie in der britischen Tradition, ein zentraler gewerkschaftlicher Dachverband nur eine geringe Autorität gegenüber den weitgehend unabhängig voneinander agierenden Einzelgewerkschaften besitzt. Ein sozialpartnerschaftlich organisiertes System des Interessenabtausches stößt aber auf Schwierigkeiten, wenn Demokratie als – und nur als – Mehrheitsprinzip und nicht auch als Ausgleich zwischen Mehrheit und Minderheit verstanden wird.

Der S. entspricht ein Demokratieverständnis der Teilung politischer Macht – und nicht ein Verständnis des The Winner Takes All. S. ist daher auch ein geeignetes System, eine grundsätzlich breit akzeptierte Ordnung von Gesellschaft und Wirtschaft zu optimieren. Eine S. ist aber ihrem Wesen nach nicht geeignet, eine bestehende Ordnung durch eine andere zu ersetzen: S. ist ein evolutionäres und kein revolutionäres Instrument.

3. Herausforderungen

In ursächlichem Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der politischen Systeme sowjetischen Typs in Europa war und ist eine Renaissance von Vorstellungen zu beobachten, die jede Beschränkung des Marktmechanismus als Beschränkung der Freiheit sehen. Ideengeschichtlich mit dem Namen Friedrich August von Hayek verbunden, politisch mit der Regierungstätigkeit Margaret Thatchers und Ronald Reagans assoziiert, ist diese als Neoliberalismus etikettierte Sichtweise zwar nicht a priori dem Konzept der S. entgegengesetzt. Aber eine Politik, die primär auf die Freisetzung einer auf individuelle Gewinnmaximierung gerichtete Dynamik setzt, muss sich mit einer permanenten Abstimmung zwischen den notgedrungen oft gegenläufigen Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern reiben.

Zu dieser Herausforderung kommt – für die europäische Ebene – die Konsequenz der europäischen Integration [ Europäischer Integrationsprozess ]. Die nach 1945 entwickelten sozialpartnerschaftlichen Muster wurden unter den Rahmenbedingungen von Nationalstaaten entwickelt. Die EU aber nimmt – allmählich – ihren Mitgliedstaaten Kompetenzen. Insb. der Europäische Binnenmarkt mit seinen Grundfreiheiten entzieht sich nationalstaatlicher Gestaltung. Eine mögliche Schlussfolgerung ist die Übertragung sozialpartnerschaftlicher Parameter auf die europäische Ebene. In Ansätzen ist dies auch schon geschehen – etwa in Form des Eurpäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses als ein dauerhaft eingerichtetes Beratungsorgan innerhalb der Union.

Diese und andere Herausforderungen des v. a. im Europa der Jahrzehnte nach 1945 so erfolgreich beschrittenen Weges der S. werden v. a. von einem Megatrend verursacht: von der Globalisierung. Wenn die europäische Stahlindustrie im Wettbewerb mit einem indischen Stahlkonzern steht, wenn die europäische Schiffbauindustrie von der Entwicklung brasilianischer und südkoreanischer Kapazitäten bedroht ist, können solche Tendenzen kaum oder gar nicht in einem neokorporativen Tripartismus eingefangen werden. Wenn südostasiatische oder auch afrikanische Rahmenbedingungen dazu führen, dass global agierende Textilkonzerne Produktionsstätten aus Europa weg verlagern, hilft die Konfliktbereitschaft europäischer Gewerkschaften nicht: Ihr Gegenüber sind ja nicht mehr deutsche oder italienische Produzenten, die sozialpartnerschaftlich eingebunden die zentralen Interessen der Gewerkschaften aus Eigeninteresse berücksichtigen. Es ist diese Herausforderung, die das europäische Erfolgsmodell S. vor eine ungewisse Zukunft stellt.