Sozialkapital

Version vom 8. Juni 2022, 08:07 Uhr von Staatslexikon (Diskussion | Beiträge) (Sozialkapital)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)

Der Begriff „S.“ taucht erstmals in einer Publikation von Lyda Judson Hanifan aus dem Jahr 1916 auf, in der er die Entstehung einer erfolgreichen Gemeinschaftsbildung in einer 2 180 Einwohner zählenden Gemeinde in West Virginia (USA) beschreibt. Die Lehrer der Gemeinde gründeten zunächst ein Gemeindezentrum, in dem sie gesellige Anlässe für die ortsansässige Bevölkerung organisierten. Aus diesen Treffen entwickelten sich nach und nach Diskussions- und Informationsveranstaltungen, in denen es um Innovationen in der Landwirtschaft oder die Verbesserung von Schulen und Infrastruktur ging. Nach L. J. Hanifan zeigten sich schon innerhalb eines Jahres wesentliche Verbesserungen in der Gemeinde. Etwa konnte der Schulbesuch unter den Kindern und Jugendlichen deutlich gesteigert und eine Verbesserung des Straßennetzes erreicht werden. L. J. Hanifan benutzt den Begriff „S.“ in Analogie zum finanziellen Kapital: Ebenso wie für die erfolgreiche Gründung eines Unternehmens zuerst Kapital durch viele Individuen akkumuliert werden muss, hängt eine erfolgreich funktionierende Gemeinde vom S. ab, d. h. vom Zusammentreffen, Austausch und der Vernetzung der einzelnen Gemeindemitglieder.

Die Idee, dass Individuen durch die Vernetzung mit anderen Vorteile für sich und die Gemeinschaft generieren können, ist später zu einem zentralen Thema der Soziologie geworden. Allerdings beziehen sich nicht alle Autoren explizit auf L. J. Hanifan oder den Begriff des S.s. Etwa hat Marc Sanford Granovetter in seinem berühmten Aufsatz „The Strength of Weak Ties“ (Granovetter 1973) die These vertreten, dass v. a. schwache soziale Beziehungen zu einer Verbesserung des Informationsflusses und dadurch zum Finden von besseren Jobs führen. M. S. Granovetter verwendet in diesem Zusammenhang zwar nicht den Begriff „S.“, spricht aber – ganz i. S. der S.-Theorie – von den Vorteilen der sozialen Einbettung (social embeddedness) von Individuen.

Der Begriff „S.“ wurde in der Folge v. a. von den Soziologen Pierre Bourdieu und James Samuel Coleman wieder aufgegriffen. P. Bourdieu definiert S. als „die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind, oder anders ausgedrückt, es handelt sich um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“ (Bourdieu 1983: 190 f.), und J. S. Coleman schreibt: „Social capital inheres in the structure of relations between persons and among persons“ (Coleman 1990: 302).

In der modernen empirischen Sozialforschung hat v. a. Robert David Putnam in seinem Buch „Bowling Alone“ (2000) auf den Wert von S. hingewiesen. Er erweiterte dabei die Definition des S.s um Vertrauen sowie Normen wie Reziprozität: „Social capital refers to connections among individuals, social networks and the norms of reciprocity and trustworthiness that arise from them“ (Putnam 2000: 19). Die grundlegende Idee bei R. D. Putnam ist, dass eine hinreichende Vernetzung der Individuen Vertrauen in andere Menschen fördert und zu einer stärkeren Berücksichtigung von Normen wie Reziprozität und Fairness führt. Die soziale Einbindung von Individuen schafft demnach Gelegenheiten, durch kooperatives Verhalten in die eigene Reputation zu investieren. Durch diese Förderung der Kooperationsbereitschaft profitieren Gesellschaften u. a. auch in wirtschaftlicher Hinsicht. So zeigen empirische Studien, dass in wirtschaftlich erfolgreichen Gesellschaften auch ein höheres Ausmaß an Vertrauen vorliegt. Eine Studie von Axel Franzen und Katrin Botzen zeigte für die rund 400 Landkreise und kreisfreien Städte in Deutschland, dass Landkreise mit einer hohen Anzahl an Vereinen pro Einwohner auch ein höheres BIP erwirtschaften. Ein hohes Ausmaß an S. führt aber nicht nur zu wirtschaftlichen Vorteilen. Empirische Studien legen überdies nahe, dass Individuen mit besseren Netzwerkeinbindungen auch über eine höhere Lebenszufriedenheit verfügen und einen besseren subjektiven Gesundheitszustand (Gesundheit) angeben. Viele Studien über die Vorteile von S. basieren allerdings auf der Analyse von Querschnittsdaten, mit denen die kausale Richtung der Zusammenhänge nicht überprüft werden kann und deren Erkenntnisse entspr. unsicher sind. Zuverlässigere Ergebnisse lassen sich durch die Analyse von Längsschnittdaten gewinnen, auf die sich die moderne empirische Sozialforschung deshalb auch zunehmend konzentriert.