Sozialer Katholizismus

Version vom 8. Juni 2022, 09:07 Uhr von Staatslexikon (Diskussion | Beiträge) (Sozialer Katholizismus)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)

1. Begriff

S. K. bezeichnet die Kräfte und Bewegungen der Selbstorganisation der Katholiken, die die Lage der Arbeiterschaft als soziales Problem betrachten und auf Lösungen der Sozialen Frage dringen. Entstanden im Umbruch von der ständisch geprägten Feudalgesellschaft (Feudalismus) zur modernen Industriegesellschaft mit einer Ökonomisierung des Bodens, Auflösung der Zunftordnungen, einem kapitalgesteuerten Wirtschaftssystem und Bestrebungen zur Demokratisierung der Politik, bildet er zusammen mit dem politischen Katholizismus einen Teil der Emanzipationsbewegung katholischer Bevölkerungsteile, in der diese um Anerkennung als gleichberechtigte Bürger in protestantischen Mehrheitsgesellschaften ringen. Organisatorisch findet er Ausdruck in (Arbeiter-)Vereinen, Verbänden und christlichen Gewerkschaften. Programmatisch grenzt er sich scharf vom säkularistischen Liberalismus wie vom Sozialismus/Kommunismus ab, was die Übernahme von Deutungselementen der konkurrierenden Weltanschauungen nicht ausschließt. Der S. K. ist vornehmlich ein Phänomen mitteleuropäischer, gemischt konfessioneller Länder wie Deutschland, Schweiz, Niederlande und Belgien. Als Teil einer modernen Bewegung, die sich gleichzeitig gegen die Moderne richtet, hat der S. K. zur Öffnung der katholischen Kirche zur modernen Welt (Kirche und Welt) beigetragen und mit den päpstlichen Sozialenzykliken und dem Zweiten Vatikanischen Konzil weltkirchliche Bedeutung erlangt.

2. Die Anfänge

Der S. K. reicht in die Zeit der religiösen Revitalisierung nach der Französischen Revolution als Gegenbewegung zur rationalistischen Aufklärung zurück. Vertreter einer romantischen Sozialkritik (Politische Romantik) machten als erste auf die Kehrseite des kapitalistischen Umbruchs für das Industrieproletariat aufmerksam. Angeregt durch Erfahrungen mit dem englischen Fabriksystem verfasste Franz von Bader 1835 eine Schrift mit dem programmatischen Titel „Über das dermalige Mißverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs zu den Vermögen besitzenden Klassen der Sozietät“. Zwei Jahre später hielt der junge katholische Abgeordnete des badischen Landtags, Franz-Josef Buß, seine parlamentarische Antrittsrede zu dem in Baden noch kaum vorhandenen Fabriksystem und entwickelte sozialpolitische Reformforderungen. Im zeitgenössischen Katholizismus fehlte aber für die hellsichtigen Ideen der frühen Sozialreformer noch ein Resonanzraum, sodass sie wirkungslos blieben. Zur prägenden Gestalt des S.n K. wurde Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler; in seiner Schrift „Die Arbeiterfrage und das Christentum“ (1864) machte er das Schicksal der Industriearbeiterschaft zum Thema und trat ab 1869 für die Selbstorganisation der Arbeiter und für eine staatliche Arbeiterschutzgesetzgebung ein.

3. Die Formierung

Organisatorisch ruhte der S. K. auf drei Säulen: den Arbeitervereinen, den christlichen Gewerkschaften (Christliche Arbeitnehmerorganisationen) und dem Volksverein für das katholische Deutschland; in der 1870 gegründeten Partei Das Zentrum (Zentrum) besaß er einen parteipolitisch-parlamentarischen Arm. Die programmatische und personelle Verflechtung zwischen S.m K. als Bewegung und dem Zentrum als Partei des politischen Katholizismus blieb eng. Ging die erste Generation von Arbeitervereinen in den Wirren des Kulturkampfs unter, setzte nach dessen Ende eine zweite Welle von Neugründungen ein. Deren Impulsgeber waren die „roten Kapläne“ und die Sozialreformer des Vereins Arbeiterwohl mit Franz Brandts und Franz Hitze an der Spitze. Die Arbeitervereine nutzten die Rechtsform des bürgerlichen Vereins, hielten aber an der Präsidesverfassung mit amtskirchlicher Leitung und Kontrolle fest. Die christlichen Gewerkschaften – 1894 wurde der erste Gewerkverein christlicher Bergarbeiter im Ruhrgebiet gegründet – stellten einen neuen Typus der Selbstorganisation im S.n K. dar, ließen auch protestantische Mitglieder zu und blieben ohne klerikale Leitung. Sie verstanden sich als Interessenvertretung christlicher Arbeiter im Gegenüber zu den der Sozialdemokratie nahestehenden „Freien Gewerkschaften“. Mit 350 000 Mitgliedern machten sie im Jahr 1914 14 % aller Gewerkschaftsmitglieder in Deutschland aus. Teile des S.n K. und der katholischen Hierarchie lehnten die überkonfessionellen christlichen Gewerkschaften entschieden ab. Der erbittert ausgetragene deutsche Gewerkschaftsstreit endete mit einer päpstlichen Duldung, schadete aber den Christlichen Gewerkschaften wie dem S.n K. insgesamt nachhaltig. Der 1890 von Ludwig Windthorst und der Spitze des Vereins Arbeiterwohl gegründete Volksverein für das katholische Deutschland mit Sitz in Mönchengladbach fasste alle sozialpolitischen Aktivitäten im Katholizismus zusammen und verschaffte ihnen als Bildungsbewegung eine Massenbasis. Er besaß am Ende des Kaiserreichs 800 000 Mitglieder und diente als Kaderschmiede für eine sozialpolitisch aktive Elite im Zentrum.

Programmatisch kämpften von Anfang an zwei Grundrichtungen um die Vorherrschaft im S.n K.: Die der romantischen Sozialkritik verpflichtete „Wiener Richtung“ mit dem zum Katholizismus konvertierten mecklenburgischen Adeligen Karl Freiherr von Vogelsang an der Spitze vertrat eine Sozialreform, die wirtschaftliche und politische Fehlentwicklungen mit der Rückkehr zu einer vormodernen Ständegesellschaft (Stand) zu überwinden trachtete. Während die „Wiener Richtung“ der durch wirtschaftsliberale Ideen betriebenen Durchsetzung einer kapitalgesteuerten Wirtschaft feindlich gegenüberstand, ging die Mönchengladbacher Richtung davon aus, dass die Entwicklung hin zu einer kapitalistischen Wirtschaft nicht zu verhindern sei und für die Bevölkerung auch Vorteile mit sich bringe. Die gesellschaftliche Integration der Industriearbeiterschaft müsse deshalb innerhalb einer kapitalgesteuerten Wirtschaft verfolgt werden. Dazu sei eine Zuständereform mit staatlichem Schutz und Rechten der Selbstorganisation für die Arbeiter notwendig. Beide Richtungen sahen sich durch die Enzyklika „Rerum novarum“ (Sozialenzykliken) 1891 bestätigt. Die politische Konstellation unter Reichskanzler Otto von Bismarck verschaffte der „Mönchengladbacher Richtung“ eine historische Wirkmächtigkeit weit über deren zahlenmäßige und politische Stärke hinaus. In der Entwicklung des deutschen Wohlfahrtsstaats als „korporatistischer Sozialversicherungsstaat“ (Gabriel/Reuter 2013) wird der Einfluss katholischer Sozialpolitiker wie Georg von Hertling und F. Hitze sowie des sozialpolitischen Flügels des Zentrums deutlich.

4. Die Zwischenkriegszeit

Mit dem Ende des Kaiserreichs rückte der S. K. in die Mitte der neuen Gesellschaft mit einer demokratischen politischen Ordnung. Seine Lage war durch widersprüchliche Entwicklungen gekennzeichnet. Einerseits ließen ohne Druck von außen unter den Katholiken die Motive nach, sich in der Bewegung des S.n K. zu organisieren. Auch der Volksverein für das katholische Deutschland verlor an Mitgliedern und geriet gegen Ende der 1920er Jahre in eine finanzielle Krise. Andererseits prägte der S. K. die Grundlegung und sozialpolitische Entwicklung (Sozialpolitik) des Weimarer Wohlfahrtsstaats nachhaltig. Das neu geschaffene Arbeitsministerium wurde der bevorzugte Ort von Akteuren des S.n K., die eine pragmatische Politik der Eindämmung des Kapitalismus und des Ausbaus des korporatistischen Wohlfahrtsstaats betrieben. Der frühere Direktor des Volksvereins für das katholische Deutschland, Heinrich Brauns, stand als Minister mit der längsten Amtszeit während der Weimarer Republik zwischen 1920 und 1928 an der Spitze des Arbeitsministeriums. Die größte sozialpolitische Innovation der Weimarer Zeit, die Einführung einer Arbeitslosenversicherung (1927), lässt den Einfluss der Mönchengladbacher Richtung erkennen. Auch der in Weimar begonnene Weg einer am Subsidiaritätsprinzip (Subsidiarität) orientierten „dualen“ Wohlfahrtspflege in Deutschland mit starken kirchlichen Wohlfahrtsverbänden lässt die Handschrift des karitativen und S.n K. erkennen. Mit wachsenden wirtschaftlichen und politischen Spannungen kehrten die alten Richtungskämpfe im S.n K. wieder zurück. In der Tradition K. Freiherr von Vogelsangs griffen der Wiener Ökonom Othmar Spann und der österreichische Publizist Anton Orel den S.n K. Mönchengladbacher Richtung als „Anpassungskatholizismus“ (Ruster 1932: 102) an den liberalen Kapitalismus scharf an. Von 1928 an suchten vom Volksverein für das katholische Deutschland zusammengerufene katholische Sozialwissenschaftler (Königswinterer Kreis) eine überzeugende Einheitslinie für den S.n K. zu finden; deren solidaristische Positionen bildeten das Grundgerüst für die Sozialenzyklika „Quadragesimo anno“.

5. Verkirchlichung und Transformation

Die Organisationen des S.n K. haben im Unterschied zu den amtskirchlichen Strukturen die nationalsozialistische Herrschaft nicht überstanden. Nach dem Krieg zeigte sich die Mehrheit der Bischöfe an einem Wiedererstehen eines starken, auch finanziell unabhängigen S.n K. nicht interessiert. Der von den Nationalsozialisten als erstes verbotene Volksverein für das katholische Deutschland blieb Geschichte. Arbeitervereine, die gegen den Willen vieler Bischöfe wieder entstanden, rückten in die Nähe amtskirchlicher Strukturen („Verkirchlichung“). Trotz Mitgliederschwund und Überalterung stellen die zumeist auf der Ebene von Gemeinden organisierten Vereine der KAB, des Kolpingwerks und des KKV nach wie vor einen Resonanzraum zur Artikulation sozialer Fragen i. S. d. Katholischen Soziallehre dar. Eine Minderheit katholischer Arbeiter trat dem 1959 gegründeten, umstrittenen CGB bei, während sich die Mehrheit der Entscheidung für Einheitsgewerkschaften (Gewerkschaften) ohne weltanschauliche Ausrichtung anschloss. Der Tradition des politischen und S.n K. zugl. sehen sich bis heute die Sozialausschüsse der CDA verpflichtet. Trotz der organisatorischen Zersplitterung des S.n K. haben dessen programmatische Positionen zur wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung, der Mitbestimmung und des Arbeits- und Sozialrechts bis heute wenig an Virulenz verloren. Die Pluralisierung von Akteuren in Vereinen, Verbänden, kirchlichen Werken und Initiativen hat – wie der Konsultationsprozess und das Sozialwort der Kirchen („Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“) aus dem Jahr 1997 gezeigt haben – neue Formen der Wirksamkeit auf ökumenischer Basis hervorgebracht.