Sozialenzykliken

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Der Begriffsbestimmung (1.) folgen ein Überblick über das Textkorpus der S. (2.), Überlegungen zur Textgattung und ihrer hermeneutischen Erschließung (3.) sowie die Vorstellung der einzelnen Dokumente (4.) samt einem kurzen Ausblick (5.) [s. a.: Christliche Sozialethik, Katholische Soziallehre, Sozialprinzipien ].

1. Definition

S. sind hochrangige weltkirchliche Rundschreiben, mit denen die Päpste seit Ende des 19. Jh. zu den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Transformationsprozessen der modernen Gesellschaft Position beziehen. Sie richteten sich zunächst an die Vertreter der kirchlichen Hierarchie und einen innerkirchlichen Adressatenkreis, seit den 1960er Jahren auch an die säkulare Weltöffentlichkeit. Die S. bilden das Rückgrat der kirchlichen Sozialverkündigung, der auch Apostolische Schreiben, Konzils- und Synodendokumente sowie nachsynodale Schreiben, lokalkirchliche Stellungnahmen von Bischöfen und Bischofskonferenzen sowie Laienvertretungen und katholische Verbände zugeordnet werden. Das in den S. sich artikulierende „soziale Lehramt“ schöpft aus theologischen Traditionen, christlichen Praxen und gesellschaftlichen Erfahrungen (u. a. Politischer Katholizismus; Sozialer Katholizismus [ Katholizismus ]) und rekurriert auf Erkenntnisse aus Gesellschafts-, im Kontext der ökologischen Frage auch Naturwissenschaften sowie Sozialphilosophie und Sozialethik. Als anlassbezogene Stellungnahmen zu gesellschaftlichen Entwicklungen und Problemlagen formen die S. kein geschlossenes Lehrgebäude; sie spiegeln eine korrekturoffene Entwicklung auf Basis christlicher Grundüberzeugungen in Korrespondenz mit dem gesellschaftlichen Wandel.

2. Genealogie der Sozialenzykliken

Die meisten geschichtlichen Darstellungen zur Soziallehre der Kirche zählen zum „Kanon“ der S. (Stand: 2020), die Weltrundschreiben Leos XIII. „Rerum novarum“ (RN, 1891), Pius’ XI. „Quadragesimo anno“ (QA, 1931), Johannes’ XXIII. „Mater et magistra“ (MM, 1961) und „Pacem in terris“ (PT, 1963), Pauls VI. „Populorum progressio“ (PP, 1967), Johannes Pauls II. „Laborem exercens“ (LE, 1981), „Sollicitudo rei socialis“ (SRS, 1987) und „Centesimus annus“ (CA, 1991), Benedikts XVI. „Caritas in veritate“ (CiV, 2009) und Franziskus’ „Laudato si’“ (LS, 2015) sowie das Apostolische Schreiben Pauls VI. „Octogesima adveniens“ (OA, 1971) und das Dokument der Römischen Bischofssynode „De iustitia in mundo“ (IM, 1971). Einige Erweiterungen des „Kanons“, die den dominanten wirtschafts- und sozialpolitischen Fokus komplementieren, wären angebracht: Die Friedensnote „Dès le début“ (1917) und die Enzyklika „Pacem, Dei munus“ (1920) Benedikts XV. spielen in der Historiographie der katholischen Soziallehre jenseits friedensethischer Forschung bis dato keine Rolle, sind als Startpunkt der politisch-ethischen Traditionslinie im 20. Jh. aber wichtige Referenzen für PT. Die von QA ausgehende gesellschaftsethische Linie wird in den weiteren Enzykliken Pius’ XI. „Mit brennender Sorge“ und „Divini redemptoris“ (beide 1937) gegen die zeitgenössischen Totalitarismen fortgeschrieben. Pius XII. hat keine Enzyklika zu sozialen Fragen, jedoch zahlreiche wegweisende Ansprachen hinterlassen. In der Genealogie der S. auf die Pastoralkonstitution GS des Zweiten Vatikanischen Konzils Bezug zu nehmen, ist Konsens der Forschung.

3. Hermeneutische Erschließung der Sozialenzykliken

Anspruch und Kompetenz(-grenzen) der päpstlichen Wortmeldungen zu wirtschaftlichen, (sozial-)politischen und ökologischen Fragen werden in den S. explizit reflektiert. Das päpstliche Lehramt kann keine genuine ökonomische, (sozial-)politische oder ökologische Fachkompetenz beanspruchen. In Anerkennung der „Autonomie der irdischen Wirklichkeiten“ (GS 36) wollen die S. keine „technischen“ Lösungen zu politischen oder wirtschaftlichen Problemen bieten (QA 41; IM 38; SRS 41). Hingegen reklamieren sie eine moralische Kompetenz sui generis. Während Pius XI. von der „höchsten Autorität“ des Papstamtes ein „Richteramt über die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen“ (QA 41) ableitet, weicht der moralische Exklusivanspruch seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil einem dialogischen Verständnis sozialmoralischer Verantwortung der Kirche. Begründet in der inkarnatorischen Grundstruktur des Glaubens, begreift diese Verantwortung „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art“ (GS 1) als Ort von Glaube und Gottesbegegnung und das Engagement für eine gerechte(re) Welt als konstitutive Dimension der Verkündigung des Evangeliums (vgl. IM 6, 36). Das „soziale Lehramt“ (CA 2) gründet theologisch im Zusammenhang von Heilsverheißung und Gerechtigkeitsverpflichtung. Es umfasst die Aufgabe, in jeder geschichtlich neuen Situation die „Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums“ zu erforschen und zu deuten (GS 4), sowie eine genuine Verantwortung für soziale Gerechtigkeit i. S. d. Option für die Armen (vgl. SRS 42 f.).

Die Weitung zur Weltkirche seit Mitte des 20. Jh. stellt das päpstliche Lehramt vor die Herausforderung, Grenzen der eigenen Zuständigkeit innerhalb der kirchlichen Verantwortungsstrukturen i. S. d. Subsidiaritätsprinzips (Subsidiarität) zu bestimmen. Paul VI. erkennt die unersetzbare Sach- und Erfahrungskompetenz der Lokalkirchen in Bezug auf konkrete Kontexte und Problemlagen an und beschränkt das päpstliche soziale Lehramt auf das von „Rom“ aus Sag- und Beurteilbare (OA 4). Als global adressierte Textgattung sprechen die S. eher allg.; sie können nur ins Konkrete geöffnet werden, wenn explizit auf kontextspezifische Erfahrungen und Kompetenzen rekurriert wird. Kontexuelle Rezeption der S. unter weltkirchlichen Kommunikationsbedingungen bedeutet nicht nur „Anwendung“ päpstlicher Äußerungen, sondern dialogisches und kreatives Zusammenwirken der Perspektiven und Kompetenzen.

Als gewichtige päpstliche Wortmeldung können S. auch in einer weltanschaulich und religiös pluralen Öffentlichkeit mit Aufmerksamkeit über den kirchlichen Binnenraum hinaus rechnen. Um nachhaltig wirken zu können, muss appellative Kraft mit der Aneignung von Sachkompetenz in der Problemanalyse, argumentativ ausgewiesenen ethischen Urteilen und Handlungsimpulsen zusammenwirken. Anspruch auf Verbindlichkeit kommt ihnen nicht anders denn aufgrund der Überzeugungskraft des Arguments und der Glaubwürdigkeit des kirchlichen Absenders zu.

Als zeitgebundene päpstliche Stellungnahmen können die S. anhand einer Reihe systematischer wie pragmatischer Gesichtspunkte analysiert werden:

a) Thematisch kann eine „klassische“ Fragestellung (z. B. Arbeit, Frieden) unter veränderten gesellschaftlichen Gegebenheiten (wieder) aufgenommen, ein Thema ganz neu gesetzt (etwa die „Entwicklung der Völker“ [PP 1] in PP) oder gewichtet werden (wie die ökologische Frage in LS). Zeitgenössische Erfahrungen und Problemstellungen, unter denen ein Thema (oder Themenbündel) behandelt wird, bestimmen die sozial(-ethisch)e „Botschaft“, die vermittelt, und die Intensität, mit der diese zur Geltung gebracht wird.

b) Wie ein Problem analysiert, wie ethisch und theologisch argumentiert wird und ob ein sachbezogener, begründender oder eher paränetischer Duktus vorherrscht, beeinflusst die innerkirchlichen, wie säkularen Wirkungsmöglichkeiten.

c) Eigenheiten der Argumentation, Differenzen in Sprache und Stil lassen ggf. Schlüsse auf den Entstehungsprozess und das Ringen um Positionen zu. Wessen Expertise in die Textentstehung eingeflossen ist, wird selten bekannt gemacht, kann aber u. U. aus einer „offiziösen“ Kommentierung, der Beteiligung bestimmter Akteure an der öffentlichen Präsentation oder im Quellenstudium ex post erschlossen werden.

d) Welche kirchlichen und/oder außerkirchlichen Zielgruppen der Text erreichen will, hängt mit dem (historischem Wandel unterworfenen) Amts- und Kirchenverständnis (Amt, Katholische Kirche) des päpstlichen Absenders, aber auch mit der Einschätzung der gesellschaftlichen Lage zusammen, die den primären Rezeptionsrahmen bildet.

e) Zeitpunkt der Veröffentlichung und signifikante Ereignisse (Krisen, Gedenkanlässe) im Umfeld lassen i. d. R. Schlüsse auf die Motive und Wirkabsichten des Absenders zu.

f) Mit wachsendem zeitlichen Abstand kann die kirchliche wie säkulare Rezeption eines Rundschreibens evaluiert werden. Welche Argumente, Passagen, Denkfiguren wiederkehren und sich durchsetzen, ist ebenso interessant zu verfolgen wie die Frage, was nicht (oder verzögert) rezipiert wird, und welche Positionen in welchen Kontexten Kritik provozieren.

g) S. reagieren auf konkrete historisch-politische Veränderungsprozesse, gleichwohl versteht sich der daraus erwachsene Überlieferungsstrang als konsistente Tradition (vgl. z. B. CA 3). Ein ausgebautes Referenzsystem auf vorausgehende S. indiziert Verknüpfungen mit bzw. Fortschreibungen der Lehre der Vorgänger. Explizite Bezugnahmen auf frühere Positionierungen können (paradoxerweise) auf eine Neubewertung von Sachverhalten hinweisen, die durch Rekurs auf Bewährtes abgesichert bzw. legitimiert werden soll. Neues zu entdecken, verlangt den genauen Blick darauf, wie Aussagen aus der Tradition in neue Zusammenhänge eingebettet werden. Selten werden Positionen explizit korrigiert.

h) Schließlich ist zu fragen, inwiefern die Impulse der S. für die Gesellschaftsgestaltung in der ekklesialen Sozialgestalt selbst adaptiert werden – man denke an anhaltende Kontroversen etwa um die Geltung des Subsidiaritätsprinzips sowie um die Aneignung menschenrechtlicher Standards in der Kirche.

4. Die Sozialenzykliken – Wegmarken einer dynamischen Entwicklung

In chronologischer Folge werden Themen, Schwerpunkte und Kernaussagen der S. vorgestellt, in den jeweiligen Kontext und in den Gesamtzusammenhang der Soziallehre der Kirche eingebettet.

„Rerum novarum“, das erste päpstliche Rundschreiben zur „Sozialen Frage“ reagiert auf die „Arbeiterfrage“ (RN 1), den neuartigen sozialen Konflikt (Konflikte, soziale) in den sich entwickelnden europäischen und nordamerikanischen Industriegesellschaften: Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie Rechte der Arbeiterschaft; ideologische Auseinandersetzungen zwischen liberalem Kapitalismus und Sozialismus; Polarisierung zwischen restaurativen und innovativ denkenden katholischen Kräften bzgl. der Zulässigkeit oder sogar der Gebotenheit staatlicher Interventionen respektive einer sozialstaatlichen Flankierung des Wirtschaftslebens. Vorstudien zur Enzyklika lieferte die 1885 durch Gaspard Kardinal Mermillod initiierte Union de Fribourg; die Freiburger Katholische Vereinigung für soziale und wirtschaftliche Studien versammelte kontroverse Positionen europäischer Experten. Erträge der Zusammenarbeit wurden Leo XIII. 1889 unterbreitet. Zudem wirkten US-amerikanische Auseinandersetzungen um Rolle und Gestalt von Arbeitervereinigungen/Gewerkschaften, v. a. vermittelt über James Kardinal Gibbons (Baltimore), auf die Enzyklika ein. RN erörtert die Herausforderungen der Sozialen Frage für die Kirche, den Staat sowie die Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Sie verurteilt die Nötigung der besitzlosen Massen unter „ein nahezu sklavisches Joch“ (RN 2) und verteidigt – mit antisozialistischer Stoßrichtung – auf naturrechtlicher Basis (Naturrecht) das private Eigentumsrecht zugunsten der Arbeiterschaft (RN 3–12). Die Idee des Klassenkampfes wird zurückgewiesen; weil Kapital und Arbeit aufeinander angewiesen seien, gelte es, eine ausgleichende Ordnung zu errichten (RN 15). Explizit werden Würde und Menschenrechte (RN 21; 24) der Arbeiter betont; sie dürfen nicht übermäßig beansprucht und auf ihre Arbeitskraft reduziert, faire Arbeitsbedingungen und die Einhaltung von Ruhezeiten, v. a. die Sonntagsruhe, müssen gewährleistet werden (RN 32 f.). RN lehnt einen liberalistischen Minimalstaat ab und begründet die Fürsorgeverantwortung des Staates für die Arbeiterschaft mit deren Beitrag zum volkswirtschaftlichen Wohlstand (vgl. RN 26–29). Der Arbeiter sei auf den Broterwerb durch Arbeit angewiesen und insofern nicht frei im Hinblick auf das Lohnverhältnis. Die Vorenthaltung eines (für die Familie) Lebensunterhalt sichernden Lohns wird als Gewalt verurteilt. Die Unverletzlichkeit des Eigentums der Arbeiter erfordert eine nur maßvolle Besteuerung, um nicht die Eigentumsbildung zu untergraben (RN 34 f.). Die Koalitionsfreiheit der Arbeiter und die (katholischen) Arbeitervereine nehmen breiten Raum ein; die Verhältnisbestimmung zu gewerkschaftlichen Vereinigungen ist noch nicht geklärt (RN 36–44). Als erste lehramtliche Reflexion auf die Folgen der Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) ist RN traditionsbegründend, markiert klare Standpunkte zu den Rechten der Arbeiter, dringt aber noch nicht zu einer systematischen Ursachenanalyse vor.

Im Pontifikat Benedikts XV. (1914–22), der die Bestrebungen Leos XIII. aufnimmt, den Heiligen Stuhl als moralische Autorität in den Konflikten der Gegenwart zur Geltung zu bringen, zeichnet sich eine zweite, friedens- und politikethische Linie der Soziallehre der Kirche ab. Schon in seiner Antrittsenzyklika (1914) lehnt er den Krieg ab; mit der Note „Dès le début“ (1917) – bis heute ein wichtiger Referenztext für die christliche Friedensbewegung, die Ächtung des Kriegs und das Engagement für politische Lösungen – startet er eine vergebliche Initiative zur Beendigung des Krieges und plädiert für eine internationale, Frieden schaffende Schiedsgerichtsbarkeit. Die Enzyklika „Pacem, Dei munus“ (1920) wirbt für eine umfassende Völkergemeinschaft, für eine echte politische „Weltautorität“ sowie für eine Kampagne zur Demilitarisierung und setzt damit Akzente, die in späteren S. fortwirken sollten.

Die Weltwirtschaftskrise und die Massenarbeitslosigkeit der 1920er Jahre, der Aufstieg totalitärer Regime in Europa sowie der Konflikt zwischen dem Vatikan und dem italienischen Staat um Bestrebungen zu einem faschistischen Korporativstaat bilden den zeitgeschichtlichen Hintergrund der Enzyklika „Quadragesimo anno“ Pius’ XI. zum 40. Jahrestag von RN. Der Text geht auf Oswald von Nell-Breuning SJ zurück; ohne Bezug auf den ihm übertragenen Auftrag, einen Entwurf zu schreiben, erörterte er seine Überlegungen im Königswinterer Kreis u. a. mit Gustav Gundlach SJ, dessen sozialphilosophischen Impulse auf diesem Weg Eingang in den Text fanden.

Stilbildend für die weitere Tradition wird RN als Grunddokument einer „katholischen Gesellschaftswissenschaft“ (QA 20) gewürdigt; zentrale Aspekte in Bezug auf Kirche (Auftrag zur Arbeiterbildung), Staat (Sozialpolitik, Arbeitsrecht) und Arbeiterschaft (Selbsthilfe mittels Arbeitervereinigungen/Gewerkschaften; Inanspruchnahme des Koalitionsrechts) werden rekapituliert. Die explizite Billigung gemischt-konfessioneller Gewerkschaften (QA 35) setzt dem Gewerkschaftsstreit ein Ende. Kernbotschaften von RN werden auf die zeitgenössische Lage hin fortgeschrieben. So wird das natürliche Recht des Individuums auf „Sondereigentum“ verteidigt und über die Unterscheidung von „Recht“ und „Gebrauch“ mit der allem Eigentum innewohnenden Sozialfunktion verbunden (QA 42–52). Am Maßstab der „Gemeinwohlgerechtigkeit“ wird das Verhältnis von Kapital und Arbeit bestimmt (QA 53–58); Ziel ist die „Entproletarisierung des Proletariats“, dessen (bereits als globales Phänomen gesehene) Existenz eine ungerechte Verteilung der Erdengüter indiziere (QA 59–62). Das Lohnarbeitsverhältnis muss durch Lohngerechtigkeit legitimiert werden, die im Zusammenspiel von Lebensunterhaltsicherung (für die Familie), Lebensfähigkeit des Unternehmens und allgemeiner Wohlfahrt zu ermitteln ist (QA 63–75). Das Stichwortpaar „Zuständereform und Sittenbesserung“ (QA 77) markiert Anforderungen an eine „neue Gesellschaftsordnung“ (QA 76–98). Hier wird das Subsidiaritätsprinzip eingeführt, das den Staat auf seine Rahmenverantwortung verpflichtet und begrenzt, um den Einzelnen und den gesellschaftlichen Akteuren den Freiraum ihrer Eigentätigkeit zu sichern (QA 79 f.). Weitaus weniger wirkmächtig als dieses Prinzip war der Vorschlag einer berufsständischen Ordnung der Wirtschaftsgesellschaft (QA 81–98). Darin eingebettet ist eine kritische Überlegung zum freien Wettbewerb: Dieser könne „unmöglich regulatives Prinzip der Wirtschaft sein“, sondern habe nur innerhalb einer auf „soziale Gerechtigkeit und soziale Liebe“ gegründeten Ordnung Berechtigung (QA 88). Trotz harscher Kritik an der Vermachtung der Wirtschaftsbeziehungen sowie der ökonomischen Übermächtigung nationaler und internationaler Politik wird die „kapitalistische Wirtschaftsweise“ (QA 103) nicht verworfen, sondern nur hinsichtlich ihrer Fehlentwicklungen, die durch eine der sozialen Gerechtigkeit verpflichtete Ordnungspolitik korrigiert werden müssen, kritisiert (QA 101–110). Wird die Kapitalismuskritik durch die Differenzierung zwischen Wirtschaftsordnung und Gesellschaftsordnung „abgefangen“, so beharrt QA trotz der Differenzierung zwischen Kommunismus (sowjetischer Prägung) und „gemäßigtem“ Sozialismus, der „eine bemerkenswerte Annäherung […] an die Postulate einer christlichen Sozialreform“ (QA 113) erkennen lasse, auf der generellen Unvereinbarkeit von Sozialismus und christlicher Gesellschaftsauffassung (vgl. QA 111–125). Das Verdikt basiert auf der Annahme, der Sozialismus negiere notwendigerweise die Transzendenzdimension (Transzendenz) und die individuelle Freiheit der Person. Die abschließenden Überlegungen gelten den ideellen und religiösen Voraussetzungen einer Gesellschaftsreform; sie weisen sowohl dem Laienapostolat als auch dem Bildungsauftrag des Klerus eine bedeutende Rolle zu, womit sich der Kreis zum Anfang des Textes schließt (vgl. QA 127–148). QA entwickelt die katholische „Gesellschaftslehre“ (QA 36) in neuscholastischer Denkform (Scholastik) auf der Höhe wirtschafts- und gesellschaftswissenschaftlicher Theoriebildung der Zeit zu einem systematischen Entwurf sozialer Gerechtigkeit und Gemeinwohlorientierung und fundiert damit auch die zahlreichen, durch G. Gundlach als Berater geprägten Ansprachen Pius’ XII. zu sozial-, wirtschafts- und politikethischen Fragen.

Das Pontifikat Johannes’ XXIII. beendet die Neuscholastik in der Soziallehre der Kirche. Die stärker erfahrungsbezogene und den empirischen Wissenschaften zugeneigte Denkform und der weniger akademische Sprachstil seiner beiden S. gehen auf französische und italienische Berater zurück. Den epochalen Veränderungen – Neuformierung Europas, Dekolonisierung, Kalter Krieg – entspricht die Erweiterung des Themenspektrums. „Mater et magistra“ (1961) weitet das Blickfeld auf die Herausforderungen der Landwirtschaft (MM 123–156), auf die zunehmenden weltweiten Verflechtungen und Abhängigkeitsverhältnisse sowie die internationalen wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten (MM 157–199). Sie fokussiert überwiegend wirtschaftsethische (Wirtschaftsethik) Problemstellungen, setzt aber zugleich pastoral-praktische Akzente. Grundlegende Begriffe aus MM werden weiterwirken: Das im französischen Text – stets in Anführungsstrichen – verwendete Stichwort „socialisation“ (Vergesellschaftung) begegnet in GS (6; 25) ebenso wie die Formel „der Mensch […] Träger, Schöpfer und Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen“ (MM 219), die nur leicht verändert in GS 25 zitiert wird. Die formale Bestimmung des Gemeinwohls geht in das Standardrepertoire päpstlicher Dokumente ein; die Differenzierung zwischen „volkswirtschaftlichem“ und „gesamtmenschheitlichem“ Gemeinwohl (MM 79 f.) wird PT genauer entfalten. Strukturbildend für etliche Folgetexte wird der Dreischritt „Sehen – Urteilen – Handeln“ (MM 236) aus der Lebensweltanalyse der CAJ (Christliche Arbeitnehmerorganisationen). Dessen Aufnahme in der Enzyklika entspricht der neuen Gewichtung der Praxis als Ort der Verwirklichung der Soziallehre der Kirche sowie der sozialethischen Erziehung und Bildung.

Zwei Jahre später spricht „Pacem in terris“ (1963) erstmals „alle Menschen guten Willens“ an. Zeitpunkt und Thema des Dokuments, das von Pietro Pavan entworfen wurde, hängen mit der Kubakrise im Herbst 1962 zusammen. Die Veröffentlichung im April 1963 wirkt nachhaltig auf die Arbeit des Konzils, insb. auf GS und die Erklärung über die Religionsfreiheit DH, ein. Gegenstand des Textes ist die Sicherung des Weltfriedens durch politische Ordnung. Unter der Überschrift „Die Ordnung unter den Menschen“ werden die allgemeinen Menschenrechte in weitgehender sachlicher Entsprechung zur AEMR (1948) angeeignet (I.). Bes. Akzente legt PT auf den Zusammenhang von individuellen Freiheiten und den diese ermöglichenden sozialen Grundrechten (vgl. PT 11) sowie auf die Notwendigkeit eines die Rechte tragenden Ethos („Pflichten“; PT 28–36). Anders als die Vereinten Nationen, die weltanschaulich neutral bleiben mussten, bettet PT das menschenrechtliche Ordnungsmodell in den naturrechtlich und theologisch konnotierten Deutungsrahmen einer von Gott gestifteten gerechten Ordnung des Zusammenlebens in „Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit“ (PT 35–38) ein und erörtert auf diesem Fundament die politischen Beziehungen auf staatlicher (II.), zwischenstaatlicher (III.) und weltgemeinschaftlicher Ebene (IV.). Jeder Teil schließt mit einer Würdigung der „Zeichen der Zeit“ – Johannes XXIII. hat den neutestamentlichen Topos in die Soziallehre der Kirche eingetragen: Hervorgehoben werden die Emanzipationsbewegungen (Emanzipation) zur Überwindung von Diskriminierung aufgrund der sozialen und wirtschaftlichen Lage (Arbeiterbewegung), des Geschlechts (Frauenbewegung) sowie politischer Abhängigkeit (Dekolonisierung; PT 39–45), die Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit (Rechtsstaat), Grundrechtsstandards und Partizipationsmöglichkeiten der Bürger (PT 75–79), die Sicherung des Friedens mit den Mitteln des Rechts und der Politik auf Basis vertrauensvoller Beziehungen (PT 126–129) sowie die Anerkennung und Fortentwicklung der UN als Ordnungssystem für die Beziehungen der Völker untereinander zum Schutz von Würde und Rechten der Person (PT 142–145). In diesem Kontext wird das von Benedikt XV. formulierte Postulat einer unparteiischen, im Konsens der Völkergemeinschaft etablierten, subsidiär den Rechten der Person und dem universalen Gemeinwohl verpflichteten, machtvollen politischen Gewalt entfaltet (PT 137–141), das in GS (81), durch Paul VI. in seiner Ansprache an die UN (1965) wie auch in PP (78) bekräftigt und noch von Benedikt XVI. (CiV 67) ohne substanzielle Veränderungen wiederholt werden wird. Das „Gemeinwohl der einzelnen Staaten“, das „nicht ohne Rücksicht auf die menschliche Person“ bestimmt werden könne, wird in Analogie zu dem „universale[n] Gemeinwohl aller Staaten zusammen“ gesehen, das mittels der postulierten „universale[n] politische[n] Gewalt“ an der Achtung und Förderung der Rechte der menschlichen Person Maß nehmen müsse (PT 139). Folgerichtig wird der einzelnen Person die doppelte politische Zugehörigkeit zu einem Staat und zur „Menschheitsfamilie“ zuerkannt sowie (v. a. mit Blick auf die politischen Flüchtlinge) ein Recht auf Aus- und Einwanderung, begründet (PT 25, 103–108). Wettrüsten und atomare Aufrüstung werden verurteilt (PT 109 f.); angesichts des Zerstörungspotenzials dieser Waffen könne der Krieg vernünftigerweise nicht mehr als Mittel zur Wiederherstellung verletzter Rechte gelten (PT 127). Als friedens- und politikethisches Grundlagendokument ist PT ein zentraler Referenztext für die späteren S. Mit der Aneignung der modernen Menschenrechte als Gerüst einer persongerechten Ordnung überwindet PT unumkehrbar die ablehnende Haltung der Päpste des 19. Jh. gegenüber den modernen Freiheitsrechten.

Die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ (1965) stellt eine Synthese der traditionellen Sozialverkündigung mit den neuen Akzenten des Pontifikats Johannes’ XXIII. dar. Eine theologische Zeitdiagnose unter dem Leitmotiv der „Zeichen der Zeit“ (GS 4–11), eine Skizze christlicher Anthropologie (GS 12–22) und eine fundamentale theologische Sozialethik (23–39) weisen die erfahrungsbezogene Reflexion der sozialen Frage(n) als genuin theologische Aufgabe aus; sie erfordert einen Dialog (Kirche und Welt), in dem die Kirche sich selbst auch als Lernende versteht (vgl. GS 40–44; I.). Mit Familie, Kultur, Wirtschaft, Politik, Frieden wird ein breites sozialethisches Tableau abgesteckt, in dem die ökologische Dimension jedoch noch fehlt (II.). Der Text ist konsequent induktiv aufgebaut und geht in „kritischer Zeitgenossenschaft“ (Kreutzer 2006) und einem dialogischen Gestus auf die moderne Gesellschaft zu. In der Adaption der modernen Menschenrechte, der weltweiten Dimensionierung von Gemeinwohl und sozialer Verantwortung und der Fokussierung auf menschengerechte Ordnungen als Fundament des Friedens folgt GS den Weichenstellungen von PT.

Der Enzyklika „Populorum progressio“ (1967) Pauls IV. schreibt die Historiografie der S. einen RN analogen Stellenwert zu (SRS 2; CiV 8), insofern sie in der Ära der Dekolonisierung die „Entwicklung der Völker“ (PP 1) zentral stellt und der Globalisierung der Sozialen Frage Rechnung trägt. Vorarbeiten sind bereits 1964 im Gang. Autor mindestens des ersten Entwurfs ist Louis-Joseph Lebret OP, Gründer von Économie et humanisme, einer Bewegung, die sich der globalen Entwicklung und der Weltwirtschaftsordnung widmete. Eine „Brücke“ zwischen GS und PP ist die im Januar 1967 auf Initiative von Konzilsvätern aus der sogenannten Dritten Welt (GS 90) eingesetzte Päpstliche Kommission Justitia et Pax (PP 5).

PP antwortet auf die wirtschaftliche und soziale Kluft zwischen den Eliten und der Masse der Armen in den ehemaligen Kolonialgesellschaften (Kolonialismus) einerseits, den wohlhabenden Industrienationen und den Staaten der sogenannten Dritten Welt andererseits und kritisiert ein reduktionistisches Verständnis von „Entwicklung“, das den Menschen mit seinen auch immateriellen Bedürfnissen aus dem Blick zu verlieren droht. Teil I (PP 6–42) formuliert ein Modell integraler Entwicklung jedes Menschen in materieller, geistiger und spiritueller Dimension (PP 12–21) als Maßstab für Programme und politische Strukturen (PP 32–34). Neue Akzente setzt PP in der Eigentumslehre, indem sie die Teilhabe aller an den Gütern der Erde dem Privateigentum vorordnet und die grundsätzliche Zulässigkeit der Enteignung von Grundbesitz um des Gemeinwohls willen feststellt (PP 22–24). Dies und der Verzicht auf eine Wiederholung des Verdikts gegenüber dem Sozialismus bedeuten eine faktische Öffnung nach „links“. Teil II (PP 43–80) stellt mit der dreifachen Verpflichtung (officium) zur Solidarität, zur sozialen Gerechtigkeit und zur universalen Liebe die menschheitliche Perspektive ins Zentrum (PP 43 f.). Solidarität verlange über Not- und Katastrophenhilfe hinaus partnerschaftliche Entwicklungszusammenarbeit, die das Selbstbestimmungsrecht achtet und die Eigeninitiative der Armen unterstützt, sowie Wissenstransfer und das Teilen von Reichtum (PP 45–55). Die soziale Gerechtigkeit fordere, die internationalen Wirtschaftsbeziehungen zugunsten fairer Teilnahmebedingungen im Welthandel zu regulieren (PP 56–65). Universale Liebe inspiriere Gastfreundschaft und Fairness auf der Ebene menschlicher Beziehungen im internationalen Austausch, in der Entwicklungszusammenarbeit und bei interkulturellen Aktivitäten (PP 66–75). Die (in allen Übersetzungen, aber nicht im lateinischen Text vorhandene) Formel „Entwicklung ist der neue Name für Friede“ (Überschrift zu PP 76–80) bindet die wirtschafts- und die politikethische Linie der S. im globalen Horizont unter dem Ziel des Friedens zusammen.

Zum 80. Jahrestag von RN richtet Paul VI. das Apostolische Schreiben „Octogesima adveniens“ (1971) an den Präsidenten der Päpstlichen Kommission Justitia et Pax. Indem er die Notwendigkeit unterstreicht, kontextuelle Antworten auf die weltweiten Gerechtigkeitsprobleme dezentral zu erarbeiten, wertet er den Beitrag der lokalen Kirchen zur Soziallehre der Kirche auf (OA 4). Das Schreiben spricht „neue Probleme“ (OA 42; I.) an, die bis dato allenfalls beiläufig in S. erwähnt worden waren: Angesichts von Landflucht, Verstädterung und Not in den Elendsvierteln am Rande der Megastädte werden die Rechte der Marginalisierten betont (OA 8–15). Rassismus, Arbeitsmigration, Armut, Katastrophen und ungesundes Klima werden als Fluchtursachen und ein ungebremstes Bevölkerungswachstum als Armutstreiber angesprochen (OA 16–18). Auf die drohende Umweltzerstörung als menschengemachtes Problem wird erstmals hingewiesen (OA 21). Der Würdigung der grundlegenden Ansprüche auf menschenrechtliche Gleichheit und Partizipation (Mitbestimmung) sowie deren Umsetzung in demokratischen Gesellschaften (OA 22–25) wird eine Ideologiekritik gegenüber Marxismus und Liberalismus (OA 26–37) sowie einem das Humanitätsideal verkürzenden Positivismus gegenübergestellt (II.); letzterem werden „die Humanwissenschaften“ (OA 38), sofern sie mit totalisierendem Anspruch auftreten, und eine auf einem reduktionistischen Menschenbild basierende Fortschrittsideologie (Fortschritt) zugeordnet (OA 38–41). Bemerkenswert im Spiegel früherer S. ist eine differenzierende Wahrnehmung der Vielgestaltigkeit des Sozialismus, dem gegenüber Christen zu einer sorgsamen Unterscheidung in Bezug auf humane Werte aufgefordert werden (OA 31). Praxisorientiert werden die Erfordernisse globaler Verteilungsgerechtigkeit in Achtung vor dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, der instrumentelle Charakter der Wirtschaft, der Vorrang der Politik sowie der Auftrag der Christen zur Übernahme von Verantwortung und zur Mitwirkung an einer gemeinwohlorientierten Politik betont (OA 42–47) (III.). Dem von der Haltung des Suchens bestimmten Aufruf zum Handeln (OA 48–52) entsprechen die Wertschätzung der Kreativität, die theologische Würdigung der Utopie als Modus der Gesellschaftskritik (OA 37) sowie die Wertschätzung eines für legitime Pluralität offenen christlichen Engagements (OA 50).

Mit dem ersten sozialethischen Dokument einer Weltbischofssynode „De iustitia in mundo“ (1971) macht sich die Versammlung von 170 Repräsentanten des Weltepiskopats die globale soziale Frage als Aufgabe der Kirche zu eigen. Durch weltweite Konsultationen vorbereitet, weist das Dokument die Gerechtigkeitsverantwortung als konstitutive Dimension des Verkündigungsauftrags der Kirche aus (IM 6, 36). Der globalen Gerechtigkeitsproblematik (I.) werden die Botschaft des Evangeliums und die Sendung der Kirche (II.) sowie eine religiöse, pädagogische und politische Praxis der Gerechtigkeit (III.) zugeordnet. Angesichts der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Asymmetrien zwischen Industrie- und Entwicklungsländern mahnen die Bischöfe Strukturreformen für faire Güterverteilung und Beteiligung an den globalen Interaktionsprozessen an und prangern die Gefährdung der Lebensgrundlagen (IM 8), die Bindung von Ressourcen durch Rüstungswettlauf (IM 9) und die unverhältnismäßige Rohstoffausbeutung durch die Industrieländer (IM 11) an. Sie kritisieren ein ökonomistisch-technizistisches, neokoloniales Entwicklungsverständnis (IM 12) und formulieren 15 Jahre vor der entsprechenden Erklärung der UN ein „Recht auf Fortschritt“, das Schutz und Verwirklichung von Menschenwürde und Menschenrechten sowie die selbstbestimmte Entwicklung der Völker sichern soll (IM 13–18). Der Notwendigkeit globaler Strukturreformen wird die Verantwortung der Entwicklungsländer zur Eigeninitiative zur Seite gestellt. Den Einfluss der Kirchen und der Befreiungstheologien Lateinamerikas (Theologie der Befreiung) zeigen die prägnante Darlegung der biblischen Botschaft von Befreiung und Gerechtigkeit (IM 30–39) und die Verpflichtung der Kirche auf Verwirklichung von Gerechtigkeitskriterien und Grundrechten in der eigenen Institution (IM 40–49); damit eröffnet IM eine neue, selbstreflexive Dimension der Sozialverkündigung der Kirche (IM 42). Zudem werden die Erziehung zur Gerechtigkeit als Aufgabe der Kirche, die ökumenische Zusammenarbeit zur Förderung der Gerechtigkeit und die Bedeutung internationaler Zusammenarbeit, der UN und ihrer Entwicklungsprogramme (IM 64) sowie das Selbstbestimmungsrecht eines jeden Volkes betont.

Zum 90. Jahrestag von RN fokussiert die erste der S. Johannes Pauls II., „Laborem exercens“ (1981), die menschliche Arbeit „als Dreh- und Angelpunkt der Sozialen Frage“ (I.). Das Arbeitsverständnis (II.) ist bestimmt durch den Vorrang der Subjektivität der Arbeit (Arbeitnehmer) als Modus menschlicher Selbstverwirklichung (LE 6) gegenüber deren Ergebnis (LE 5). Nicht die Art der Arbeit, sondern die Würde des arbeitenden Menschen (LE 9) bildet den Maßstab jeglicher Arbeit, nicht nur der Erwerbsarbeit. Gleichwohl stehen die abhängige Erwerbsarbeit, die strukturellen Erfordernisse fairer Arbeitsverhältnisse sowie die Verletzlichkeit des arbeitenden Menschen im Vordergrund. Angesichts der Gefahr der Verdinglichung der Arbeit(enden) (LE 7) wird die Solidarität der (und mit den) arbeitenden Menschen, v. a. in Form von Gewerkschaften, die für gerechte Löhne und faire Arbeitsbedingungen kämpfen, betont (LE 8). Im Hinblick auf die Konflikte um Arbeit und Kapital (III.) wird der „Vorrang der Arbeit vor dem Kapital“ (LE 12) unterstrichen: Das Kapital wird durch Arbeit hergestellt und hat nur instrumentelle Funktion (LE 13); dementsprechend wird der Anspruch der Arbeitnehmer auf Miteigentümerschaft an den Produktionsmitteln angemahnt (LE 14 f.). Die Rechte des arbeitenden Menschen (IV.) werden aus der Subjektivität der Arbeit und einer korrespondierenden moralischen Verpflichtung zur Arbeit hergeleitet (LE 16). Neu ist die sozialethisch bedeutsame Unterscheidung von unmittelbarem und mittelbarem Arbeitgeber (LE 17–19). Letzterer meint den Staat und seine beschäftigungspolitische Rahmenverantwortung sowie internationale Bedingungsfaktoren für eine „gerechte Arbeitspolitik“ (LE 17), die Vermeidung von Arbeitslosigkeit und den Schutz der Arbeitnehmerrechte (LE 18). Der unmittelbare Arbeitgeber wird mit den Ausführungen zum gerechten Lohn als Schlüssel zur Verwirklichung des Rechts auf Teilhabe an der Nutzung der Erdengüter adressiert (LE 19). Unter der Idee des familiengerechten Lohns findet Frauenarbeit Aufmerksamkeit unter dem Fokus, aus finanziellen Gründen erzwungene Erwerbstätigkeit von Müttern zu vermeiden (eine geschlechtergerechte Aufteilung von Familien- und Erwerbsarbeit ist nicht im Blick). Gewerkschaftswesen und Streikrecht werden zur Einforderung der Arbeitnehmerrechte verteidigt (LE 20). Als bzgl. ihrer Rechte in der Arbeit bes. verletzliche Gruppen werden die in der Landwirtschaft Tätigen, Menschen mit Behinderung sowie Wanderarbeiter (LE 21–23) angesprochen. Den Schluss des Textes bildet eine schöpfungstheologische und christologische Spiritualität der Arbeit (V.). Manche Kommentatoren kritisieren die Einlassungen von LE zu den liberal-kapitalistischen Bedingungen der Arbeit als (zu) „radikal“, andere monieren die als einseitig wahrgenommene Fokussierung auf Arbeit gegenüber anderen Formen menschlicher Selbstverwirklichung, die Fokussierung auf europäische bzw. industriegesellschaftliche Verhältnisse sowie das Fehlen eines ökologischen Krisenbewusstseins.

Dem Rundschreiben „Sollicitudo rei socialis“ zum 20. Jubiläum von PP (datiert auf den 31.12.1987; publiziert im Februar 1988) war eine Befragung der Ortskirchen mit der Bitte um Lageeinschätzungen vorausgegangen (SRS 2). Anschließend an die Würdigung von PP (II.) präsentiert SRS im Kontext des „verlorenen Jahrzehnts“ der Entwicklungspolitik eine pessimistische Analyse der Weltlage (III.). Die wachsende wirtschaftliche und soziale Kluft zwischen Arm und Reich (SRS 14 f.), die Unterentwicklung zementierenden Abhängigkeiten und die internationale Verschuldungskrise (SRS 16–19) werden ursächlich mit den Folgen der Blockkonfrontation – ideologische Systemkonkurrenz, Stellvertreterkriege, Vorordnung partikularer Sicherheitsinteressen vor internationaler Solidarität – verbunden (SRS 20–25). Positiv wird die Zunahme von Menschenrechts-, Solidaritäts-, Friedens- und Umweltbewusstsein hervorgehoben. Die moralische Analyse (IV.) beklagt eine schädliche „Überentwicklung“ in den reichen Ländern als Folge der Vorordnung des Habens vor dem Sein (SRS 28) und kontrastiert damit den der „Berufung“ des Menschen zur imago Dei entsprechenden Maßstab „wahrer“ (SRS 29) menschlicher Entwicklung (SRS 29–31). Dem tugendethischen Maßstab werden sozialethisch menschenrechtliche Kriterien beigeordnet: die Rechte der Völker auf selbstbestimmte Entwicklung und kulturelle Identität, die individuellen Menschenrechte sowie schließlich die Achtung vor den Geschöpfen und ein schonender Umgang mit den natürlichen Ressourcen (SRS 32–34). Neu ist die Aneignung befreiungstheologischer Kategorien in der theologisch-pastoralen Analyse (V.): Die Verflechtung individueller und struktureller Entwicklungshemmnisse wird anhand der Kategorie „Strukturen der Sünde“ (SRS 36) gedeutet; die „(vorrangige) Option für die Armen“ (SRS 39) schärft das Plädoyer für die Solidarität als Wille zur umfassenden Verantwortung und als Weg zum Frieden (SRS 38–40). Nach den Abwehrkämpfen der Römischen Glaubenskongregation unter Joseph Kardinal Ratzinger gegen prominente lateinamerikanische Theologen und nach den Instruktionen zur Befreiungstheologie „Libertatis nuntius“ (1984) und „Libertatis conscientia“ (1986) markiert SRS mit der Adaption befreiungstheologischer Zentralbegriffe einen Wendepunkt in dieser Auseinandersetzung. Der Schlussteil adressiert vor dem Hintergrund des interreligiösen Gebetstreffens in Assisi 1987 die Religionen übergreifende Zusammenarbeit (SRS 47).

„Centesimus annus“ (1991) zum 100. Jahrestag von RN reagiert auf die politische Wende von 1989/90. Der Papst, der an den Voraussetzungen der „friedlichen Revolution“ in Polen selbst mitgewirkt hat, unterzieht RN und die darauf gründende Tradition des „sozialen Lehramts“ der Kirche (CA 2) einer Relecture im Licht von 1989 (II./III.). Drei Themenstränge ziehen sich durch den Text:

a) Nach dem Scheitern der real-sozialistischen Regime in Osteuropa wird der „Kapitalismus“ (CA 42) differenziert bewertet: Im Kapitel über Eigentum und universale Bestimmung der Güter (IV.) werden Markt und Wettbewerb als Institutionen des freien Wirtschaftens unter der Bedingung einer freiheits- und sozialrechtlichen politischen Ordnung gutgeheißen; ein liberal-kapitalistisches Gesellschaftsmodell ohne solche ordnungspolitischen Sicherungen sozialer Gerechtigkeit wird entschieden zurückgewiesen. Die Eigentumslehre wird erweitert um den „Besitz von Wissen, von Technik und von Können“ (CA 32), der den Menschen selbst zur wichtigsten Ressource seines Schaffens macht; in diesem Zusammenhang ist das viel beachtete Postulat eines Rechts auf unternehmerische Initiative zu lesen. Der Problemanzeige zur Ökologie werden, jeweils in Anführungszeichen, „Sozialökologie“, bezogen auf Lebensräume und Arbeitsbedingungen, und „Humanökologie“, bezogen auf Familie und Lebensschutz, zur Seite gestellt (CA 38 f.).

b) Im Kapitel „Staat und Kultur“ (V.) wird die Demokratie als auf politische Beteiligung und Verantwortung bauendes System unter der Voraussetzung von Rechtsstaatlichkeit und einer die Rechte der Person sichernden Ordnung ausdrücklich wertgeschätzt; die eigenständige Bedeutung („Subjektivität“ [CA 35]) der Gesellschaft als Raum der freien Entfaltung und Beteiligung wird hervorgehoben (CA 46, 50). Die Analyse des politischen Umbruchs von 1989/90, dessen tiefste Ursache Johannes Paul II. im Atheismus und einem transzendenzlosen anthropologischen Reduktionismus sieht, erklärt das neue Gewicht, mit dem das Recht auf Religionsfreiheit als Voraussetzung zur Entfaltung eines Wertefundaments und Artikulation religiöser Wahrheitseinsichten in der Gesellschaft geltend gemacht wird (CA 29, 47).

c) In der Rekapitulation der Zeitereignisse wird der gewaltfreie, von der Achtung der Personwürde und einem Willen zur Solidarität bestimmte Umgang mit sozialen und politischen Konflikten herausgearbeitet (CA 23; 25); darin kann ein Plädoyer für gewaltfreie Lösung gesellschaftlicher Konflikte gesehen werden.

Die Enzyklika „Caritas in veritate“ (2009) Benedikts XVI. greift erneut das Konzept ganzheitlicher Entwicklung auf (I.). Die gedankliche Struktur des Textes, der die theologische Handschrift des Papstes trägt und offenbar etliche Redaktionen durchlaufen hat, ist komplex. Eine Vielzahl von ökonomischen, politischen und kulturellen Themen zieht sich durch die sechs Kapitel hindurch. Der eher binnenkirchliche Duktus steht in einer gewissen Spannung zu der politischen Platzierung des unmittelbar vor dem G8-Gipfel von L’Aquila (Gruppe der führenden Industrienationen) veröffentlichten Textes. Die globale Finanzmarktkrise (2008), auf die er Bezug nimmt, ist mitursächlich für das späte Erscheinen zwei Jahre nach dem 40. Jahrestag von PP. Neu gegenüber den Vorgängertexten sind die Deutung der globalen sozialen Frage als „radikal anthropologische“ (CiV 75), die enge Verknüpfung der Entwicklungsfrage mit einer „Ethik des Lebens“ (CiV 15; II., IV.) sowie die theologische Rahmung mit den Leitworten „Liebe und Wahrheit“ (angelehnt an Eph 4,15), mit der die christliche Wahrheitsauffassung als exklusive Voraussetzung für eine humane Entwicklung beansprucht wird (CiV 4, 9). Im Geist der „Liebe in der Wahrheit“ soll aus globaler Nachbarschaft „globale Geschwisterlichkeit“ (CiV 19) werden; die Logik des ordnungspolitisch zu begrenzenden Marktes soll durch „das Prinzip der Unentgeltlichkeit“ (CiV 36) bzw. die „Logik des Geschenks“ (CiV 37), das etwa in der Mikrofinanzwirtschaft verwirklicht sei, komplementiert werden (CiV 34–39, 65). Mit Blick auf die Ambivalenzen der ökonomischen und kulturellen Globalisierung unterstreicht CiV die moralische Verantwortung und den Gestaltungsauftrag des Menschen (CiV 42), würdigt Ansätze der Humanisierung, betont, es gebe keine moralfreien Räume und insistiert – im Kontext der Finanzmarktkrise virulent – auf der sozialen Verantwortung von Unternehmern und Unternehmen (CiV 40, 45). Die Zivilgesellschaft soll – auch auf internationaler Ebene – als ethosgenerierendes Subjekt neben Staat und Markt gestärkt werden; hier findet sich ein Plädoyer für eine Internationalisierung der Gewerkschaftsbewegung (CiV 64). CiV steht für eine bestimmte Art der Theologisierung der Soziallehre der Kirche, ordnet diese der Glaubensverkündigung unter (CiV 15) und stärkt eine theologische Metaphysik der Person. Weniger als die Bezugstexte PP und SRS bietet die erste Sozialenzyklika des 21. Jh. eine systematische Zeit- und Gesellschaftsanalyse; sozial- und humanwissenschaftliches Wissen wird kaum einbezogen; die in SRS adaptierten befreiungstheologischen Topoi werden nicht aufgegriffen. Die Sozialbindung des Eigentums, die Schlüsselrolle der Frauen, die ökologische Dimension der globalen Entwicklung und der Klimawandel spielen kaum eine Rolle.

Mit „Laudato si’“ (2015) erhebt Papst Franziskus die ökologische Krise – Klimawandel, Energie- und Ernährungskrise, Armutsmigration u. a. – erstmals zum Zentralthema eines päpstlichen Weltrundschreibens. Insofern er diesen Komplex als „eine einzige […] sozio-ökologische Krise“ (LS 139) analysiert, gilt LS fraglos als Sozialenzyklika. Papst Franziskus platziert seine Wortmeldung im Kontext zweier ökologie-politischer Großereignisse, des UN-Gipfel Post-2015-Agenda in New York und der COP 21 UN-Klimakonferenz in Paris. Er bietet einen explizit religiösen Deutungsrahmen zur Bewältigung der ökologischen Krise, appelliert an das ökologische Krisen-Bewusstsein und ruft zur „ökologischen Umkehr“ (LS 5) auf. Überzeugungskraft entfaltet die Botschaft durch die Verknüpfung der Analyse der ökologischen Gefährdungslagen mit einer starken religiösen Deutung der Ökologie als „gemeinsames Haus“ (LS 13) alles Lebendigen, die mit der Anspielung auf den Sonnengesang des heiligen Franziskus das Lob des Schöpfers intoniert. Umfänglich zitiert LS das bischöfliche Lehramt verschiedenster Ortskirchen und trägt der kontextuellen Vielfalt der Weltkirche Rechnung. Der Text ist induktiv und netzwerkartig angelegt: Einer Problemanalyse auf der Höhe des verfügbaren wissenschaftlichen Wissens (I.) folgt eine biblisch informierte Darlegung der Verantwortung des Menschen als Treuhänder Gottes in der Schöpfung (II.). Die Reflexion auf die (menschengemachten) Ursachen der Krise (III.) präludiert das Kernkonzept der „ganzheitlichen Ökologie“ (LS 124; IV.), auf dem politisch-ethische „Leitlinien für Dialog und Aktion“ (LS 15; V.) und spirituelle „Leitlinien zur menschlichen Reifung“ (LS 15; VI.) aufbauen. Die ökologische Krise ist zugleich eine schwerwiegende soziale Krise, aber die überproportionale Belastung und Bedrohung der Armen stellt kein unabwendbares Schicksal dar, sondern ist Indiz einer Wirtschaftsweise, die den Wohlstandsländern des globalen Nordens eine schwere „ökologische Schuld“ (LS 51) gegenüber den Armen des globalen Südens wie gegenüber den künftigen Generationen auferlegt. Eine ganzheitliche Ökologie muss neben der Trias Umwelt, Wirtschaft, Soziales auch die Kultur – Achtung der lokalen Kontexte, Beteiligung der lokalen Akteure, insb. der Indigenen – umfassen (LS 143–146). Die in CA eingeführte Humanökologie wird neu konnotiert und auf die Lebensqualität in lokalen Lebenswelten bezogen. Die Option für die Armen und die Forderung generationenübergreifender Gerechtigkeit bilden grundlegende Kriterien einer ganzheitlichen Ökologie. Um die Spannungen zwischen den lokalen, nationalen, kontinentalen und globalen Gemeinwohlebenen konstruktiv, sozial- und ökologieverträglich zu lösen, braucht es gemeinsam akzeptierte Maßstäbe; Ansätze dafür finden sich in den Dialog-Leitlinien (LS 163–201). Ökologische Umkehr erfordert einen genügsamen Lebensstil, eine Neubestimmung von Lebensqualität und eine diesen Zielen zugeordnete Global Governance. Den Wohlstandsländern des Nordens als Hauptverursachern der Krise kommt die Hauptlast des Umsteuerns zu. LS schließt an die von den Konzilspäpsten unterstrichene Aufwertung der Praxis, die Hinwendung zu den Armen und die dezidiert weltkirchliche und global-öffentliche Orientierung an und stärkt den subsidiären Habitus der päpstlichen Sozialverkündigung. Teilweise sehr konkrete Vorschläge gründen auf der zentralen Botschaft, dass der Mensch die Dinge ändern und sich neu orientieren (umkehren) kann. Dem entsprechen die herausgehobene Bedeutung von (Umwelt-)Erziehung und spiritueller Orientierung, die Fokussierung auf Wissenschaft und Forschung sowie auf den Dialog zwischen Wissenschaften, religiösen und gesellschaftlichen Akteuren.

Mit „Fratelli tutti“ (FT, 3.10.2020) reagiert Franziskus auf die globale Corona-Pandemie. Wie LS ist das Schreiben durch Franz von Assisi inspiriert; Grundlinien des Vorgängertextes aufnehmend, legt es den Akzent auf ein gemeinschaftliches und politisches Ethos des geschwisterlichen Zusammenlebens unter den Leitmotiven „universale Liebe“ und „soziale Freundschaft“. Umfängliche Bezugnahmen auf die von Franziskus mit Groß-Imam Ahmad Al-Tayyeb in Abu Dhabi veröffentlichte Botschaft (2019, FT 5; 285 und öfter) signalisieren eine bis dato in der päpstlichen Sozialverkündigung beispiellose interreligiöse Weitung (Interreligiöser Dialog). Die Religionen werden als Quelle für „Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft“ gewürdigt und in die Pflicht genommen (Kap. VIII). Neben der interreligiösen Perspektive bildet die Parabel vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37; vgl. FT Kap. II und öfter) eine zweite Leitlinie für die Lektüre: Der biblische rote Faden lenkt die Aufmerksamkeit auf die universale Dimension der „geschwisterlichen Liebe“ als Zentralidee.

Die Enzyklika bietet eine nüchterne Wahrnehmung der politischen und ethischen Probleme der Gegenwart, erhebt Einspruch gegen einen sich ausbreitenden Politikstil, der partikulare (Macht-)Interessen den Anforderungen des (globalen) Gemeinwohls vorordnet, und prangert erneut Dysfunktionalitäten einer Wirtschaft an, die entgegen der Grundlogik einer ökosozialen Marktwirtschaft die Sozialpflichtigkeit allen Eigentums auf Kosten der Armen und der ökologischen Lebensgrundlagen unterlaufen. Kritisiert werden u. a. Populismus (FT 37; 155–163), die in sozialen Medien (Social Media) verbreitete Hassrede (FT 43–46), politische und ökonomische Ausgrenzung der Armen, Geflüchteten und Menschen in der (irregulären) Migration (passim), Formen moderner Sklaverei (FT 24; 188) sowie eine weltweite Verschärfung von Konflikten („Weltkrieg in Stücken“, FT 25; 259). Angesichts der „Schatten einer abgeschotteten Welt“ (Kap. I) dringt Franziskus auf ethische Neuorientierung. Gegen einen abstrakt-idealistischen Universalismus plädiert er für den konkreten Universalismus der Nächstenliebe als Baustoff einer „offenen Welt“ (Kap. III), der die „Peripherien in unserer Nähe“ (FT 97) wahrnimmt, die Würde jedes Einzelnen (vgl. FT 106 und öfter) in der Diversität und Verletzlichkeit der (potenziellen) Nächsten anerkennt und sich dem Konfliktpotenzial, das in der Begegnung mit den Fremden und ihrer Fremdheit liegt, stellt, indem Annäherung durch Dialog gesucht wird. Die Spannung zwischen „universaler Liebe“ und „sozialer Freundschaft“ sei grundlegend für eine humane Existenz in der global interdependenten Welt (Kap. IV). Eine Politik der Anerkennung, die in Auseinandersetzung mit den Problemanzeigen aus Kap. I anti-populistisch konturiert wird (Kap. V), setzt ein nicht-individualistisch enggeführtes Verständnis von Menschenrechten (FT 111), die Orientierung an der Gemeinwidmung der Güter und dem globalen Gemeinwohl voraus; beide Linien werden u. a. in der Argumentation zugunsten eines ursprünglichen Rechts von Migranten zusammengeführt, an einem Ort Aufnahme zu finden, an dem sie ihren Lebensunterhalt sichern können (FT 129). Das Prinzip Dialog, das bereits in LS entfaltet wurde, sei politischer Ausdruck der „universalen Liebe“ (Kap. VI). Die Enzyklika bekräftigt menschenrechtlich bedeutsame Positionen der jüngsten katholischen Sozialverkündigung (Kap. VII), namentlich die Verurteilung der Todesstrafe (im Jahr 2018 eindeutig im Katechismus der katholischen Kirche festgeschrieben, vgl. KKK 2267), und weitet das Verdikt auf die lebenslange Freiheitsstrafe aus (vgl. FT 263–269). FT hat offenkundig verschiedene Redaktionen durchlaufen; es liest sich in weiten Teilen wie eine Summe des bisherigen Pontifikates. Mit einem energischen Plädoyer für das überfällige Umdenken und Umsteuern auf ein solidarisches Zusammenleben mahnt der Papst, alle religiösen und säkularen Ressourcen für eine Umkehr zu mobilisieren, ohne die weder die langfristigen Folgen der Corona-Pandemie noch die sich zuspitzende Klimakrise auf humane Weise zu bewältigen sein werden.

5. Ausblick

Das Korpus der S. repräsentiert eine Lerngeschichte, in der Zeitbezug, Geschichtlichkeit und Kontextgebundenheit positiv zum Tragen kommen, eine fortschreitende Erweiterung der geographischen wie thematischen Horizonte entspr. den Transformationsprozessen der modernen Gesellschaft und der Globalisierung. Kontinuität in den Grundideen muss sich an neuen situativen Herausforderungen bewähren; der Wandel wirkt – oft tiefer als explizit formuliert – auf die Botschaft selbst ein, wie sich u. a. an den Positionierungen zum „Sozialismus“, zu Markt und Wettbewerb und zu den Menschenrechten zeigt. Den gesellschaftlichen Umbrüchen korrespondiert ein Wandel im Verhältnis der Kirche zu Staat (Kirche und Staat) und Gesellschaft sowie vom Eurozentrismus zur Weltkirche; für beide Dynamiken bildet das Jahrzehnt des Zweiten Vatikanischen Konzils die bisher einschneidendste „Epochenschwelle“. Angesichts beachtlicher Veränderungen in Selbstverständnis, Denkform und Methodik lässt sich angesichts wechselnder Denkstile der Päpste keine lineare Entwicklung rekonstruieren, wie das Verhältnis von päpstlichem und lokalkirchlichem Sprechen und der Umgang mit der Expertise der Sozial- und Humanwissenschaften zeigen. Die Überwindung einer patriarchal-androzentrischen Perspektive, die Herausforderungen der globalen Migration und der Digitalisierung bilden Desiderate für künftige S. Die mangelnde Aneignung zentraler Impulse der S. (u. a. Subsidiarität, Menschen-/Grundrechte, Partizipation) in der kirchlichen Sozialgestalt bleibt ein die Glaubwürdigkeit des „sozialen Lehramts“ der Kirche beeinträchtigendes Skandalon (IM 41).