Soziale Ungleichheit

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1. Begriffe und Konzepte

S. U.en kennzeichnen solche Unterschiede zwischen Individuen oder Gruppierungen, die mit einer relativ stabilen Besser- oder Schlechterstellung verbunden sind und die somit zu verschiedenen Möglichkeiten der Verfügung über gesellschaftlich relevante Ressourcen und Teilhabeoptionen führen. Sie sind abzugrenzen von Unterschieden, Heterogenitäten oder Differenzierungen, die solche Hierarchien nicht oder allenfalls mittelbar markieren (z. B. verschiedene Schuhgrößen). Dabei ist der Begriff der s.n (Un-)Gleichheit zu trennen von dem der sozialen (Un-)Gerechtigkeit: In modernen Gesellschaften gelten s. U.en nicht als natürlich oder gottgegeben, sondern als prinzipiell von Menschen gemacht, was legitime und illegitime Vorstellungen von Besser- und Schlechterstellungen impliziert. So kann etwa (auf Chancengleichheit [ Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit ] basierende Ergebnis-)Ungleicheit als gerecht angesehen werden, wenn sie z. B. auf unterschiedlichen Leistungen oder Bedarfen beruht.

Zentrale (prinzipiell raum-zeitlich variierende) Ungleichheits-Merkmale sind etwa der Beruf (bzw. die Position im Erwerbsystem), Bildung und materieller Wohlstand. Ursachen s.r U. beeinflussen, über welche (Teilhabe-)Ressourcen jemand verfügt; es kann sich um eher zugeschriebene (z. B. ethnische Herkunft) oder erworbene Eigenschaften (z. B. Bildungsqualifikationen) handeln. Hier zeigt sich bereits das Problem, dass Dimensionen, Ursachen und auch Folgen s.r U. (z. B. schichtspezifische Häufigkeiten von Krankheiten) nicht immer scharf voneinander zu trennen sind.

Analytisch wird zwischen vertikalen und horizontalen Ungleichheiten differenziert: Vertikale Ungleichheiten sind hierarchisch angeordnet, z. B. Bildungsabschlüsse oder soziale Schichten. Horizontale Ungleichheiten implizieren für sich genommen noch keine Rangfolge, können jedoch

a) vertikale soziale Positionen mit prägen (wenn z. B. das Geschlecht den beruflichen Aufstieg bei gleicher Qualifikation beeinflusst oder der Geschmack die Zugehörigkeit zu einer Statusgruppe markiert).

Sie können zudem

b) vertikale Statusachsen differenzieren (z. B. in Milieus mit unterschiedlichen Werteorientierungen).

Die Forschung zu s.r U. untersucht zum einen ungleichheitsrelevante Zusammenhänge mittlerer Reichweite (z. B. in welchem Ausmaß der Schulerfolg vom Bildungshintergrund der Eltern abhängt) und stellt diese zum anderen in einen gesellschaftstheoretischen Kontext. Ungleichheitsansätze gehen hier grundsätzlich davon aus, dass Gesellschaften primär vertikal (und nicht funktional in Teilbereiche wie Wirtschaft, Religion, Massenmedien etc.) differenziert sind. In jedem Fall geht das soziologische Interesse für s. U. als eines der Kernthemen der Disziplin über die Deskription von Unterschieden (wie sie z. B. die Marktforschung analysiert) hinaus, indem u. a. danach gefragt wird, welche (hierarchische) Struktur ungleicher Gruppierungen und ihrer Relationen es in einer Gesellschaft gibt, wie sich diese Struktur reproduziert oder wandelt, was daraus für Lebenschancen, Handlungsorientierungen und Zugehörigkeiten, Durchlässigkeit/soziale Schließungen und somit gesellschaftliche Integration oder Spaltungen folgt.

Einer langen Tradition folgt die Konzeptionierung ungleichheitsrelevanter Gruppierungen in soziale Klassen oder Schichten. Beide Ansätze gehen v. a. von sozioökonomischen Ungleichheiten (der Stellung im Produktionsprozess bzw. Beruf, Einkommen etc.) sowie primär vertikalen Untergliederungen aus. Typische Lebenschancen, Mentalitäten etc. werden von diesen ressourcenorientierten Zuordnungen zu Klassen oder Schichten abgeleitet. Unterschiede der Ansätze bestehen u. a. darin, dass der Blick mit Klassenmodellen (v. a. in der Tradition von Karl Marx) stärker auf Ausbeutungsverhältnisse (Ausbeutung) sowie Konflikte zwischen Klassen (sozialer Konflikt) gelenkt wird und somit Prozesse vorrangig in Form sozialen Wandels untersucht werden. Dagegen steht in Schichtmodellen (in Anlehnung etwa an Talcott Parsons oder Theodor Geiger) diese relationale Perspektive zugunsten z. B. von Mobilitätsanalysen weniger im Vordergrund. Soziale Durchlässigkeit vorausgesetzt, sind s. U.en nach diesem Modell z. B. aufgrund unterschiedlicher Leistungen für die Gesellschaft durchaus legitim. In der englischsprachigen Diskussion wird oft nicht scharf zwischen social classes und anderen Stratifikationsformen unterschieden, und auch zunehmende Differenzierungen s.r U.en (mit z. B. stärker wahrgenommenen Statusinkonsistenzen, der Abnahme übergreifender Geltungen von Statussymbolen und pluralisierten Einstellungs- und Handlungsmustern) stellten spätestens ab den 1960/70er Jahren eine Herausforderung für Klassen- und Schichtansätze dar. Im Zuge dessen löste s. U. auch den bis dahin gängigen Oberbegriff der sozialen Schichtung ab.

Seitdem bringen neben weiterentwickelten, differenzierten Klassen- und Schichtmodellen (z. B. bei John Harry Goldthorpe oder Rainer Geißler) andere Ungleichheitsmodelle diese Differenziertheit zum Ausdruck, bspw. Milieu- und Lebensstilansätze. Charakteristisch ist hier, dass die vertikale Achse einer U.s-Struktur systematisch durch eine horizontale Untergliederung ergänzt wird, so dass es bei z. B. ähnlicher Ressourcenausstattung mehrere Milieus gibt, die sich nach dem Alter (Gerhard Schulze) oder der Werteorientierung (Michael Vester, Sinus-Milieus) unterscheiden. Horizontale Aspekte wie das Geschlecht, die Lebensphase oder regionale Disparitäten kamen ebenfalls häufiger in den Blick der Forschung. Mit ihrer Differenziertheit sind diese Konzepte allerdings teilweise auch der Kritik ausgesetzt, eine eher theorieferne Beschreibung von Vielfalt zu liefern. Eine Zusammenführung verschiedener Perspektiven (Klassen, Lebensstile) beansprucht das Modell des sozialen Raums von Pierre Bourdieu: Lebensstile sind dort nicht allein Ausdruck eines klassenspezifisch geprägten Habitus, sondern sie tragen durch die Markierung von Zugehörigkeit bzw. Distinktion auch zentral zur Reproduktion s.r U.en bei.

Eine weitere Gruppe von Ansätzen schließlich geht davon aus, dass sich bestehende s. U.en nicht mehr in einer stabilen Struktur ungleichheitsrelevanter Großgruppen (Gruppe) mit vergleichsweise homogenen Handlungsorientierungen äußern. Ein prominentes Beispiel stellt hier die Individualisierungsthese von Ulrich Beck dar. Eine Freisetzung aus traditionellen Klassenbindungen geht danach mit zunehmenden individuellen Risiken und Orientierungsunsicherheiten einher. Intersektionalitätsansätze betonen ebenfalls, dass es komplexe Konstellationen von Ungleichheitseffekten z. B. von Klassen-, Gender- und ethnischer Zugehörigkeit gibt, welche jeweils verstärkend oder abschwächend wirken können.

Die Diskussion um s. U. folgt heutzutage nicht einem dominanten Modell, sondern je nach Forschungsfrage ist eher von einem gewissen Konzeptpluralismus auszugehen. Nach der oben genannten Betonung differenzierter s. U.en ab ca. den 1980er Jahren gab es seither wieder auch „Rückbesinnungen“ auf vertikale Ungleichheiten, Diskriminierungen etc., die auf eine konzeptionelle Berücksichtigung von Differenzierungen, Zwischenstufen, Unschärfen etc. jedoch nicht verzichten können. Es bleiben theoretische Herausforderungen der Ungleichheitsforschung bestehen: So gilt es etwa, ungleichheitsrelevante Prozesse wie die Reproduktion bzw. den Wandel s.r U.en zu erklären und mehr oder weniger differenzierte Einteilungen von Kategorien vorzunehmen, die Lebenswirklichkeiten spiegeln (weshalb die soziologische Ungleichheitsforschung oft nicht allein auf z. B. Einkommenseinteilungen rekurriert).

2. Perspektiven der Forschung

Die empirische Forschung zu s.r U. ist so breit angelegt, dass hier kein umfassender Überblick zu ihren Befunden erfolgen kann. Stattdessen sei abschließend auf zwei Perspektiven verwiesen, die bei bzw. neben der Analyse von Zusammenhängen zwischen Ausprägungen s.r U. und ihren Ursachen bedeutsam sind.

Erstens geht es darum, Prozesse s.r U. treffend abzubilden. Mit Blick auf Ressourcen wird für Deutschland darauf verwiesen, dass eine „Schere“ von Einkommensungleichheiten auseinandergeht und dass Eliten sich zu einem nennenswerten Anteil aus sich selbst heraus reproduzieren, während die Verfestigung von Armut zugenommen hat. Aber auch stärker kulturelle Aspekte solcher Prozesse sind beobachtbar, z. B. mit der Analyse von Dynamiken sozialer Grenzziehungen und Differenzherstellungen oder von Bedeutungen der Werteorientierungen und Habitus für die Statusreproduktion. Für Mittelschichtangehörige steht bspw. in Frage, ob ihnen als typisch zugeordnete Charakteristika wie das Streben nach langfristiger Planung auch unter sich wandelnden Bedingungen der Erwerbsarbeit eine erfolgreiche Strategie des Statuserhalts sein kann.

Zweitens bleibt es eine Aufgabe, ungleichheitsrelevante Kategorien festzulegen. Neben der Frage, wie Kategorien eingeteilt werden (z. B. nach beruflichen Qualifikationen), ist dabei – nach wie vor und immer wieder – zu klären, wie viele Gruppierungen mit welchen Grenzziehungen für welche Forschungsfrage unterschieden werden: Ab welchem Haushaltseinkommen gehört man etwa zur „Oberschicht“? Sind z. B. Facharbeiter/innen Teil der Mittelschicht, oder bilden sie eine eigene Kategorie? Dabei erweisen sich auch systematische Unschärfen als konzeptionell relevant, wenn z. B. prekäre Lebenslagen als gesellschaftliche Zwischenzone angesehen werden. Weiterhin sind vertikale U.en systematisch mit „Humandifferenzierungen“ im weiteren Sinne in ein Verhältnis zu setzen.

Für beide Perspektiven besteht ein wichtiger Punkt der Debatte stets auch in ihrer raum-zeitlichen Dimensionierung. Mithilfe verschiedener Längsschnittdaten (für Deutschland z. B. das SOEP, eine jährliche Befragung seit 1984) können mittlerweile Verläufe über zumindest Jahrzehnte hinweg anhand eines vergleichbaren empirischen Settings nachvollzogen werden. Betont wird in der Diskussion insb. auch die räumliche Dimension in dem Sinne, dass es bedeutsamer wird, über den nationalstaatlichen Blick hinaus transnationale Prozesse bzw. globalisierte Kontexte zu berücksichtigen.

Der Dialog zwischen konzeptionellen Lösungen und empirischen Befunden mittlerer Reichweite einerseits und der Anbindung an gesellschaftstheoretische Fragen nach Strukturen und Dynamiken s.r U. andererseits wird hierbei auch künftig eine Aufgabe der soziologischen U.s-Forschung bleiben.