Soziale Sicherheit

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  1. I. Wirtschaftswissenschaftlich
  2. II. Sozialethisch

I. Wirtschaftswissenschaftlich

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S. S. ist bei Umfragen eines der wichtigsten Anliegen der Menschen. Der Staat soll sie gegen die großen RisikenArbeitslosigkeit, Armut im Alter, Krankheit und Gebrechlichkeit – schützen. Die Erfüllung dieser Aufgaben ist der Kern jedes sozial- oder wohlfahrtsstaatlichen Konstrukts (Sozialstaat, Wohlfahrtsstaat). Aus ökonomischer Perspektive können zwei Gründe für die Etablierung sozialer Sicherungssysteme angeführt werden: Zum einen wirken diese Systeme makroökonomisch als automatische Stabilisatoren. In Phasen der Nichterwerbsarbeit erhalten die Individuen monetäre Unterstützung aus dem Sozialsystem und können somit ihre Ausgaben weitgehend aufrechterhalten. Damit fällt deren Konsum als Teil der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage nicht aus und konjunkturelle Einbrüche können abgemildert werden. Soziale Sicherungssysteme stabilisieren die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und somit die gesamte ökonomische Entwicklung. Zum anderen spielt die s. S. auch auf mikroökonomischer, d. h. individueller Ebene eine wichtige und stabilisierende Rolle.

Eine freiwillige private Absicherung der klassischen Lebensrisiken ist voraussetzungsreich. Auf sie kann gebaut werden, wenn Individuen die materiellen Ressourcen hierfür haben. Diese materiellen Möglichkeiten hängen wiederum von unterschiedlichen Faktoren wie soziale Stellung, Einkommensniveau und Lebensalter ab, was zu Verteilungsproblemen in der Gesellschaft führt. Über Märkte organisierte Absicherungssysteme werfen aber nicht nur verteilungspolitische Probleme auf, sondern führen auch zu Marktversagen, d. h. bestehende Marktunvollkommenheiten auf dem Versicherungsmarkt (Versicherung) haben preissteigernde und wohlfahrtssenkende Wirkungen. Damit ist eine staatliche Organisation der Absicherung von Lebensrisiken nicht nur aus distributiven, sondern auch aus allokativen Gründen (Allokation) notwendig. Neben den materiellen Möglichkeiten spielt auch die Bereitschaft der Individuen für eine Absicherung eine entscheidende Rolle, mit anderen Worten: Erkennen die Individuen bspw., dass sie eine Absicherung brauchen? Individuen überschätzen meist geringere und gleichzeitig öfter auftretende Risiken, wie etwa Erkältungen, und unterschätzen höhere Risiken, die seltener auftreten, wie etwa Arbeitslosigkeit, Alter und Krankheit, in ihren Auswirkungen und sorgen nicht entspr. vor. Derartige Abweichungen spielen für die Begründung und die Organisation sozialer Sicherung eine bedeutende Rolle, wie wir insb. am Beispiel der Alterssicherung zeigen werden.

Alterssicherung ist aus ökonomischer Sicht zunächst kein gesellschaftliches, sondern ein individuelles Problem. Unter den Rationalitätsannahmen des homo oeconomicus der Neoklassik spart das Individuum während seiner Erwerbsphase entspr. seiner Präferenzen einen Kapitalstock an, der in der Ruhestandsphase aufgebraucht wird. Diese sog.e Lebenszyklustheorie des Sparens benötigt allerdings einige Annahmen über das menschliche Verhalten, die sich i. S. d. Neoklassik am Menschenbild des homo oeconomicus orientieren. Zahlreiche Studien aus der Verhaltensökonomik zeigen aber, dass es systematische Verhaltensweisen von Individuen gibt, die nicht mit dem Bild des homo oeconomicus zusammenpassen und weitreichende Folgen für die Absicherung im Alter haben, hier seien nur einige aufgezählt:

a) Geldwertillusion: Individuen weisen die Tendenz auf, in nominalen Werten zu denken anstatt in realen Geldwerten. Begründet wird dies mit der Einfachheit, Allgemeingültigkeit und dem unmittelbaren Hervorstechen der nominellen Werte. Inflation wird so entspr. (stark) unterschätzt. Eine Überschätzung der individuellen Ansprüche aus der ersten Säule in Folge der unzureichenden Renteninformation führt dazu, dass die Notwendigkeit zur ergänzenden Altersvorsorge nicht erkannt wird.

b) Finanz- und Altersaversion: Je umfangreicher und aufwendiger die Beschaffung, Verarbeitung und Auswertung von Informationen zur Bewältigung finanzieller Entscheidungen sind, desto eher kommt es zu einer Überforderung. Dies ist bes. ausgeprägt im Zusammenhang mit geringer finanzieller Allgemeinbildung und wenig Erfahrungen im Umgang mit Finanzprodukten. Weiterhin wird das Alter systematisch mit negativen Eindrücken und Klischees wie geringerer Produktivität, Einsamkeit, Armut, Krankheit und Pflegebedürftigkeit assoziiert. Ein Unterlassen der Beschäftigung mit dem Thema der privaten Altersvorsorge wird bei einer Abneigung gegenüber Finanzthemen und negativen Altersbildern wahrscheinlicher.

c) Kurzsichtiges Verhalten und Gegenwartspräferenz: Individuen tendieren dazu, die in der entfernten Zukunft liegenden Konsequenzen ihres Verhaltens in der gegenwärtigen Situation nicht ausreichend zu berücksichtigen. Weiterhin werden gegenwärtige Bedürfnisse gegenüber zukünftigen bevorzugt. Da bei kaum einem Gut der Anlagehorizont so lang ist wie bei der Altersvorsorge, dominieren hier Gegenwartspräfenzen bes. – der gegenwärtige Konsum wird dem im Rentenalter vorgezogen.

d) Mangelnde Selbstkontrolle: Durch ein Gefüge von lang- und kurzfristigen Präferenzen kommt es durch fehlende Selbstkontrolle zur Verletzung der intertemporalen Nutzenmaximierung. Das Individuum kann sich als „Planer“ oder als „Macher“ verhalten. Ersterer ist auf die Nutzenmaximierung über den Lebenszyklus ausgerichtet und kann sich an Regeln binden, etwa durch den Abschluss eines festen Sparplans zur Altersvorsorge. „Macher“ hingegen haben einen kurzfristigen Zeithorizont, sind auf den gegenwärtigen Konsum fokussiert und unterliegen eher alltäglichen Versuchungen und Verlockungen als „Planer“.

e) Verlustaversion: Die Bewertung von Gewinnen und Verlusten erfolgt nicht absolut, sondern relativ zu einem Referenzpunkt, wobei Verlusten ein deutlich höherer Wert beigemessen wird als Gewinnen in gleicher Höhe. Aus Angst vor finanziellen Verlusten kann eine freiwillige Altersvorsorge daher unterbleiben.

f) Status-quo-bias: Eng mit der Verlustaversion verknüpft ist der Status-quo-bias, wonach Individuen eine starke Tendenz aufweisen, im Status-quo zu verharren, da die Nachteile, diesen zu verlassen, gravierender erscheinen als die Vorteile. Einmal getroffene Entscheidungen, wie die Wahl des abgeschlossenen Vertrages für die Altersvorsorge, werden entweder nicht mehr hinterfragt oder es kommt erst gar nicht zu einem Vertragsabschluss, da die Situation ohne private Zusatzvorsorge unbedenklicher erscheint.

g) Überflutung mit Wahlmöglichkeiten: Eine große Zahl an Produkt- und Wahlmöglichkeiten erhöht die daraus resultierenden Kosten der Informationsbeschaffung deutlich. Bei den Individuen stellt sich schnell das Gefühl der Überforderung ein. Auch sinkt sowohl die Motivation, ein Produkt auszuwählen, als auch die Zufriedenheit mit der Entscheidung mit der Zahl der zur Auswahl stehenden Produkte. Bei der Altersvorsorge werden dann entweder gar keine Entscheidungen getroffen und kein Vorsorgevertrag abgeschlossen oder die Informationssuche vorzeitig abgebrochen, keine weiteren Vergleiche durchgeführt und so möglicherweise ein nicht geeignetes Produkt gewählt.

Aus neoklassischer Sicht liegen Anomalien des menschlichen Verhaltens vor, die zum Marktversagen führen. Die Konsequenz ist, dass Individuen nicht eigenständig und freiwillig für ihr Alter vorsorgen, wie es die Lebenszyklustheorie unterstellt und wie es auch tatsächlich notwendig wäre. Daraus ergibt sich die ökonomische Notwendigkeit für Staatseingriffe in Form einer Versicherungspflicht oder weicheren Formen wie etwa Steuern, Subventionen oder Nudging (sog.e Verhaltensanstöße, die eine Entscheidungsfindung erleichtern sollen). Es geht also immer um die Beeinflussung individuellen Verhaltens wie um die Gestaltung von Märkten, damit Individuen sich möglichst rational i. S. d. homo oeconomicus verhalten.

In Deutschland besteht Versicherungszwang für alle sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die über ihre Sozialversicherungsbeiträge Anspruch auf Lohnersatz bzw. Sach- und Dienstleistungen im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter, Pflege sowie Unfall (Unfallversicherung) erwerben. In der Pflichtversicherung müssen alle Individuen einer Versichertengemeinschaft Mitglied dieser Versicherung sein. In Deutschland ist dies der Fall für alle sozialversicherungspflichtig Erwerbstätigen in der Arbeitslosen- oder der gesetzlichen Rentenversicherung. Hier gibt es nur eine Sozialversicherung, bei der man automatisch versichert ist. Es gilt das Äquivalenzprinzip, d. h. Leistungen, die im Falle des Risikoeintritts in Anspruch genommen werden, richten sich nach den zuvor geleisteten Beiträgen. Gesichert wird so der Lebensstandard, also die Beibehaltung der relativen gesellschaftlichen Position der Individuen. In der Alterssicherung soll dies durch gesetzliche, betriebliche und private Absicherung gewährleistet sein.

Alternativ dazu kann eine Versicherungspflicht vorliegen. Besitzen die Individuen den für eine Versicherungspflicht notwendigen Status, in Deutschland wiederum die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, so müssen sie sich versichern, haben jedoch die Wahl zwischen verschiedenen Versicherungen. Dies ist der Fall in der KV und Pflegeversicherung, wo die Versicherten zwischen verschiedenen Kranken- und Pflegekassen wählen können. Die Modifizierung des Äquivalenzprinzips durch das Solidarprinzip (Solidarität) ist v. a. in der Bedarfsorientierung innerhalb der Kranken- und Pflegeversicherung zu sehen. Es gibt keine risikoäquivalente Prämiendifferenzierung, d. h. Beiträge orientieren sich nicht an individuellen Risikowahrscheinlichkeiten oder am Alter, sie sind über den gesamten Erwerbsverlauf für alle gleich. Der Zugang erfolgt ausschließlich über eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung; Ausschluss aufgrund bes.r Risiken wie schweren Erkrankungen oder der Ausschluss von bestimmten Leistungen ist in der Logik des Sozialversicherungssystems nicht vorhanden. Damit sind auch schlechte Risiken bedingungslos und ohne zusätzliche Beitragsleistungen abgesichert. Die für Versicherungen notwendige Streuung sog.er guter und schlechter Risiken erfolgt hier durch die große Zahl an Mitgliedern.

Schließlich kann die Absicherung auch freiwillig sein, der Staat versucht in diesem Fall die Bürger mit Hilfe marktwirtschaftlicher Instrumente zu einer Absicherung zu motivieren. Dies geschieht i. d. R. mit Hilfe von monetären Anreizen wie Steuern und Subventionen. Eine nicht-monetäre Beeinflussungsmöglichkeit ist zudem das sog.e Nudging. Die Entscheidungssituation der Individuen soll dabei so gestaltet werden, dass diese quasi automatisch die ökonomisch und damit gesellschaftlich gewünschte Entscheidung treffen. So müssen die Menschen in Deutschland der Organspende ausdrücklich zustimmen, während sie dieser in Österreich ausdrücklich widersprechen müssen. Aufgrund dieses mit Aufwand verbundenen Akts der Zustimmung oder Ablehnung gibt es in Österreich wesentlich mehr Organspender als in Deutschland. Meist handelt es sich bei diesen drei Absicherungsmöglichkeiten nicht um alternative, sondern um komplementäre Organisationen der sozialen Sicherung. Dies zeigt sich idealtypisch am Beispiel der Alterssicherung.

Die Weltbank hat Mitte der 1990er Jahre begonnen, ein Drei-Säulen-Modell der Alterssicherung zu propagieren. Die drei Säulen sind eine staatliche grundlegende Absicherung, organisiert als Pflichtversicherung, eine betriebliche Absicherung verbunden mit einer Versicherungspflicht und als dritte Säule die private Absicherung unterstützt durch Subventionen und positiv wirkende Entscheidungssituationen. Für Deutschland wurde diese Idee der komplementären Absicherung etwas modifiziert: Die umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung stellt die erste Säule da. Sie soll zwar nicht das Existenzminimum, sondern den Lebensstandard sichern, was aber noch keine Aussage über den absoluten materiellen Umfang der Rente liefert, sondern nur die relative Position während des Erwerbslebens widerspiegeln soll. Dass die Säulen nicht gleich umfangreich sind, zeigt sich daran, dass diese erste Säule in Deutschland für etwa 80 % der Alterseinkommen steht. Insofern wäre der Begriff der Schichten dem der Säulen vorzuziehen. Die zweite Säule besteht aus der betrieblichen Altersvorsorge: Etwa 64 % der Beschäftigten haben eine betriebliche Altersversorgung, die aber nur etwa 5 % der zu beziehenden Ruhegelder ausmacht. Zudem gibt es ausgeprägte Divergenzen zwischen Branchen und Betriebsgrößen, so dass hier eine starke Segmentation zwischen den Erwerbstätigen in Bezug auf die Beteiligungsmöglichkeiten der Erwerbstätigen an dieser zweiten Säule besteht. Die dritte Säule ist v. a. unter den Begriffen Riester-Rente und Rürup-Rente bekannt geworden. Ziel ist die Sicherung des Lebensstandards mit Hilfe dieser Ergänzung. Rund 40 % der Bürger, die einen derartigen Altersvorsorgevertrag abschließen können, haben dies tatsächlich umgesetzt. Folglich ist auch der Deckungsgrad mit etwa 10 % am gesamten Renteneinkommen eher gering. Auch diese Form ist freiwillig und wird mit Subventionen unterstützt. Zudem wird überlegt, die Renteninformationen umfassender zu gestalten, d. h. insb. eine Übersicht über alle drei Säulen an einer Stelle zu ermöglichen und zudem die Entscheidungssituation so zu gestalten, dass automatisch mehr Personen eine Riester- oder Rürup-Rente abschließen.

Soziale Sicherung sollte also aus ökonomischen Gründen staatlich organisiert sein, weil die Individuen in vielfacher Hinsicht damit überfordert sind, entweder sie erkennen die Notwendigkeit nicht oder sie können aufgrund fehlender materieller Ausstattung nicht ausreichend vorsorgen. Folglich entstehen dem Staat bzw. der Gesellschaft Kosten, die nur über eine Versicherungspflicht bzw. eine Pflichtversicherung minimiert werden können.

II. Sozialethisch

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Seit dem Auftauchen des Begriffspaars s. S. in den 1930er Jahren steht sein definitorischer Gehalt nicht fest. Der Begriff entzieht sich einer umfassenden bzw. allg. anerkannten Definition, nichtsdestotrotz kann er aber als normative Zielvorstellung einer auf umfängliche Absicherung ausgerichteten Sozialpolitik identifiziert werden. Oft dient der Begriff auch als Synonym für Sozialversicherung bzw. soziale Sicherung. Er unterliegt historischen Bedeutungsverschiebungen und steht in einem spezifischen, vom nationalen bzw. kulturellen Umfeld geprägten Kontext.

1. Der Social Security Act

Zuerst kommt der Begriff s. S. im angloamerikanischen Sprachraum auf und hält als Übersetzung von social security Einzug in den deutschen Sprachraum. Eine prominente Stellung nimmt er im Social Security Act ein, der von US-Präsident Franklin Delano Roosevelt am 14.8.1935 unterzeichnet wurde. Dieses Gesetz wurde im Rahmen des New Deal von der Roosevelt-Administration ausgearbeitet und begründet in den USA erstmals eine staatliche Verantwortung für die s. S. der Bürgerinnen und Bürger. So wird der Social Security Act mit folgenden Worten eingeleitet: „An act to provide for the general welfare by establishing a system of Federal old-age benefits, and by enabling the several States to make more adequate provision for aged persons, blind persons, dependent and crippled children, maternal and child welfare, public health, and the administration of their unemployment compensation laws; to establish a Social Security Board; to raise revenue; and for other purposes.“

Die Verabschiedung des Social Security Act 1935 führte in den USA zur Schaffung eines Sozialstaates, erste Sozialversicherungen wurden eingeführt, so die Rentenversicherung – die in den USA ebenfalls unter der Bezeichnung Social Security firmiert –, eine Witwenrente für die Angehörigen der Opfer von Industrieunfällen und Hilfen für Menschen mit Behinderung sowie für alleinerziehende Mütter. Mit Ende der 1930er Jahre verbreitet sich der Begriff der s.n S. über den angloamerikanischen Sprachraum hinaus, sicherlich unterstützt durch die Unschärfe des Begriffs. In der „Atlantik-Charta“ vom 14.8.1941 formulierten der britische Premierminister Winston Churchill und US-Präsident F. D. Roosevelt mit Blick auf eine Nachkriegsordnung mehrere politische Grundsätze. Hier findet sich in Punkt 5 der Begriff der s.n S. wieder, wünschen sich die Regierungschefs doch „die engste Zusammenarbeit aller Nationen auf wirtschaftlichem Gebiet, um bessere Löhne, wirtschaftlichen Fortschritt und soziale Sicherheit zu gewährleisten“. Auch wurde der Begriff der s.n S. in der „Erklärung von Philadelphia“ (1944) der ILO verwendet. „Von da an kann der Begriff als international etabliert gelten“ (Kaufmann 2003 b: 84).

2. Soziale Sicherheit als menschenrechtlicher Tatbestand

1948 wurde der Begriff der s.n S. in die AEMR der UNO aufgenommen. Art. 22 bestimmt programmatisch das Recht eines jedes Menschen auf s. S.: „Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit und Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit sowie unter Berücksichtigung der Organisation und der Mittel jedes Staates in den Genuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlich sind.“ S. S. und die Wahrung der Menschenwürde stehen somit in einem unmittelbaren Zusammenhang. Die folgenden Art. 23 bis 27 der AEMR konkretisieren dieses Recht auf s. S.: Jeder Mensch hat ein Recht auf Arbeit und gleichen Lohn, das Recht auf Erholung und Freizeit, das Recht auf Wohlfahrt, das Recht auf Bildung und die Teilnahme am Kulturleben.

Im IPwskR (kurz: „UN-Sozialpakt“) – am 16.12.1966 von der UN-Generalversammlung einstimmig verabschiedet und im Jahr 1976 in Kraft getreten – werden in völkerrechtlich (Völkerrecht) verbindlicher Form grundlegende soziale Menschenrechte garantiert. In Art. 9 des UN-Sozialpaktes wird zum einen das Recht eines jeden Menschen auf s. S. anerkannt und zum anderen wird klargestellt, dass unter diesen Begriff auch die Sozialversicherung fällt. Allerdings garantiert dieser Artikel weder ein subjektives Recht auf Aufnahme in das System der Sozialversicherung, noch wurde damit eine völkerrechtliche Verpflichtung geschaffen, das normative Leitbild der s.n S. durch die Schaffung einer Sozialversicherung umzusetzen.

3. Soziale Sicherheit und das System der sozialen Sicherung

Wenn unter s.r S. eine gesellschaftspolitische Leitidee bzw. eine programmatische Formel verstanden wird (neben Gerechtigkeit, Freiheit, Solidarität und Subsidiarität), auf deren Grundlage sich Staaten verpflichten, die Bevölkerung gegen Risiken verschiedenster Art abzusichern, dann stellt sich die Frage, was alles dieser sozialpolitischen Zielvorstellung der s.n S. zugerechnet werden kann. Die ILO nennt im „Übereinkommen 102“ über die „Mindestnormen der sozialen Sicherheit“ von 1952 neun verschiedene soziale Risiken, vor denen das Individuum abgesichert werden soll: Krankheit, Verdienstausfall infolge von Krankheit, Alter, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Mutterschaft, Invalidität, Tod und Familienlasten.

Auf welche Weise Staaten diese normativen Zielvorstellungen der s.n S. institutionell umsetzen bzw. wie sie diese i. S. v. Staatsaufgaben gewährleisten, steht ihnen (auch i. S. d. UN-Sozialpaktes) offen. Der Begriff der s.n S. kann von den politisch handelnden Akteuren weit ausgelegt werden. Mit dem Begriff der s.n S. können also verschiedene Systeme der sozialen Sicherung einhergehen, die im internationalen Vergleich verschiedene Ausprägungen erfahren.

4. Soziale Sicherung in Deutschland

In Deutschland existiert ein umfassendes System der sozialen Sicherung, das s. S. gewährleisten soll und dessen wichtigste Grundlagen sich in den zwölf SGB finden. Geregelt sind dort u. a. die fünf Zweige der gesetzlichen Sozialversicherung: die Rentenversicherung bzw. Alterssicherung (Rehabilitation, Rente bei Erwerbsminderung, Rente im Alter und Rente für Hinterbliebene), die Arbeitslosenversicherung (Arbeitsvermittlung und Fördermaßnahmen, Arbeitslosengeld), die KV (medizinische Behandlung, Arzneimittel, Krankengeld), die Unfallversicherung (Behandlungskosten und Rente bei Arbeitsunfall oder Berufsunfähigkeit) und die Pflegeversicherung (ambulante Pflege, Heimunterbringung, Pflegehilfsmittel, Rentenversicherungsbeiträge für Pflegepersonen). Mehr als 60 % aller Sozialleistungen (2019: 61,4 %) entfallen auf diese fünf Zweige der Sozialversicherung. Allein die gesetzliche Rentenversicherung und die GKV decken mit 30,5 % und 23,1 % mehr als die Hälfte aller Sozialausgaben ab (die aktuellen Daten finden sich im jährlichen Bericht der Bundesregierung über das Sozialbudget).

Die quantitativen Dimensionen der anderen Sozialleistungen fallen gegenüber der gesetzlichen Sozialversicherung deutlich ab. Hierbei handelt es sich entweder um Arbeitgeberleistungen (Entgeltfortzahlung und betriebliche Altersversorgung) oder um steuerfinanzierte Leistungen (Jugend- und Sozialhilfe, Grundsicherung für Arbeitsuchende [„Hartz IV“], Kindergeld/Familienleistungsausgleich). Außerdem gehören zu den Sozialleistungen noch die Pensions- und Beihilfeausgaben für Beamte. Als weitere Sozialleistungen sind zu nennen: die Ausbildungsförderung, das Elterngeld, das Wohngeld, die Entschädigungssysteme (Kriegsopferversorgung, Lastenausgleich), die Alterssicherung für Landwirte, die Versorgungswerke der freien Berufe, die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst.

Neben diesen staatlich organisierten Sozialleistungen, die auf den Schutz von Standardrisiken zielen, werden auf der Grundlage der normativen Leitidee S.r S. auch weitere soziale Dienstleistungen vorgehalten. In einem weiteren Sinn gehören deshalb auch die sozialen Dienste mit ihren Angeboten zur Eingliederung und Wiedereingliederung von in Schwierigkeiten geratenen Menschen zum System der sozialen Sicherung.