Soziale Probleme

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1. Begriff und sozialwissenschaftlicher Stellenwert

Bei s.n P.n handelt es sich um Lebenslagen und Handlungsmuster, die im Hinblick auf die betroffenen Bevölkerungsgruppen als unwürdig, existenzgefährdend oder diskriminierend bzw. im Hinblick auf die Gesamtgesellschaft als dysfunktional oder bedrohlich angesehen werden. Die Expansion der Sozialwissenschaften ist untrennbar verbunden mit dem Interesse an s.n P.n. Ein Beispiel hierfür ist etwa die Ende des 19. Jh. erschienene Studie „Life and labour of the people in London“ von Charles Booth. In Deutschland hatten im letzten Drittel des 19. Jh. Enqueten des 1872 gegründeten Verein für Socialpolitik die problematische Lage einzelner gesellschaftlicher Gruppen zum Gegenstand. So war Max Weber an der Auswertung einer Enquete zur Lage von Landarbeitern beteiligt, die 1892 veröffentlicht wurde. Eine der klassischen Studien der empirischen Sozialforschung, „Die Arbeitslosen von Marienthal“ (1933) von Marie Jahoda, Paul Felix Lazarsfeld und Hans Zeisel befasste sich in der Zwischenkriegszeit mit den Lebensverhältnissen und Bewältigungsstrategien von Arbeitslosen. Und in den Anfangsjahren der Bundesrepublik bearbeiteten Sozialwissenschaftler Themen wie „Flüchtlingskinder in neuer Heimat“ (Pfeil 1951), „Arbeitslosigkeit und Berufsnot der Jugend“ (Schelsky 1952) oder „Deutsche Familien nach dem Kriege“ (Baumert 1954). Nachdem in den USA schon 1951 die Society for the Study of Social Problems (SSSP) gegründet worden war (Publikationsorgan: Soc. Prob.), richtete auch die Deutsche Gesellschaft für Soziologie 1980 eine Sektion Soziale Probleme und soziale Kontrolle ein. Seit 1990 erscheint die von der Deutschen Gesellschaft für Soziologie herausgegebene Zeitschrift „Soziale Probleme“.

2. Theoretische Grundpositionen

In den ersten Jahrzehnten der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit s.n P.n dominierte die Auffassung, solche Probleme ließen sich anhand objektiver Kriterien identifizieren. Für den diesem „objektivistischen“ Ansatz zugerechneten Soziologen Robert King Merton, der in der zeitgenössischen Fachdiskussion eine große Rolle spielte und dessen Position bis heute einen Bezugspunkt darstellt, liegt einem s.n P. eine erhebliche („substantial“ [Merton 1966: 780]) Diskrepanz zwischen weithin geteilten sozialen Standards und den jeweiligen Bedingungen des Zusammenlebens zugrunde. Sozial sei ein Problem dadurch, dass es soziale Ursachen habe. Bei dieser Sichtweise bleibt allerdings außer Betracht, dass „soziale Ursachen“ selbst wieder durch physische Faktoren bedingt sein können. Dies ist etwa der Fall, wenn eine Naturkatastrophe die Infrastruktur einer ganzen Region zerstört, die Überlebenden aber aufgrund von Unfähigkeit der Behörden oder wegen eines andauernden Kompetenzgerangels noch Monate oder gar Jahre nach dem Ereignis in Notunterkünften, ohne ausreichende Versorgung mit Nahrungsmitteln und weitgehend unter Verzicht auf medizinische Versorgung leben müssen. Überdies ist etwa durch den Anstieg des Meeresspiegels aufgrund des Klimawandels und durch den damit einhergehenden Verlust der Lebensgrundlagen der Bevölkerung in küstennahen Regionen in Zukunft mit erheblichen s.n P.n zu rechnen, wie überhaupt die Zahl der „Klimaflüchtlinge“ zunehmen wird. Dass die sozialen Standards, die dabei in in ärmeren Ländern der Identifikation eines Sachverhalts als s.s P. zugrunde liegen, andere sind als in hoch entwickelten Ländern, liegt auf der Hand. In einer zunehmend vernetzten Welt kann es aber nicht ausbleiben, dass auch in ärmeren Regionen die Bereitschaft abnimmt, Verhältnisse, die bislang als unvermeidlich galten, einfach hinzunehmen. Über lange Zeiträume hinweg fatalistisch ertragene Zustände werden dann zu einem s.n P.

Gegen die Position, s.n P.n liege eine Diskrepanz zwischen sozialen Standards und konkreten Verhältnissen zugrunde, wird zu Recht eingewandt, dass es nicht nur zwischen Gesellschaften, sondern auch innerhalb einer Gesellschaft keinen universellen Konsens im Hinblick auf soziale Standards gibt. Ohne Zweifel besteht, sieht man einmal von kriminellen Subkulturen ab, nahezu völlige Übereinstimmung darin, dass Angriffe auf das Leben oder auf fremdes Eigentum verwerflich sind. Doch können auch innerhalb der durch die Rechtsordnung gesetzten Grenzen in unterschiedlichen sozialen Milieus je eigene Standards existieren. Sicherlich wird etwa Alkoholabusus von der großen Mehrheit der Menschen als ein Problem angesehen, doch bestehen gewöhnlich unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie häufig, bei welchen Gelegenheiten und in welcher Intensität man, so die gängige Formulierung, „über die Stränge schlagen“ darf. Und beim Vergleich verschiedener Bevölkerungsgruppen wird man feststellen, dass nach wie vor die Meinungen darüber auseinandergehen, welches Verhalten innerhalb der Familie als gewalttätig anzusehen ist und welches nicht. Dass „Gewalt in der Familie“ heute dennoch als ein s.s P. wahrgenommen wird, ist das Ergebnis von Prozessen der Sensibilisierung, Aufklärung und politischen Willensbildung.

Wodurch solche Prozesse angestoßen werden, wer die Akteure sind, welche Interessen handlungsleitend sind, welche Strategien zum Einsatz kommen und welche Reaktionsmuster in der Öffentlichkeit anzutreffen sind, dies sind Fragen, welche im „rekonstruktionistischen“ Ansatz im Vordergrund stehen. D. h. natürlich nicht, dass der objektive Gehalt von s.n P.n in der heutigen Diskussion keine Rolle mehr spielt. Alkoholismus und Gewalt in der Familie haben eben genauso eine objektive Seite wie Spielsucht oder unzureichende gesellschaftliche Integration von Menschen mit Behinderung. Was sich aber geweitet hat, ist der Blickwinkel bei der wissenschaftlichen Befassung mit s.n P.n durch die Einbeziehung von Prozessphänomenen. Letztlich bleibt aber die schon 1990 formulierte Feststellung von Günter Albrecht gültig, weder der „objektivistische“ noch der „rekonstruktionistische“ Ansatz sei für sich genommen in der Lage, bei der wissenschaftlichen Analyse von s.n P.n befriedigende Ergebnisse zu liefern.

3. Alte und neue soziale Probleme

Betrachtet man die gesellschaftlichen Entwicklungen seit dem Anfang des 19. Jh., dann kann im Phänomen des Pauperismus, sowohl was das Ausmaß als auch was die öffentliche Wahrnehmung anbelangt, eines der ersten s.n P. im heutigen Verständnis gesehen werden. Auch die zeitgenössischen Beobachter, die sich kritisch mit sozialen und ökonomischen Fragen befassten, sahen hierin eine der großen Herausforderungen der Epoche. Ihre Ursache hatte die Massenarmut in einem schnellen Bevölkerungswachstum bei stagnierendem Produktivitätszuwachs. Nicht nur in den politischen und wirtschaftlichen Eliten, sondern auch in bürgerlichen Kreisen wurde darin eine Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung gesehen. Heinrich Heine spielte hierauf in seinem Gedicht von den zwei Sorten Ratten an. Während die satten Ratten „vergnügt zu Haus“ (Heine 1986: 285) bleiben, wandern die hungrigen aus und lehren als „radikale Rotte“ (Heine 1986: 285), die darauf aus ist „aufs neue zu theilen die Welt“ (Heine 1986: 285), die Repräsentanten der staatlichen Ordnung das Fürchten.

Zwar entstanden mit der fortschreitenden Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) neue Arbeitsplätze, doch war das Angebot an Arbeitskräften immer noch so groß, dass die Unternehmer die Arbeitsbedingungen diktieren konnten. Die Folge waren extrem lange Arbeitszeiten, asymmetrische Rechtsbeziehungen zwischen Unternehmer und Arbeiter, fehlende Schutzvorkehrungen am Arbeitsplatz und niedrige Löhne. Mehr und mehr trat die „Soziale Frage“ ins öffentliche Bewusstsein, theoretische Erklärungen und politische Antworten wurden gesucht. Für Karl Marx und Friedrich Engels war die Soziale Frage Ausdruck des Gegensatzes von Kapital und Arbeit und konnte nur durch die Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftsweise aufgelöst werden. Ihre eigentliche politische Sprengkraft entfaltete diese Position allerdings erst im 20. Jh. mit der russischen Oktoberrevolution von 1917. Im 19. Jh. wurden politische Maßnahmen zur Entschärfung der Sozialen Frage noch weitgehend von bürgerlichen Kräften bzw. solchen aus dem kirchlichen Raum (Franz Joseph Ritter von Buß, Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler, Adolf Kolping) getragen.

Viele Phänomene, die auch heute noch als s. P. gelten, wurden in der Vergangenheit in eine Verbindung mit der Sozialen Frage gebracht. Dies gilt etwa für Alkoholismus, Deprivation oder Arbeitslosigkeit. Andere Probleme kamen im Laufe der Zeit hinzu, bedingt durch Veränderungen der Lebensformen und der Lebenserwartung, Wandel der Arbeitswelt, gestiegene Ansprüche im Hinblick auf gesellschaftliche und politische Partizipation, Gleichberechtigung von Mann und Frau, wachsende Sensibilität für die Lage von Minderheiten, technologische Entwicklungen sowie Internationalisierung und Globalisierung. Große Aufmerksamkeit erregte Heiner Geißler 1976 mit seinem Buch „Die Neue Soziale Frage“. Nicht mehr der Gegensatz von Kapital und Arbeit wie bei der alten Sozialen Frage sei für die Lebensbedingungen und das soziale Klima bestimmend, so sein Argument, sondern zum einen der Gegensatz zwischen denen, die organisiert sind und so ihre Interessen durchsetzen können, und denen, die es nicht sind; zum anderen der Gegensatz zwischen Produzenten und Nichtproduzenten. Zu Letzteren gehören aus seiner Sicht Kinder, Hausfrauen (!) und alte Menschen. Die von H. Geißler mit seiner These von der neuen Sozialen Frage angesprochenen Asymmetrien kommen in einer ganzen Reihe von Konstellationen zum Tragen, die heute als s.s P. wahrgenommen, diskutiert und wissenschaftlich analysiert werden. Zu diesen Problemen gehört die Lage von Menschen mit Behinderung oder chronischer Krankheit ebenso wie Wohnungslosigkeit und Exklusion (Inklusion, Exklusion). Wie in einer zunehmend vernetzten Welt exogene politische und wirtschaftliche Prozesse sowie technologische Entwicklungen zu neuen s.n P.n führen können, zeigt sich zum einen beim Umgang mit dem Tatbestand der Zuwanderung sowie bei den Auswirkungen neuer Informationstechnologien auf das Zusammenleben der Menschen.

Anders als „klassische“ Einwanderungsländer wie die USA, Kanada oder Australien erleben viele europäische Länder heute eine Zuwanderung, die bislang nicht in ihrem Selbstverständnis verortet ist. Zu diesen Ländern zählt auch Deutschland. Häufig wird im öffentlichen Diskurs in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass Deutschland auch in der Vergangenheit Zuwanderung kannte, vor 1918 etwa die Zuwanderung von Polen ins Ruhrgebiet oder seit den 1960er Jahren die Zuwanderung von Gastarbeitern. Und dazwischen fand als Folge des Zweiten Weltkriegs der massenhafte Zustrom von Vertriebenen aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches und aus den deutschen Siedlungsgebieten in Südosteuropa sowie von Flüchtlingen aus der sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR statt. Deren Eingliederung wurde in den Anfangsjahren der Bundesrepublik durchaus als s.s P. angesehen. Dass dieses Problem entschärft werden konnte, hing, sieht man einmal von den zunehmend günstigeren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ab, nicht zuletzt damit zusammen, dass die kulturellen Unterschiede zwischen Zugewanderten und einheimischer Bevölkerung bei allen Differenzen im Detail doch nicht allzu groß waren. Dies galt mit einigen Einschränkungen auch für die Gastarbeiter aus Südeuropa.

Die Situation veränderte sich entscheidend mit der Zuwanderung von Menschen – Gastarbeitern, Migranten (Migration) auf der Suche nach einem besseren Leben oder Kriegsflüchtlingen – aus Kulturkreisen, die sich deutlich von der Kultur der einheimischen Bevölkerung unterscheiden. Zu denken ist in diesem Zusammenhang an unterschiedliche Vorstellungen hinsichtlich des Verhältnisses von Individuum und Clan, der Loyalität gegenüber staatlichen Institutionen, der Rolle von Mann und Frau oder der Toleranz gegenüber Menschen mit anderen Weltanschauungen. Wo sich Zuwanderer oder deren Nachfahren, heute gewöhnlich als „Menschen mit Migrationshintergrund“ bezeichnet, lokal konzentrieren, was aus nachvollziehbaren Gründen häufig der Fall ist, besteht die Gefahr der Herausbildung von Parallelgesellschaften, die einer Integration in die Gesamtgesellschaft im Wege stehen oder sich ihr sogar verweigern. Dieses Problem verschärft wiederum ein anderes, nämlich das der Ausländerfeindlichkeit, das sich in der Verbreitung rassistischer Parolen (Rassismus) und in Gewalt gegenüber Zuwanderern äußert.

Die Verbreitung rassistischer Parolen erfolgt bevorzugt über ein Medium, das für die Erfüllung zentraler Funktionen in der modernen Gesellschaft unverzichtbar geworden ist, das aber auch ein erhebliches Problempotential in sich birgt: das Internet. Das Internet bietet all jenen, die sich nicht mehr auf die herkömmlichen Medien einlassen, ein Informationsforum, das aus ihrer Sicht, anders als die „Lügenpresse“, der gefühlten Wirklichkeit entspricht. Dabei geht es allerdings gewöhnlich nicht mehr um die Bewertung und Gewichtung von Nachrichten, sondern um das Spektakuläre und um das, was mit Ressentiment (Vorurteile) erfüllte Rezipienten in ihren schon bestehenden Auffassungen bestärkt. Die Möglichkeit, in den sozialen Netzwerken mit geringem Aufwand eine große Zahl von Menschen zu erreichen, fördert weiterhin die Neigung, spontane und häufig unsachliche, wenn nicht gar hasserfüllte Kommentare abzugeben, die von den Empfängern dann mit „Likes“ bewertet und als „Shares“ weitergeleitet werden, wodurch sie zusätzliches Gewicht erhalten. Zwar sind die Betreiber der Netzwerke verpflichtet, Hassbeiträge aus dem Netz zu nehmen, doch besteht dabei unvermeidlich ein gewisser Ermessensspielraum. Zudem verweisen manche Beobachter auf die Gefahr einer Einschränkung der Meinungsfreiheit, wenn nicht gar der Vorwurf der Zensur erhoben wird.

Nicht nur das Informationsverhalten im Internet ist indessen zu einem s.n P. geworden, sondern die Nutzung an sich. Für Jugendliche, aber auch für viele Erwachsene ist es zu einer Selbtverständlichkeit geworden, ständig online zu sein. Insb. im schulischen Bereich mussten deshalb drastische Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Beklagt wird, dass schon Kinder, v. a. aber Jugendliche einen erheblichen Anteil ihrer verfügbaren Zeit vor dem Bildschirm verbringen, statt mit Altersgenossen direkt zu interagieren, ein Instrument zu spielen oder Sport zu treiben. Zu den Faktoren, die beim Anstieg der Zahl übergewichtiger Kinder und Jugendlicher eine Rolle spielen, wird ebenfalls die extensive Internetnutzung gezählt. Auf den Entzug von Geräten zur Internetnutzung oder auf technisch bedingte Unterbrechungen reagieren die Betroffenen mit Entzugserscheinungen, die auch von anderen Abhängigkeiten bekannt sind. Insofern kann das Problem der Internetabhängigkeit durchaus in eine Reihe mit anderen s.n P.n wie Drogenabhängigkeit oder Spielsucht gestellt werden.

4. Die Thematisierung sozialer Probleme: Akteure und Prozesse

Die Sozialwissenschaften sind nicht die einzige Instanz, die sich mit als problematisch empfundenen Konstellationen im Zusammenleben von Menschen beschäftigt. Repräsentanten von Religionsgemeinschaften, Journalisten, bildende Künstler sowie Kunstschaffende im Bereich von Theater und Film spielen heute ebenfalls eine Rolle. Wie die Geschichte zeigt, trugen nicht zuletzt Schriftsteller dazu bei, dass eine breitere Öffentlichkeit für gesellschaftliche Problemlagen sensibilisiert wurde. Schon 1843 wollte Bettina von Arnim in ihrer Schrift „Dies Buch gehört dem König“ auf die sozialen Verhältnisse im Lande aufmerksam machen. Zu denken ist weiter an Autoren wie Charles Dickens („Oliver Twist“ [1839]) in England, Victor Hugo („Les Misérables“ [1862]) und Émile Zola („Germinal“ [1885]) in Frankreich sowie Gerhart Hauptmann („Die Weber“ [1892]) und Bertolt Brecht („Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ [1929/30]) in Deutschland. Und in den USA trug Harriet Beecher Stowe mit ihrem 1852 erschienenen Buch „Uncle Tom’s Cabin“ dazu bei, dass sich die Kritik des Nordens an der Sklaverei in den Südstaaten noch weiter verstärkte, was wiederum einer der auslösenden Faktoren für den amerikanischen Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 war.

Neben Wissenschaftlern, Vertretern von Religionsgemeinschaften, Kunstschaffenden, Journalisten und Schriftstellern spielen bei der Identifikation von s.n P.n und der Veranschaulichung der Auswirkungen solcher Probleme noch andere Akteure eine Rolle. Insb. bei der Thematisierung von Problemlagen im politischen Raum treten Interessenvereinigungen Betroffener (Interessengruppen), soziale Aktivisten, politische Parteien und Wohlfahrtsverbände in Erscheinung. Den Resonanzraum für das Wirken dieser Akteure geben sowohl die klassischen Medien Presse, Rundfunk und Fernsehen ab als auch die internetbasierten Kommunikationsformen wie Blogs und soziale Netzwerke. Dabei geht es im Wesentlichen um zwei Ziele: die Öffentlichkeit auf bestimmte als problematisch wahrgenommene Konstellationen aufmerksam zu machen und auf diese Weise ein günstiges Klima für die Verfolgung des zweiten Ziels zu schaffen, nämlich die Formulierung von Forderungen zur Verbesserung der Lage bestimmter Bevölkerungsgruppen. Während Selbsthilfegruppen und Interessenvereinigungen Betroffener in erster Linie für sich selbst sprechen, beanspruchen soziale Aktivisten, im Interesse von Personengruppen zu sprechen, die noch nicht organisiert sind (z. B. vor kurzem zugewanderte Flüchtlinge) oder sich nur schwer organisieren lassen (z. B. Obdachlose). Auch Wohlfahrtsverbände sehen sich in einer anwaltlichen Funktion gegenüber denen, die sich angesichts der Eigenart ihrer Problemlage nicht zu Wort melden können oder deren Anliegen nicht zur Kenntnis genommen werden, weil sie einer als sozial randständig oder sogar als asozial angesehenen Personengruppe angehören. Als Träger sozialer Einrichtungen und Anbieter personenbezogener Dienstleistungen sind Wohlfahrtsverbände allerdings mitunter der Kritik ausgesetzt, sie beteiligten sich an der Thematisierung von s.n P.n nicht zuletzt auch deshalb, um auf diese Weise ihre – in Ländern wie Deutschland weitgehend von Sozialleistungsträgern (z. B. Krankenversicherung und Pflegeversicherung; Sozialversicherung) oder aus Steuermitteln finanzierten – Leistungen ausweiten zu können. Solche Kritik übersieht indessen die ordnungspolitische Bedeutung des Zusammenspiels von staatlichen Institutionen und freien Trägern.

Die Forderungen, die aus aufgezeigten Problemlagen abgeleitet werden, zielen zum einen auf die rechtliche Stellung bestimmter Personengruppen, also um die Aufhebung von als diskriminierend empfundenen Gesetzen oder um die Einführung eines besonderen gesetzlichen Schutzes. Zum anderen richten sich die Forderungen auf die materiale Verbesserung von Lebenslagen. D. h. im Sozialstaat: Einführung neuer oder Ausweitung bestehender Sozialleistungen, also finanzieller Transfers und zunehmend auch personbezogener Dienstleistungen. Sowohl bei der Verbesserung der rechtlichen Stellung von Personengruppen als auch bei der Ausgestaltung von Sozialleistungen kommt in parlamentarischen Demokratien den politischen Parteien eine entscheidende Bedeutung zu. Parteien machen Anregungen und Forderungen dadurch politikfähig, dass sie Erwartungen strukturieren, Lösungsansätze formulieren, mögliche Koalitionen abschätzen und zu erwartende Widerstände prüfen. Dabei geht es gleichermaßen um die Bindung der eigenen Klientel wie um das Erschließen neuer Wählerreservoirs. Dass auf diese Weise die Veränderung der rechtlichen Stellung von Personengruppen und der Zuschnitt von Sozialleistungen im politischen Prozess zum Gegenstand von Machtkalkülen werden können, sagt indessen noch nichts über die Qualität der Ergebnisse aus. Schließlich ist die Geschichte der BRD über Jahrzehnte hinweg trotz teilweise heftiger politischer Auseinandersetzungen über konkrete Maßnahmen durch eine breite Akzeptanz des Sozialstaats geprägt.

5. Skandalisierung und gesellschaftliche Verantwortung

Dass über die Erscheinungsformen, das Ausmaß und die Ursachen s.r P.-Lagen öffentlich diskutiert wird und dass dabei die Positionen der relevanten Akteure u. U. heftig aufeinanderprallen, gehört zu den Merkmalen einer freiheitlichen Gesellschaft. Problematisch ist allerdings die Tendenz zur medienwirksamen Skandalisierung von Sachverhalten. Dies wird bes. deutlich beim Umgang mit dem Problem der Armut. Dass es sich dabei nach wie vor um ein für den Zusammenhalt einer Gesellschaft und die Lebensqualität der Menschen zentrales Thema handelt, dürfte unbestritten sein. In einem auffallenden Gegensatz zur Bedeutung des Themas steht aber die Undifferenziertheit, mit der – häufig ohne Nennung der zugrundeliegenden Indikatoren – über „wachsende Armut“, „Armutsgefährdung“ oder „Altersarmut“ gesprochen wird. Dies weckt Ängste in der Bevölkerung und lässt bei den Menschen in der Mitte der Gesellschaft, die mit ihren Beiträgen und Steuern zum Abbau oder zumindest zur Abmilderung von Armut beitragen, Zweifel darüber aufkommen, ob die Mittel tatsächlich zielgenau eingesetzt werden. Von solchen Zweifeln getragene politische Reaktionen, die auf einen Rückbau sozialstaatlicher Aktivitäten abzielen, bedeuten aber eine erhebliche Gefahr für den sozialen Frieden. Für diejenigen, die sich für die Identifikation von s.n P.n und für die Formulierung von Handlungsstrategien verantwortlich fühlen, stellt sich deshalb im Hinblick auf ihre Kommunikationsstrategien und auf die Inhalte der Kommunikation auch die Frage nach der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung ihres Handelns.