Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SP)

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Am Berner Arbeitertag 1888 wurde die Grundlage für die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SP) gelegt. Noch lange bestanden aber v. a. auf lokaler und regionaler Ebene zahlreiche andere politische Arbeitervereine, als wichtigster der 1838 in Genf gegründete Schweizerische Grütliverein, ursprünglich ein linksliberaler Handwerkerverein, der sich gegen Ende des 19. Jh. zunehmend sozialdemokratisch orientierte. Er schloss sich 1901 mit der SP zusammen („Solothurner Hochzeit“), stellte lange ca. ein Drittel der Mitgliedschaft und konnte vorerst seine Strukturen behalten. Erst 1915 beschloss ein Parteitag die vollständige Integration, worauf 96 verbliebene Grütli-Sektionen austraten. Sie fristeten aber ein Schattendasein und der Grütliverein empfahl bei seiner Auflösung 1925 den Übertritt zur SP. Von dieser hatte sich Ende 1920 der linke Flügel abgespalten und 1921 die Kommunistische Partei der Schweiz (KPS) gebildet. Weitere Abspaltungen erfolgten 1939, als ein Großteil der Genfer und Waadtländer ihren ausgeschlossenen Führern folgten und die Fédération socialiste suisse (FSS) bildeten, sowie 1944/45, als ein Teil des linken Flügels sich der neuen Partei der Arbeit (PdA) anschloss. Eine Episode blieb die Demokratisch-Soziale Partei (DSP), die rechte Dissidenten ab 1982 v. a. in Basel aufzubauen versuchten. Seit den 1980er Jahren gelang es der SP, wichtige Gruppierungen der neuen Linken in Randgebieten zu integrieren.

1. Programme

Die SP gab sich seit ihrer Gründung sieben Grundsatzprogramme und einige Aktionsprogramme. Auf die unsystematische Kapitalismuskritik von 1888 folgte 1904 ein Programm auf der Basis der zeitgenössischen marxistischen Debatte (Marxismus), das sich auf den „proletarischen Klassenkampf“ (SP 1904: 1) bezog und die „Überführung der Produktionsmittel aus dem Privatbesitz in den Besitz der Gesellschaft“ (ebd.) anstrebte. Ihr radikalstes Programm verabschiedete die SP 1920, um die Abspaltung der Kommunisten (Kommunismus) möglichst klein zu halten. Aufsehen erregte v. a. die unmissverständlich von der Herrschaft einer Minderheit abgegrenzte „Diktatur des Proletariats“ (SP 1920: 6). Diese wurde aber 1935 unter dem Eindruck der NS-Bedrohung wieder gestrichen. Umstrittener war das Bekenntnis zum „bewaffneten Grenzschutz“ (SP 1935: 12), das die antimilitaristische Phase der SP endgültig abschloss. Das unverbindlichste und farbloseste Programm gruppierte 1959 um den zentralen Begriff „Mensch“ Forderungen wie Produktivitätssteigerung, Vollbeschäftigung, gerechte Verteilung, soziale Sicherheit, Chancengleichheit usw. Ein alternativer Orientierungshorizont fehlte vollständig. Dasjenige von 1982 ging wieder stärker auf Distanz. Zu diskutieren gab v. a., dass wieder von der „Überwindung des Kapitalismus“ die Rede war. Diese Formel gab auch im aktuellen Programm von 2010 Anlass zur Kritik. Weitere umstrittene Punkte sind das Bekenntnis zur EU sowie die Abschaffung der Armee. Parallel zu der von Aktivisten getragenen Schärfung des programmatischen Profils erfolgte aber eine Adaption neoliberaler Gedanken durch zahlreiche Mandatsträger.

2. Organisation

Weil die SP als einzige große Partei stark auf Mitgliederbeiträge angewiesen ist, verfügt sie über eine bis 1902 zurückreichende Mitgliederstatistik, erst seit 1995 aber über ein zentrales Mitgliederregister. Die Mitglieder waren primär an die Sektionen, nicht an die nationale Partei gebunden.

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Abb. 1: SP-Mitgliedschaft 1902–2020

Die Parteiorgane (Parteitag, Parteivorstand, Geschäftsleitung) verfügen nur über beschränkten Einfluss, da Parlamentarier und Regierungsmitglieder wegen des Wahlsystems sehr unabhängig sind und nicht selten gegen die eigene Partei antreten. Nach dem Ersten Weltkrieg verfügte die SP über 14 Tageszeitungen und über das theoretische Organ „Rote Revue“ bzw. „Profil“. Ab den späten 1960er Jahren gerieten die Zeitungen in die Krise und verschwanden bis zur Jahrtausendwende nach und nach. Während Jahrzehnten war die SP die einzige große Partei, die – wenn auch mit schwankender Intensität – das Frauenstimmrecht forderte (Parteitagsbeschluss 1912) und Frauen in die höchsten Parteigremien wählte. In Parlamenten verfügte sie meist über den größten Frauenanteil. Die Bedeutung der Jugendorganisation schwankte stark. Zweimal, nach dem Ersten Weltkrieg und Ende der 1930er Jahre, wanderte sie sogar nach links ab. Heute pflegen die Jungsozialist*innen Schweiz einen profilierten Linkskurs und bringen allzu angepasste Politiker in Verlegenheit.

3. Parlament und Regierung

Unter dem Mehrheitswahlrecht (Majorz) eroberte die SP ohne Bündnisse kaum Parlamentssitze. Gegen Ende des 19. Jh. verbreitete sich auf kommunaler und ab 1891 auf kantonaler Ebene das Verhältniswahlrecht (Proporz), was zu einem beträchtlichen Aufschwung der sozialdemokratischen Vertretung führte. Im Bundesparlament erreichte die SP bis 1910 nie mehr als sieben (von 167) Sitze, bis zum Ende des Ersten Weltkrieges 20 (von 189). Mit dem Proporz ab 1919 wuchs die sozialdemokratische Fraktion im Nationalrat stark:

1931–1983 und 1995–1999 war die SP die wählerstärkste Partei. Ihren Höhepunkt erreichte sie 1931 mit 28,7 %, ihren Tiefpunkt 2019 mit 16,8 %. Fast alle kommunalen und kantonalen Regierungen werden direkt durch die Stimmberechtigten gewählt. Sozialdemokratische Kandidaten sind auf bürgerliche Stimmen angewiesen, was profilierten Linken nur ausnahmsweise die Wahl ermöglicht. Konflikte zwischen der Partei und ihren Magistraten gehören deshalb zum politischen Alltag und konnten bis zu Ausschlüssen führen. 1943–1953 ist die SP mit einem, seit 1959 mit zwei Bundesräten in der siebenköpfigen Bundesregierung vertreten, die das Parlament ohne verbindliche Absprachen wählt. Mehrmals konnte die SP ihre Kandidaten nicht durchbringen und musste sich mit Außenseitern begnügen. Am stärksten eskalierte ein solcher Konflikt Ende 1983, als die bürgerliche Mehrheit die erste Frau verhinderte.

4. Soziale Basis

Die SP verstand sich ursprünglich als Arbeiterpartei, zählte aber von Anfang an in Mitgliedschaft und Wählerschaft auch untere Angestellte und Beamte. Offen angesprochen wurden diese v. a. seit der Krise der 1930er Jahre. Da die Arbeiterschaft in der Schweiz nicht durch bes. Institutionen, etwa in der Sozialversicherung, definiert war, verflüchtigten sich die Grenzen in der Hochkonjunktur der 1950er und 1960er Jahre. Damit verlor die SP ihr ursprüngliches Milieu und versuchte in der Folge, sich neu zu positionieren. Dieser Prozess führte ab den 1970er Jahren immer wieder zu Konflikten, nicht zuletzt deshalb, weil sich die Mitgliedschaft aus den neuen sozialen Bewegungen stark erneuerte. V. a. zu den damals

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Abb. 2: Wähleranteil der SP bei Nationalratswahlen 1919–2019

als traditionelle Akteure wirkenden Gewerkschaften tat sich eine wachsende Kluft auf. Als dann mit der Verbreitung des Neoliberalismus die Sozialpolitik wieder massiv an Bedeutung gewann, stand sie in der SP nicht mehr im Vordergrund. In der öffentlichen Wahrnehmung gelten nun die erneuerten Gewerkschaften als Hauptgegner von Deregulierung und (Teil-) Privatisierung. Dieser Wandel schlug sich in der Wählerschaft der SP nieder. Von dieser waren 1975 noch 36 % Produktionsarbeiter, wozu noch 25 % untere Angestellte in Dienstleistungs- und Büroberufen kamen. Diese drei Gruppen stellen im 21. Jh. kaum mehr ein Drittel der sozialdemokratischen Wählerschaft. Die Mehrheit zählt nun zu den lohnabhängigen Mittelschichten.