Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Version vom 14. November 2022, 07:00 Uhr von Staatslexikon (Diskussion | Beiträge) (Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD))

  1. I. Historische Entwicklung
  2. II. Seit der Wiedervereinigung

I. Historische Entwicklung

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1. Gründung und Entwicklung im Kaiserreich

Die SPD entstand im Kontext der Ausdifferenzierung von Formen politischer Vergemeinschaftung seit Mitte des 19. Jh. und wurzelt in zwei Strängen der Arbeiterbewegung: Zum einen im von Ferdinand Lassalle 1863 begründeten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV), zum anderen in der 1869 in Eisenach entstandenen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SAP) unter August Bebel und Wilhelm Liebknecht, die aus dem radikalen Flügel der drei Jahre älteren Sächsischen Volkspartei hervorgegangen war. Die beiden Organisationen schlossen sich 1875 in Gotha zur Sozialistischen Arbeiterpartei zusammen (1890 Umbenennung in SPD). Obwohl der ADAV mitgliederstärker war, setzte das Programm nicht auf F. Lassalles reformorientiertes Modell der Produktivassoziationen, sondern auf die – von der marxistisch orientierten (Marxismus) SAP formulierte – Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise mit der Zielutopie eines sozialistischen Zukunftsstaates.

Ideologische Auseinandersetzungen sollten die SPD in ihrer 150-jährigen Geschichte in bes.m Maß prägen. Auch das von Karl Kautsky und Eduard Bernstein entwickelte „Erfurter Programm“ 1891 zielte in seiner Gesellschaftsanalyse auf die Abschaffung kapitalistischer Ordnung, verknüpfte dies aber im praktischen Teil mit Forderungen nach sozialer Reform. Dies wies auf den Revisionismusstreit – Systemüberwindung oder Verbesserung der sozialen Lage durch schrittweise Reform – voraus.

Die Grundlage des organisatorischen Erfolgs der SPD bildete die intensive Einbindung ihrer Mitglieder und Anhänger im sozialmoralischen Milieu und die engmaschige Vernetzung in Partei, Vereinen und Gewerkschaften sowie in der Arbeiterkulturbewegung. Mobilisiert wurden – vermehrt protestantische – Industriearbeiter, Teile der Handwerkerschaft, deutlich weniger Arbeiter im ländlichen Raum wie auch im katholisch geprägten Milieu. Bei Wahlen auf nationaler Ebene erreichte die SPD seit Ende des 19. Jh. regelmäßig einen Anteil von einem bis zwei Fünftel der Wähler. An dieser zunehmenden Präsenz änderte auch staatlicher Gegendruck nichts: Wie Katholiken und Linksliberale wurden bes. auch Sozialdemokraten als „Reichsfeinde“ diffamiert. Doch sogar während der zwölfjährigen Dauer des Sozialistengesetzes „Wider die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ (1878–90) verdreifachte die SPD ihren Stimmenanteil, wurde 1890 zur stärksten Partei und bildete 1912 schließlich die größte Fraktion im Reichstag.

Auch wenn die SPD in prinzipieller Gegnerschaft zum politischen System stand, arbeitete sie im Parlament in allen legislativen Bereichen mit. Sie ging mit Parteien wahltaktische Bündnisse ein und nutzte Vorfeldorganisationen für die politische Arbeit. Insofern förderte sie die tendenzielle Parlamentarisierung des konstitutionellen Systems. Doch lehnte die SPD mögliche politische Kooperationen mit Vertretern bürgerlicher Sozialreform oder der katholischen Soziallehre genauso ab wie Bestrebungen der Linksliberalen um Friedrich Naumann für ein „Bündnis von Arbeiterschaft und Bürgertum“. 1914 schwenkte die SPD auf die Politik des „Burgfriedens“ und der nationalen Geschlossenheit ein. Diese Entscheidung war heftig umstritten und beförderte drei Jahre später die Abspaltung des linken Fraktionsflügels zur USPD. Die Mehrheits-SPD (MSPD) bahnte zusammen mit Linksliberalen und Zentrum im Interfraktionellen Ausschuss den Weg weiterer politischer Reformen.

2. Weimarer Republik und Nationalsozialismus

Die Ausrufung der Republik am 9.11.1918 durch Philipp Scheidemann, die Wahl Friedrich Eberts zum Reichspräsidenten, die Verfassungsarbeit und Durchsetzung langjähriger sozialer und rechtlicher Reformen ließen die SPD – neben Zentrum und linksliberaler DDP – zum Träger der Weimarer Demokratie werden. Sie wurde wieder zur stärksten Partei im Reich, ebenso in Preußen und in zahlreichen Kommunen nach dem Wegfall der Wahlrechtseinschränkungen. Nun konnte es nicht mehr um Systemüberwindung gehen, sondern um aktive Mitgestaltung. Doch trotz aller Erfolge befand sich die Partei im Dauerkonflikt über ihre Rolle als Regierungs- oder Oppositionspartei und über die Frage, ob die Regierungsmitglieder, die Partei oder Fraktion ihr Machtzentrum bilden sollten. Differenzen zwischen Führung und teilweise radikaler Parteibasis kamen hinzu. Mit der Aufnahme eines Teils der ehemaligen USPD-Mitglieder 1922 verschärften sich die Flügelkämpfe in der SPD, noch verstärkt durch die Konkurrenz der KPD (Kommunistische Parteien) im linken Lager. Charakteristisch war die Rückkehr zu marxistischen Positionen im „Heidelberger Programm“ 1925. Die Schwierigkeit der SPD, zugunsten der Regierungsfähigkeit politische Kompromisse zu schließen, zeigte sich sowohl während der Kanzlerschaft Hermann Müllers 1928–30, als auch in der anschließenden Tolerierungspolitik gegenüber Heinrich Brüning. Demgegenüber stand die dauerhafte und erfolgreiche Regierungszeit der SPD unter Otto Braun in Preußen 1920–32. Dass das einst fest gefügte Sozialmilieu der SPD zu erodieren begann, erleichterte beim Aufstieg der NSDAP gegen Ende der Weimarer Republik deren Stimmengewinne in der Arbeiterschaft.

Nach der Machtübernahme durch Adolf Hitler setzte die SPD-Reichstagsfraktion mit der geschlossenen Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes und der kämpferischen Rede von Otto Wels am 23.3.1933 ein mutiges – bis heute nachwirkendes – Zeichen des Widerstands. Nach dem nur wenige Monate später erfolgten Verbot der Partei bestand die SPD-Führung im Exil weiter. Zahlreiche Parteimitglieder wurden verfolgt und verhaftet, teils ermordet. Andere SPD-Mitglieder standen im aktiven Widerstand zur Diktatur, im Kreisauer Kreis oder auch im christlich motivierten Widerstand.

3. Von 1945 bis zur Wiedervereinigung

Nach 1945 knüpfte die Partei programmatisch und personell zunächst an die Weimarer Republik an, wobei sich die Rahmenbedingungen erheblich verändert hatten: Die früheren Milieustrukturen der politischen Arbeiterbewegung mit ihren kulturellen Bindungen waren durch Nationalsozialismus und Krieg erodiert. Während in der SBZ durch die erzwungene Vereinigung mit der KPD zur SED der Partei praktisch jeglicher Spielraum genommen war, bestand im Westen kaum Konkurrenz, da die ohnehin weitgehend marginalisierte KPD 1956 verboten wurde.

Im Westen gestaltete die SPD die rechtsstaatlichen Fundamente (Rechtsstaat) der Bundesrepublik mit, widersprach aber wesentlichen Rahmensetzungen, insb. der Sozialen Marktwirtschaft, der Westbindung und später der Wiederbewaffnung. Stattdessen votierte die Parteiführung um Kurt Schumacher für ein neutrales Gesamtdeutschland mit einem demokratisch-sozialistischen Ordnungsmodell, das aber – v. a. angesichts des im Nachkriegsjahrzehnt einsetzenden wirtschaftlichen Erfolgs – keine Chance auf Realisierung besaß.

Die fehlende politische Perspektive beschleunigte den strukturellen und programmatischen Transformationsprozess von der traditionellen Klassenpartei zur Volkspartei. Mit der entscheidenden Weichenstellung, dem „Godesberger Programm“ 1959, wurde erstmals in der Geschichte der SPD das an Karl Marx orientierte Modell einer notwendigen Entwicklung zum Sozialismus zugunsten einer neuen Balance von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität als Grundwerte der sozialen Demokratie abgelöst. Die Anerkennung der sozioökonomischen und außenpolitischen Grundlagen des westdeutschen Staates und deren Weiterentwicklung – gerade hinsichtlich der Ost- und Deutschlandpolitik und der Keynesianischen Ansätze (Keynesianismus) in der Wirtschaftspolitik – ließen die SPD regierungsfähig werden und ebneten Willy Brandt den Weg ins Kanzleramt.

Mit der legitimatorischen Überhöhung der Koalition mit der FDP als „Bündnis von Bürgertum und Arbeiterschaft“ erinnerte die SPD an die sozial-liberalen Bestrebungen F. Naumanns. Hintergrund war die Werbung um die „neue Mitte“ – die Erweiterung der Parteibasis und Wählerschaft über die Industriearbeiter hinaus auf Angestellte, Beschäftigte im tertiären Sektor und im öffentlichen Dienst. Damit veränderte sich auch die politische Kultur der Partei: Das Identität verbürgende Gemeinschaftserlebnis der Partei als „Heimat“ mit Ritualen und Symbolen traf nun auf eine zunehmend heterogene Zweckgemeinschaft der Mitglieder.

Mit dem Ende der Reformeuphorie, schlechterer Wirtschaftslage und dem wachsenden gesellschaftlichen Protest gegen die Atom- und Sicherheitspolitik (NATO-Doppelbeschluss) wurde der Ausgleich von Parteiführung, Gremien und Basis mühsamer. Hauptsächlich an der innerparteilichen Aufkündigung der Unterstützung für die Regierung von Helmut Schmidt scheiterte 1982 schließlich die sozial-liberale Regierung.

Die Krise der SPD bedeutete nicht nur den Regierungsverlust, sondern auch eine Phase der Orientierungssuche, die mit dem Rücktritt des langjährigen Vorsitzenden W. Brandt 1987 noch nicht endete. Symptomatisch zeigte sich die Zerrissenheit der westdeutschen SPD bei der Reaktion auf die Friedliche Revolution 1989/90: Begrüßten die einen, wie W. Brandt, euphorisch die Selbstermächtigung der Menschen und das „Zusammenwachsen“ der Nation, befürchteten andere, wie Oskar Lafontaine, Verzögerungen auf dem Weg zur sozialen Gerechtigkeit und europäischen Einigung.

Die SPD vollzog einen langen Weg von der sozialistisch begründeten Systemgegnerschaft im Kaiserreich zur staatstragenden Partei der sozialen Demokratie westlicher Prägung. Sie habe ihre Kernanliegen – Integration der Arbeiterschaft, Aufbau des Sozialstaats, sozialer Aufstieg durch Bildung – realisiert, so Ralf Dahrendorf. Bedeutete dies auch das „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“ (Dahrendorf 1983: 16 f.)? Die 1998 wieder regierende SPD antwortete im Schröder-Blair-Papier mit dem Konzept eines „Dritten Weges“. Nach Wiedervereinigung (Deutsche Einheit), Agenda 2010 und einer sich zur Systemfrage entpuppten weltweiten Finanzkrise steht die SPD allerdings vor der Frage, welche konkrete Politikvorstellung sich mit der „sozialen Demokratie“ jenseits von Sozialismus und Liberalismus in der Zukunft verbindet.

II. Seit der Wiedervereinigung

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1. Die SPD seit der Wiedervereinigung

Zur Zeit der Wiedervereinigung um 1989/90 stand die SPD am Scheideweg: Sollte sie die gesamtdeutsche Strategie ihres ersten Vorsitzenden Kurt Schumacher fortführen und auf Wiedervereinigung (Deutsche Einheit) setzen oder als Opposition zu Kanzler Helmut Kohl Skepsis gegenüber einer vorschnellen Einigung artikulieren? Mit ihrem Vorsitzenden Oskar Lafontaine unternahm sie Letzteres, mit katastrophalen 33,5 % bei der Bundestagswahl 1990 als Folge, dem schlechtesten Ergebnis seit 1957.

1998 ergab sich eine neue Chance, als nach 16 Jahren Kanzlerschaft H. Kohls Gerhard Schröder die Wahl knapp gewinnen konnte. In Koalition mit den Grünen (Bündnis 90/Die Grünen) regierte Kanzler G. Schröder bis 2005, allerdings mit vielen Krisen und Problemen. Bes. die Hartz-Gesetze der Agenda 2010 führten dazu, dass ein Teil der SPD-Linken, insb. des Gewerkschaftsflügels, ausscherte und als neue Partei die WASG gründete. Deren Führung übernahm 2005 ihr früherer Vorsitzender O. Lafontaine und vereinte sie mit der PDS zur Linkspartei (Die Linke).

Seither ist die SPD gespalten zwischen einer linken Minderheit, die die Agenda 2010 bis aufs Messer bekämpft, und einem mehrheitlichen Regierungsflügel, der kleinere Reformen befürwortet, aber insb. mitregieren will. Eine zweite Große Koalition zwischen 2005 und 2009 gab ihr kaum Ruhe. Mit 23 % verschlechterte sie ihr Ergebnis weiter. 2009 bildete sich eine ihr entgegengesetzte Koalition aus CDU/CSU und FDP. Diese scheiterte allerdings 2013 fast überraschend. Mangels Alternativen kam es zur dritten Großen Koalition, mit der die SPD erneut nicht reüssieren konnte: Im September 2017 erreichte sie ihr absolutes Tief mit 20,5 %. Spitzenkandidat Martin Schulz erklärte schon am Wahlabend, es käme keine erneute Große Koalition in Frage. Nachdem die Verhandlungen zwischen CDU/CSU, Grünen und FDP gescheitert waren, musste erneut im Frühjahr 2018 eine Große Koalition gebildet werden, gegen die Vorbehalte in der Partei fortbestehen, die selbst noch die Vorsitzendenwahl 2019 von Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans überschatteten.

2. Inhaltliches Profil

Das inhaltliche Profil der SPD unterliegt starker Dynamik. Mit dem „Godesberger Programm“ wurden die Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität fixiert. Im weiteren Verlauf rundeten Demokratie, Frieden und internationale Zusammenarbeit die Programmatik ab. Mit dem Slogan „Innovation und Gerechtigkeit“ hat G. Schröder 1998 die Wahl gewonnen. Dies war eine Gratwanderung, die seitdem die inhaltliche Debatte der SPD bestimmt. Aber die Richtung konnte nicht wirklich ausdefiniert werden. So wurde die SPD von Wahl zu Wahl weiter dezimiert, da sie auch keinen wirklichen Gegenpart gegen ihre Konkurrenz im Lager links der Mitte gegenüber den Grünen einerseits und der neu etablierten Linkspartei aus westdeutscher WASG und ostdeutscher PDS anderseits bilden konnte. Aus der rechten Mitte rückte Angela Merkels modernisierte CDU immer näher an die SPD.

3. Aufbau und Willensbildung der Partei

Die SPD war von Alters her eine wohlorganisierte Partei. Nicht zuletzt geht das auf die Verfolgung zu Zeiten der Sozialistengesetze unter Otto von Bismarck zurück, als sie eine Fülle von (Tarn-)Organisationen entwickelte: Turn- und Sportvereine, Bildungsorganisationen, Medien, Jugend- und Frauenvereinigungen bis zu sozialistischen Feuerbestattungsvereinen. Man konnte sich „von der Wiege bis zur Bahre“ im selben Milieu tummeln, ähnlich wie bei der ebenfalls verfolgten katholischen Zentrumspartei (Zentrum). Dieses soziale Milieu erodierte in den letzten Jahrzehnten.

3.1 Organisationsstruktur

Von August Bebel aus der Gründerzeit bis Franz Müntefering in der jüngeren Gegenwart gilt die Organisation als Rückgrat der Partei. Deshalb entwickelte der Klassiker der Parteiensoziologie, Robert Michels, sein „ehernes Gesetz der Oligarchie“ schon 1911 am Beispiel der SPD, der damals am besten organisierten Partei. Es besagt, dass sich jede noch so demokratisch gebärdende Organisation durch die Notwendigkeit von Führung oligarchisch degenerieren wird – ein Gesetz, das eine Tendenz richtig beschreibt, Gegentendenzen aber ausblendet.

Die SPD kennt schon immer einen vertikalen Aufbau und eine horizontale Struktur. Von unten beginnt die Organisation vertikal mit den Ortsvereinen, die Gemeinden oder Stadtteile einschließen und je um die 100 Mitglieder umfassen. Sie setzt sich fort über die Unterbezirke, große Gemeindeverbände und Kreise oder Städte. Mächtig waren früher die Bezirke darüber, die aber zugunsten der Landesverbände rückgebaut wurden. Das Dach bildet die Bundespartei. Jede Ebene kennt funktional die Mitglieder- oder Delegiertenversammlung als basisdemokratisches Organ, den Vorstand und Schiedskommissionen, auf Bundesebene auch noch den Parteirat als kleinen Parteitag. Der Bundesvorstand ist wie bei anderen Parteien stark ausdifferenziert: Neben dem Vorsitzenden stehen Stellvertreter, ein engeres Präsidium und schließlich der Gesamtvorstand, der 2018 45 Personen umfasst. Seit dem langjährigen Vorsitzenden Willy Brandt (1964–87) hat die SPD ein Dutzend weiterer Vorsitzender verschlissen, die oft kaum ein Jahr amtierten, wie zuletzt M. Schulz (2017–18) oder die erste weibliche Vorsitzende Andrea Nahles (2018–19). Zu den engeren Parteiorganisationen zählen noch zahlreiche Arbeitsgemeinschaften, u. a. der Jugend (Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD), der Frauen (Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen), der Älteren (Arbeitsgemeinschaft SPD 60plus), der Arbeitnehmer (Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen), der Juristen (Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristinnen und Juristen), die alle eigene Willensbildungsorgane besitzen.

3.2 Mitgliedschaft

Lange Jahrzehnte war die SPD die größte Mitgliederpartei in Deutschland, teilweise sogar in Europa: eine große Massenintegrationspartei mit dem Höhepunkt von über einer Mio. Mitgliedern in den 1970er Jahren. Sie unterschied sich insofern vom Typus der bürgerlichen Honoratiorenpartei, den Union und FDP noch lange bis in die 1960er Jahre verkörperten.

Für große Mitgliederparteien hat sich der Begriff Volkspartei eingebürgert, obwohl er missverständlich ist (Partei des ganzen Volkes?), problematische historische Vorbilder hat (z. B. die DNVP), und in der Parteienforschung umstritten bleibt. Die Mitgliedschaft der SPD hat sich seit den Hochzeiten nahezu halbiert, sie ist, wie in der Union, überaltert.

3.3 Innerparteiliche Willensbildung

In Geschichte und Gegenwart hat die SPD das Grundprinzip innerparteilicher Demokratie immer hoch gehalten, obwohl es schon seit R. Michels in der Praxis bezweifelt wurde. Das wiederholt sich bis heute, z. B. bei der Entscheidung im Frühjahr 2018 über eine erneute Große Koalition. Die Parteiführung musste zum Instrument des Mitgliederentscheids greifen, da sie sonst die Akzeptanz ihrer Politik gefährdet sah. Formal ist die innerparteiliche Demokratie im GG und PartG gestaltet.

Die Willensbildung innerhalb einer Partei wird dadurch komplexer, dass sie nicht Selbstzweck ist, sondern über die Wahlen in die Arbeit der Parlamente (Parlament, Parlamentarismus) und Regierungen einfließt. Parteimitgliedschaft wird durch das deutsche Parteiengesetz privilegiert, weil ausschließlich durch ihre Gremien die Kandidaten für Direktmandate und die Wahllisten aufgestellt werden. Auch die Auswahl von Spitzenkandidaten sowie die Entscheidung über Koalitionen oder Koalitionsverträge erfolgt durch die Partei – meist durch Parteitage, in der SPD zuweilen auch durch ein Mitgliedervotum, das auch bei den Vorsitzendenwahlen 1993 und 2019 eingeholt worden ist. Schließlich wird auch in der SPD das alltägliche Regierungshandeln durch ein dichtes Geflecht der Willensbildung in Partei, Fraktionen und Regierungen kompliziert. Jeweils situationsadäquat ergibt sich die Entscheidung, ob Partei- und Fraktionsvorsitz bzw. Kanzleramt (bzw. -kandidatur) und Parteivorsitz in eine Hand zusammengeführt werden oder getrennt bleiben: eine für Durchschlagskraft, Profil und Wahlaussichten durchaus wichtige aber offene Frage.

4. Wählerschaft

Zu keiner Zeit konnte die SPD an den Wahlsieg W. Brandts 1972 anknüpfen: v. a. nicht nach der Wiedervereinigung, als O. Lafontaine als Spitzenkandidat und Vorsitzender mit seiner zögerlichen Politik H. Kohl den Sieg nicht streitig machen konnte. Erst 1998 führte G. Schröder die SPD wieder als stärkste Partei in den Bundestag und konnte mit den Grünen bis 2005 regieren. Seitdem wechselten sich Große Koalitionen und eine schwarz-gelbe Regierung (2009–13) ab.

Trotz der Regierungbeteiligung sank der Wähleranteil immer bedrohlicher (2017: 20,5 %) ab. Deshalb war in der Mitgliedschaft und erst recht im SPD-Funktionärskörper der Widerstand gegen eine erneute Große Koalition stark. Die Struktur der Wählerschaft hat sich kontinuierlich gewandelt, allerdings i. V. m. dem Wandel der gesamten Bevölkerung. Die schrumpfende Arbeiterschaft wählt immer weniger SPD, die Angestellten werden zur stärksten Gruppe neben den Beamten; Selbständige unterstützen die SPD kaum. Wählerschaft wie Mitgliedschaft sind im Schnitt überaltert; Frauen wählen die SPD durchschnittlich, Gewerkschaftsmitglieder (Gewerkschaften) nicht mehr überproportional wie früher. Durchaus nennenswerte Anteile hat die SPD 2017 auch an die neue rechtspopulistische AfD verloren, am meisten aber über die Jahre an die wachsende Gruppe der Nichtwähler abgegeben.

Schonungslose Analyse, Reaktion und Reform, auch in der Parteiorganisation, verspricht die Partei nach jeder Wahlniederlage. Bisher ist keine Trendwende gelungen. Auch bei den Landtagswahlen hat die SPD in Ost- und Westdeutschland in dieser Zeit kräftig Federn lassen müssen und sogar führende Positionen verloren.

5. Zukunft als Volkspartei?

Volksparteien werden in der Parteienforschung nicht nach dem Anteil am Wählerkuchen gemessen, sondern danach, ob sie programmatisch und politisch ein breites Wählerspektrum ansprechen und dies auch in Mitglied- und Wählerschaft repräsentieren. In dieser Hinsicht bleibt die SPD weiterhin Volkspartei der linken Mitte, die CDU die der rechten Mitte. Beide sind auch trotz ihrer Bindungen an spezielle Wählerschichten keine Klientelparteien, wie teilweise FDP und Grüne und schon gar nicht Randparteien wie Die Linke und AfD.

Dennoch ist für die SPD das Abschmelzen der Wähler- und Mitgliedschaft bedrohlich: in einigen Regionen Deutschlands – bes. Ost- und Süddeutschland –, wo die SPD Richtung 10 %-Grenze abgesackt ist, wird es zum Desaster. Die Partei hat das Erstarken zweier Konkurrenzparteien links der Mitte – der Grünen und der Linken – nie wirklich verkraftet. Aber auch die Union beherrscht die rechte Mitte seit den Erfolgen der AfD nicht mehr konkurrenzlos. Ein Zeichen dafür ist, dass die Große Koalition von 2017 nur 53,5 % der Wähler repräsentiert, während die erste Große Koalition von 1966 noch stolze 86,9 % gewonnen hatte.

Die vergleichbaren Bedingungen für sozialdemokratische Parteien in Europa und der Welt sind noch weniger vorteilhaft, um nicht zu sagen desaströs. In dieser Perspektive wäre eine stabile Wählerbasis zwischen 20 und 30 % eine honorige Grundlage. Doch sind entspr.e Prophezeiungen irrtumsanfällig und sollen hier tunlichst unterbleiben.