Solidarität

  1. I. Sozialethisch
  2. II. Rechtlich
  3. III. Soziologisch

I. Sozialethisch

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1. Einleitung

Der politisch-soziale Begriff der S. entzieht sich einer klaren definitorischen Bestimmung. Er entstand im Frankreich des frühen 19. Jh., erlebte seinen ersten Höhepunkt im Umfeld des Revolutionsjahres 1848 und entwickelte sich seitdem – nicht ausschließlich, aber überwiegend – zu einem emphatisch aufgeladenen Programmbegriff politisch-moralischer Selbstverständigung, v. a. in der Arbeiterbewegung. Der semantische Gehalt der S. bewegt sich in den Schnittfeldern juristischer, sozialwissenschaftlicher und politisch-ethischer Begriffsbildung und war lange Zeit weit davon entfernt, primär oder gar ausschließlich als Moralkategorie gefasst zu werden. Heute dominiert jedoch eine moralische Engführung, in der S. zumeist zur Bezeichnung eines ethischen Grundprinzips, einer moralischen Tugend oder emotionaler Verbundenheitsgefühle in Kontexten sozialer Kleingruppen o. ä. dient. Damit verliert diese Kategorie aber elementare Bedeutungsschichten, die ihren Sinngehalt von Anfang an kennzeichneten und bis heute ihre Unverwechselbarkeit ausmachen. Der Begriff verdankt seine Erfolgsgeschichte im 19. und 20. Jh. nämlich einer Kombination aus analytisch-deskriptiven, normativ-appellativen und moralisch-affektiven Bedeutungsgehalten, mit denen sich das Konzept der S. anschickt, in spezifischer Weise postliberale Grundlagen für die normative Selbstverständigung spätmoderner Gesellschaften zur Verfügung zu stellen.

2. Solidarität im Kontext der Februar-Revolution von 1848

Erste Spuren des aus der römischen Rechtstradition (obligatio in solidum; wechselseitige ‚Solidarhaftung‘, Bürgschaft) in die politische Sprache eingewanderten Begriffs der solidarité, der zunächst nur als Synonym für solidité fungierte, finden sich in der frühsozialistischen Literatur der 1820er und 1830er Jahre, etwa bei Charles Fourier. In diesem Kontext tauchte solidarité 1842 erstmals als Titel einer politischen Schrift auf (Hippolyte Renaud). Aber auch in der liberalen Nationalökonomie (Frédéric Bastiat) und der katholischen Restaurationsphilosophie (Juan Donoso Cortés) vermochte dieser neue Topos zu reüssieren. In der Revolution von 1848 avancierte er dann zur zentralen Referenzformel für die Bemühungen um den Aufbau einer sozialen und demokratischen Republik. In diesem Sinne propagierte Pierre Leroux das republikanische Konzept einer egalitären „solidarité humaine“ (Leroux 1863: 254), die er gegen die überkommene „charité du christianisme“ (ebd.) in Stellung brachte; und Charles Renouvier formulierte in seinem „Manuel républicain de l’homme et du citoyen“ (1848): „Die Solidarität ist im Guten wie im Schlechten ein Gesetz der Menschheit; es ist keinem Menschen gegeben, sich allein zu retten oder zu verlieren; kein Mensch ist gut, intelligent oder glücklich, solange andere leiden“ (zit. n. Große Kracht 2017: 62). Nach 1848 wurde S. zunehmend zu einer Domäne der sozialistischen Arbeiterbewegung, die vielfach auch ihre Selbsthilfeinitiativen, Gesangsvereine und Gaststätten auf diesen Namen taufte. Der Begriff markiert hier soziale Selbstorganisationsprozesse i. S. einer klassenspezifischen „Kampf- und Interessen-S.“ und begann als solcher über Frankreich hinaus ganz Europa zu erfassen.

3. Solidarität bei Auguste Comte und Émile Durkheim

Parallel dazu entstand ein strikt soziologisch gefasster Begriff der S., der am Phänomen zunehmender Arbeitsteilung ansetzt. A. Comte hatte seit den 1830er Jahren eine sich am Vorbild der Biologie orientierende „Wissenschaft von der Gesellschaft“ konzipiert und in diesem Rahmen einen „wissenschaftlichen Begriff der Solidarität“ (Comte 1923: 255) entwickelt. Wie die Biologie nicht das Einzelorgan, sondern den Organismus als Ganzen zum Ausgangspunkt ihrer Beobachtungen mache, so müsse man auch im Blick auf die Gesellschaft davon ausgehen, dass das Ganze eine Existenz sui generis habe und über höhere Fähigkeiten verfüge als seine Einzelelemente. Zur Bezeichnung dessen, was diese Organismen strukturiert, rekurriert A. Comte auf die Vokabel der solidarité. Denn wie „die wachsende Vollkommenheit des tierischen Organismus vor allem in der immer mehr hervortretenden Spezialisierung der mannigfachen Funktionen besteht, die von den mehr und mehr unterschiedenen und gleichwohl streng solidarischen Organen ausgeführt werden, aus denen er sich allmählich zusammensetzt“ (ebd.: 427), so sei auch der „eigentümliche Charakter unseres sozialen Organismus“ mit seiner „notwendigen Überlegenheit über jeden individuellen Organismus“ (ebd.) durch arbeitsteilige Spezialisierung gekennzeichnet. Und geradezu begeistert fragt A. Comte, ob man irgendwo „ein wunderbareres Schauspiel“ sehen könne „als diese regelmäßige und fortgesetzte Konvergenz einer unzähligen Menge von Individuen, von denen jedes einzelne eine ganz bestimmte und bis zu einem gewissen Grade unabhängige Existenz besitzt, und die gleichwohl alle […] unaufhörlich geneigt sind, durch eine Unzahl verschiedener Mittel zu ein und derselben allgemeinen Entwicklung beizutragen, ohne sich für gewöhnlich darüber verständigt zu haben, ja sogar meist ohne daß die Mehrzahl von ihnen es weiß, die nur ihren persönlichen Trieben zu gehorchen meinen?“ (ebd.: 427 f.). A. Comte hat mit dieser Beobachtung einen radikalen Bruch mit den aus der Aufklärungsphilosophie (Aufklärung) stammenden vertragstheoretischen Konstruktionen von Staat und Gesellschaft vollzogen. Er steht damit an der Schwelle zu einer neuen, sich von liberalen auf solidaristische Theoriemotive umstellenden Sozialtheorie der spätmodernen Industriegesellschaften, auch wenn er in seinem Spätwerk – mit der Idee eines allumfassenden „gouvernement spirituel“ (Comte 1848: 373) zur kollektiven Verehrung des „Grand-Être“ (ebd.) des sozialen Lebens – in totalitäre Verstrickungen (Totalitarismus) gerät und sich als ernstzunehmender Gesellschaftstheoretiker der politischen Moderne selbst zu Fall bringt.

Mit É. Durkheim sollte sich die solidarité dann endgültig als Grundtopos der Soziologie etablieren. Auch für ihn ist die S. ein „fait social“ (Durkheim 1894: 35) moderner arbeitsteiliger Gesellschaften. Im Unterschied zur segmentären Differenzierung archaischer Gesellschaften („solidarité mécanique“ [Durkheim 1893: 73]) vollzögen sich hier Prozesse der Spezialisierung und Individualisierung, in deren Rahmen die zunehmende „soziale Dichte“ die Mitglieder dieser Gesellschaften immer enger „organisch“ miteinander verbinde („solidarité organique“ [ebd.: 106]). Diese würden dadurch – so lautet É. Durkheims berühmte Formel aus dem Jahr 1893 – „zu gleicher Zeit persönlicher und solidarischer“ (Durkheim 1992: 82), da sie in diesem Differenzierungsprozess einerseits individueller und autonomer, zugl. aber auch abhängiger voneinander werden. Demnach kennzeichnen sich moderne Gesellschaften dadurch, dass sie in einem gleichgerichteten Entwicklungsprozess S. und wechselseitige Abhängigkeit ebenso wie differenzierte Individualität und Chancen freier Selbstentfaltung hervorbringen. In diesem Sinne hatte der republikanische Philosoph Alfred Jules Émile Fouillée schon 1880 vom gleichzeitigen „l’accroissement de la vie individuelle et l’accroissement de la vie sociale“ (Fouillée 1885: V) gesprochen.

É. Durkheim bringt seine Hoffnung auf eine sich mit der Zeit aus der Arbeitsteilung entwickelnde „organische S.“ explizit gegen die Vertragstheorien der liberalen Tradition in Stellung, die die Phänomene der Arbeitsteilung auf bewusst eingegangene Tauschbeziehungen rationaler Marktteilnehmer zurückführen. Anders als die Naturrechtslehren (Naturrecht) des politischen Liberalismus geht er nicht mehr von der Fiktion eines im „aufgeklärten Eigeninteresse“ (Tranow 2012: 13) handelnden Individuums aus, sondern von der sozialen Komplexität moderner Massengesellschaften, in denen alles mit allem zusammenhängt, wobei erst diese de facto-S.en den Einzelnen die gesellschaftlichen Spielräume eröffnen, in denen sie sich zu differenzierten Persönlichkeiten entwickeln können.

4. Solidarität im französischen solidarisme

Damit war im Frankreich des späten 19. Jh. sozialwissenschaftlich und sozialethisch ein neues Reflexionsniveau erreicht, auf dem es der Dritten Republik möglich wurde, den abstrakten, aber geschichts- und gesellschaftslosen Freiheits- und Gleichheitsbegriff der Aufklärung mit den neuen solidaritätstheoretischen Einsichten der Soziologie in Einklang zu bringen und diese für die nun anstehenden Aufgaben einer politischen Legitimation des entstehenden republikanischen Wohlfahrtsstaates zu nutzen.

In diesem Rahmen veröffentlichte der Jurist und Politiker Léon Bourgeois im Jahr 1896 sein innerhalb weniger Jahre sehr populär gewordenes, bis heute jedoch nicht ins Deutsche übersetztes Manifest „Solidarité“ (Bourgeois 2008). Er wurde damit zur Leitfigur der linksrepublikanischen Reformbewegung des solidarisme, der um die Jahrhundertwende eine zwischen wirtschaftsliberalem Individualismus und marxistischem Sozialismus vermittelnde Gesellschaftskonzeption in den Blick nahm, mit deren Hilfe breit angelegte Projekte staatlicher Sozialpolitik auf den Weg gebracht werden sollten. Mit den solidaristischen Einsichten in die wechselseitigen sozialen Abhängigkeiten der Individuen wurde eine Politik der öffentlichen Hygiene, der Sozialversicherung und der kostenlosen Schulbildung initiiert, auch wenn diese Reformbewegung nach dem Ersten Weltkrieg bald wieder abebbte.

L. Bourgeois nahm eine neue Theorie sozialer Gerechtigkeit auf dem Problemniveau komplexer Industriegesellschaften in den Blick. Aus der Tatsache der sozialen S. folgt für ihn nämlich unmittelbar eine „soziale Schuld“ (dette sociale) (Bourgeois 1907: 45) aller gegenüber allen: „Der Mensch lebt in der Gesellschaft und kann nicht ohne sie leben; er ist zu jeder Stunde ihr gegenüber ein Schuldner (débiteur). Dies ist die Grundlage seiner Pflichten, die Belastung (la charge) seiner Freiheit“ (Bourgeois 2008: 83 übers. v. Autor). Die republikanische Trias von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit will er deshalb durch die solidaristische Trias von S., Gleichheit und Freiheit ersetzen: „Die Solidarität ist das erste Faktum, vorgängig zu jeder sozialen Organisation; sie ist zur gleichen Zeit der objektive Seinsgrund der Brüderlichkeit. Mit ihr muss man anfangen. Solidarität zuerst, dann Gleichheit oder Gerechtigkeit, die in Wahrheit identisch sind, schließlich: Freiheit“ (ebd.: 122 f. übers. v. Autor).

Die „solidarité de fait“ (Bourgeois 1907: 36) rufe stets soziale Effekte hervor, „von denen die einen profitieren und unter denen die anderen leiden, und dies in sehr ungleicher Weise“ (Bourgeois 1907: 9 übers. v. Autor). Sie produziere „auf der einen Seite diejenigen, die im Besitz einer sehr großen Summe sozialer Vorteile sind und die davon profitieren, ohne wirklich ihre Schuld gegenüber allen bezahlt zu haben – und die dabei ihren Teil so verteidigen, als wäre es ihr Recht; sie begehen damit eine Hinterziehung […]. Auf der anderen Seite [produziert sie, Anm. des Autors] jene, die um den größten Teil der sozialen Vorteile beraubt sind und das Gefühl haben, dessen Gläubiger zu sein – sie leiden, sie fühlen sich betrogen, sie beanspruchen ihren Anteil, aber sie können nicht genau das Ausmaß des Schadens ermessen, der ihnen zugefügt wurde, oder die Rechtmäßigkeit ihres Anspruchs kalkulieren […]“ (Bourgeois 2008: 114 übers. v. Autor). Ohne den radikalen Umgestaltungsambitionen der Sozialisten das Wort zu reden, komme es deshalb darauf an, im Rahmen sozialreformerischer Politik „diejenigen bezahlen zu lassen, die keine Anstrengungen unternehmen müssen, um nicht nur das Notwendige, sondern auch den Überfluss des Lebens zu haben und dabei meinen, sie könnten dieses frei genießen, ohne persönlich etwas zu schulden“ (ebd.: 144 f. übers. v. Autor). L. Bourgeois präsentiert den Profiteuren des gesellschaftlichen Solidarzusammenhangs also gewissermaßen eine „soziale Rechnung“, deren Begleichung er für eine unmittelbare Rechtspflicht hält, auch wenn die Höhe dieser Schuld nicht individuell zu ermitteln sei.

Dieses solidaristische Rechtsmotiv verknüpft L. Bourgeois nun – und darin liegt seine theoretische Originalität – mit der liberalen Vertragstheorie. Dazu greift er auf das schon von A. J. É. Fouillée verwendete Motiv eines „quasi-contrat[s]“ (Bourgeois 2008: 88) zurück, der nicht durch anfängliche Übereinstimmung aus den Bedingungen eines fiktiven Urzustandes, sondern durch nachträgliche Zustimmung aus den realen S.s- und Abhängigkeitsverhältnissen der Gegenwart heraus zustande kommt. In einem rückwirkenden Vertrag gehe es um die Frage, wie man mit den Resultaten der sozialen S. und der sich zunehmend verfestigenden sozialen Ungleichheiten politisch umgehen will. Und da nicht zu erwarten sei, dass die durch die solidarité de fait überproportional Benachteiligten einem solchen Vertrag ohne angemessene Kompensationsleistungen zustimmen werden, sei die Gewährleistung einer entspr.en „justice réparative“ (Fouillée 1885: 357) eine der zentralen Staatsaufgaben.

5. Solidarität in Deutschland und im katholischen Solidarismus

In Deutschland durchlief der Begriff der S. keine mit Frankreich vergleichbare Theoriegeschichte. Zwar entwickelte er auch in der deutschen Arbeiterbewegung eine hohe moralische Strahlkraft; in den Diskursen der deutschen Staatswissenschaften war er aber nicht präsent; und die sozialpolitischen Aufbrüche der Bismarck-Zeit kamen ohne die Leitsemantik der S. aus. Lediglich in der Sozialdemokratie, etwa bei Ferdinand Lassalle, spielte der Begriff mitunter auch in seinem sozialwissenschaftlichen Bedeutungsgehalt eine gewisse Rolle. Die vielleicht schönste Formulierung des modernen S.s-Gedankens im deutschen Sprachraum, die aus einem privaten Brief Kurt Eisners stammt, blieb aber nahezu unbeachtet. K. Eisner schreibt hier im Jahr 1908: „Nein, nichts mehr von Liebe, Mitleid und Barmherzigkeit. Das kalte, stahlharte Wort Solidarität aber ist in dem Ofen des wissenschaftlichen Denkens geglüht. […] Die Solidarität hat ihre Wiege im Kopf der Menschheit, nicht im Gefühl. Wissenschaft hat sie gesäugt, und in der großen Stadt, zwischen Schloten und Straßenbahnen ist sie zur Schule gegangen. Noch hat sie ihre Lehrzeit nicht abgeschlossen. Ist sie aber reif geworden und allmächtig, dann wirst Du erkennen, wie in diesem harten Begriff das heiße Herz einer Welt von neuen Gefühlen und das Gefühl einer neuen Welt leidenschaftlich klopft“ (Eisner 1919: 56).

Die Aufbrüche des solidarisme wurden in Deutschland überraschenderweise nur von der neuscholastisch geprägten katholischen Sozialphilosophie rezipiert, und zwar von Heinrich Pesch SJ, dem Gründervater des katholischen Solidarismus. Auch H. Pesch verwendet die Kategorie der S. zunächst sozialwissenschaftlich zur Bezeichnung für „das ganze Getriebe und Gewebe des wirtschaftlichen Lebens mit seinen unzähligen Relationen, seinem Anziehen und Abstoßen, seiner Gemeinschaft und Feindschaft“ (Pesch 1902: 48). Jedoch ortet er diese soziologische de facto-S. sofort in den Kategorienrahmen der neuscholastisch-thomistischen Sozialdoktrin ein, auf die seinerzeit die gesamte katholische Sozialphilosophie lehramtlich verpflichtet war. Demnach biete die soziale Komplexität der modernen Wirtschaftsverhältnisse dem Betrachter „nicht nur das Bild einer bloß thatsächlichen Abhängigkeit“; vielmehr erkenne „die vernunftgemäße teleologische Auffassung und Beurteilung“ darin zugl. auch „das Mittel für ein Ziel, das durch und in jener Abhängigkeit und Verknüpfung erreicht werden kann und pflichtmäßig erreicht werden soll“ (ebd.: 48): „das materielle Wohl der Gesamtheit des Volkes und der diese Gesamtheit bildenden Berufsgruppen, Klassen, Stände“ (ebd.: 49).

Die de facto-S. wechselseitiger Arbeitsteilung bildet hier den Ausgangspunkt, von dem aus H. Pesch – vermittelt über das thomistische Naturrechtsdenken (Thomismus) – die normative Geltungskraft des S.s-Prinzips, d. h. „die Bedeutung der Solidarität als allg.er sozialer Rechtspflicht für Regierung und Volk“ (ebd.: 309), offenlegen und begründen will. Vor diesem Hintergrund zielt die solidaristische Idee für H. Pesch zentral auf die – freilich gegen die Gefahr einer Missachtung der individuellen Freiheitsrechte der Einzelnen nicht immer hinreichend geschützte – Einsicht in die „Mitverpflichtung und – in gewissem Umfange – auch die Mitverantwortlichkeit aller Individuen, Gruppen, Stände im Hinblick auf das Gemeinwohl der ganzen staatlichen Gesellschaft. Anders ausgedrückt: Der individuelle Wille, das individuelle oder auch Gruppeninteresse muß sich den Forderungen des sozialen Rechtes, dem höheren Rechte und Wohle der gesellschaftlichen Gesamtheit positiv und negativ anpassen, eventuell sich beugen und opfern nach Maßgabe der für die Rechtskollision geltenden Grundsätze“ (ebd.: 316). Um die Kluft zwischen Sein und Sollen, bloß „thatsächlicher Abhängigkeit“ und der „soziale[n] Rechtsforderung“ (ebd.: 312) zu überwinden, kommt für den neuscholastischen (Scholastik) Jesuiten H. Pesch nur eine feste sozialmetaphysische Grundlage dieser Verpflichtung in Frage, die sich einzig in der göttlichen Schöpfungsordnung finden lasse. Der solidarisme L. Bourgeois’ entfalte dagegen, wie H. Pesch betont, keine hinreichende Verpflichtungskraft, da er unfähig sei, „von der thatsächlichen Solidarität die Brücke zu schlagen zur sittlichen Solidarität“ (ebd.: 308). Die Geltung der S. könne nämlich nicht von vertraglichen Zustimmungen abhängen. Sie habe vielmehr „als soziales Gesetz jederzeit unabhängig von der Willkür der Individuen und eventuell auch gegen deren Willen zur Durchsetzung zu gelangen“ (ebd.: 309).

H. Peschs katholischer Solidarismus nimmt also sozialwissenschaftliche Einsichten in die zunehmende Relevanz arbeitsteilig induzierter Abhängigkeitsverhältnisse ebenso auf wie die historische Einsicht seiner Zeit, dass die liberalen Konzepte individueller und assoziativer Selbsthilfe nicht mehr ausreichen, um die sozialen Probleme der Industriegesellschaft zu lösen. Während sich seit den 1890er Jahren und später im westdeutschen Sozialkatholizismus die Einsicht in die Notwendigkeit dieses Perspektivenwechsels von Selbsthilfe und Almosen zu staatlicher Sozialpolitik allmählich durchsetzte, ist das Motiv der de facto-S. im Schrifttum des sozialen Katholizismus bis dahin in keiner Weise rezipiert worden. H. Pesch hat hier Pionierarbeit geleistet, auch wenn er sich mit dem Rekurs auf die Interpretationsmuster der neuscholastischen Naturrechtsteleologie die gerade erst eröffneten Chancen für einen Dialog mit den nachmetaphysischen Plausibilitäten der politischen Moderne gleich wieder verbaute.

Der katholische Solidarismus wurde im 20. Jh. v. a. von Oswald von Nell-Breuning und Gustav Gundlach vertreten. Beide betonten dabei immer wieder, dass der Begriff der S. nicht primär auf eine Tugend oder Gesinnung, sondern auf ein „gesellschaftliche[s] Sein“ (von Nell-Breuning 1951: 359), einen „Wesensverhalt“ (ebd.: 361) des sozialen Lebens ziele, d. h. auf die mit der Sozialnatur des Menschen sozialmetaphysisch gegebene wechselseitige Abhängigkeit von Individuum und Gemeinschaft, mit der sich das Doppelmotiv von „Gemeinverstrickung“ (von Nell-Breuning 1951: 363) und „Gemeinverhaftung“ (ebd.) verbinde. O. von Nell-Breuning beschrieb diesen Zusammenhang gerne mit der Metapher vom „gemeinsamen Boot“: „wir fahren alle in einem Boot; sinkt das Boot, so gehen wir alle unter […]. Das sind keine ‚ethischen Postulate‘, sondern ganz nüchterne Tatsachen; sind diese Tatsachen aber erst einmal richtig erkannt, dann allerdings ergeben sich aus ihnen sittliche Gebote: Rechte und Pflichten für die Schiffsleitung, wie auch Rechte und Pflichten für alle Insassen des Fahrzeugs“ (von Nell-Breuning 1951: 361). V. a. bei G. Gundlach traten jedoch die soziologisch-empirischen Kontexte gegenüber den abstrakten metaphysischen Sozialprinzipien mit der Zeit deutlich zurück, so dass der Solidarismus H. Peschs zunehmend an empirischer Plausibilität verlor. Heute gilt er auch innerhalb des Katholizismus zumeist als eine vergangene, für heutige Diskurslagen wenig anschlussfähige Theorietradition. Dennoch gehört die Kategorie der S. – neben Personalität (Personprinzip) und Subsidiarität – zu den drei zentralen Sozialprinzipien der katholischen Soziallehre; und zwar genau in ihrer zwischen Faktizität und Normativität changierenden Bedeutung. So bezeichnet etwa Johannes Paul II. die Haltung der S. in seiner Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ von 1987 als angemessene Antwort auf das Faktum zunehmender wechselseitiger Abhängigkeit. Sie sei „kein Gefühl vagen Mitleids“, sondern die „feste und beständige Entschlossenheit, sich für das ‚Gemeinwohl‘ einzusetzen, das heißt für das Wohl aller und eines jeden, weil wir für alle verantwortlich sind“ (Sollicitudo rei socialis 38,6).

6. Solidarität im Gegenwartsdiskurs

In der Nachkriegszeit erlebte der Begriff der S. eine enorme politisch-moralische Erfolgsgeschichte, zugl. aber auch eine deutliche soziologische Entkernung. Zunächst in der SPD (Godesberger Programm 1959), dann auch in der Parteiprogrammatik der CDU avancierte S. neben Freiheit und Gerechtigkeit zu einem emphatisch aufgeladenen politischen „Grundwert“, wobei dessen spezifisches „Wert“-Profil rechts- und moralphilosophisch weithin unklar blieb. Im soziologischen Diskurs der Gegenwart spielt die Kategorie der de facto-S. keine konstitutive Rolle mehr; sie wird hier zumeist nur noch als soziales Kleingruppenphänomen thematisiert. Dafür nimmt S. in der Sozialethik einen sehr breiten Raum ein. Jedoch ist nicht zu übersehen, dass die Verwendungsweisen und Bedeutungszuschreibungen hier höchst heterogen sind. Über die Frage, was mit S. eigentlich gemeint ist, herrscht wenig Einigkeit, auch wenn der Begriff durchgehend positiv konnotiert wird. In der gesellschaftstheoretischen und moralphilosophischen Literatur finden sich heute ebenfalls zahlreiche Ausführungen über Wert und Notwendigkeit der S.; allerdings bleibt auch hier unklar, ob S. als ein empirisch beobachtbares soziales Phänomen und/oder als ein modernes Moralkonzept zu fassen ist und ob sie dann als ein universalistisches Rechtsprinzip zu verstehen oder von vorn herein auf partikulare Gruppen und Kontexte zu begrenzen ist. Ungeklärt ist ebenfalls, ob und ggf. wie Individuen oder soziale Gruppen rechtlich und/oder moralisch zur S. „verpflichtet“ sein können. Zudem ist fraglich, ob es angesichts der Fülle bereitstehender Alternativbegriffe überhaupt sinnvoll und notwendig ist, auch das Konzept der S. noch auf das enge Feld der Moral zu schicken, um hier einen eigenen Themenbereich für sich ausfindig zu machen.

Zwar klingt S. heute charmanter als etwa Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft oder die als paternalistisch in Verruf geratene Barmherzigkeit; allerdings ist die Reichweite der S.s-Semantik – anders als die der gängigen Begriffe der Moral und des Rechts – von vornherein deutlich begrenzt. Sie zielt nämlich auf egalitär-reziproke Sozialbeziehungen und hat einen dezidiert partikularen Charakter, in dem es um gemeinsame Interessen oder die Abwehr gemeinsamer Gefahren geht. In moraltheoretischen Kontexten könnte von S. wohl am ehesten dann gesprochen werden, wenn im Rahmen gemeinsamer Kämpfe gegen gemeinsame Gegner oder Bedrohungen, gegen – real oder potenziell – gemeinsam erlebtes Leid und Unrecht auf regionaler, nationaler oder globaler Ebene starke Empfindungen von Zusammengehörigkeit und Verbundenheit entstehen, die in ihrer Struktur mit den moralischen Gefühlslagen, die sich in sozialen Nahbeziehungen und konkreten Gemeinschaften entwickeln, nicht zu vergleichen sind. In allen anderen Fällen moralisch-emotionaler und praktisch-tätiger Anteilnahme an der Not der anderen steht ein breites moralisches Begriffsarsenal zur Verfügung, das das Empfindungsspektrum von Zugehörigkeit und Zusammenhalt, von Hilfe und Zuwendung, von Empörung und Protest, von Gemeinsinn und Verantwortung hinreichend abdeckt. Und den gegenwärtig zu Unrecht in Misskredit geratenen Konzepten des Mitleids und der Barmherzigkeit dürfte eine solche moraltheoretische Bescheidenheit der S.s-Semantik wieder Räume öffnen, in denen ihnen erneut eine spezifische und unersetzbare Dignität zuwachsen könnte.

II. Rechtlich

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1. Begriffsursprung und Entwicklung

Ausgehend von der etymologischen Zuordnung zu den lateinischen Termini solidus (fest, ganz, sicher) und solidum (fester Grund, Boden) bezeichnet der Begriff der S. im Allgemeinen einen unterschiedlich fundierten und motivierten Gemeinsinn in einer Gruppe oder Gesellschaft, aus dem sich eine wechselseitige Identifikation ergibt, die sich in einem Eintreten des Einzelnen für die Gruppe und der Gruppe für den Einzelnen äußert. S. charakterisiert als Seinsprinzip die Zusammengehörigkeit von Individuen und die wechselseitige Verbundenheit innerhalb einer Gruppe. Als Sollensprinzip bezeichnet sie die hieraus resultierende Pflicht zur gegenseitigen Hilfe und Unterstützung. Diese Pflicht ist nicht als individuelle Tugend zu verstehen, sondern als gesellschaftliches Strukturprinzip. Sie ist Folge des auf Gemeinschaft bezogenen und angewiesenen Wesens des Menschen, der sich als Individuum in Gemeinschaft empfindet und sieht.

Der S.s-Gedanke geht geistesgeschichtlich weit zurück. Dass dieser zu Konsequenzen im Umgang miteinander führt, war schon früh im Bewusstsein nicht nur der Kirche, sondern allg. der Gesellschaft: Du sollst Vater und Mutter ehren – und das heißt auch für sie einzustehen, wenn sie sich nicht mehr selbst helfen können. Christus selbst überantwortete am Kreuz hängend seinem Lieblingsjünger die Pflicht, Maria als seine neue Mutter anzunehmen und künftig für ihr Wohlergehen zu sorgen. Im familiären Kontext entspricht S. damit persönlich empfundener Verantwortung und Verbundenheit.

Ausgangspunkt der katholischen Soziallehre sind die auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes beruhenden Prinzipien der Personalität (Personprinzip), der Subsidiarität und der S., die zum einen als in der Schöpfungsordnung angelegte Seinsprinzipien, zum anderen als Sollensprinzipien i. S. v. Leitlinien für den gegenseitigen Umgang in der Gesellschaft zu verstehen seien. S. gehört damit zu den zentralen sozialethischen Ordnungsprinzipien. Sie setzt an der Erhaltung der Individualität des Einzelnen an, betont aber auch die soziale Dimension, die sich in einem wechselseitigen Zusammenhalt in der Gemeinschaft äußert und auf normativer Ebene die Verpflichtung zur gegenseitigen Achtung der Menschenwürde verlangt.

Seinen rechtlichen Ursprung findet S. im Institut der obligatio in solidum des Römischen Privatrechts. Das Wesen dieses speziellen Haftungsinstituts bestand darin, dass der Gläubiger von jedem der Schuldner die Erfüllung einer Forderung in solidum verlangen konnte, die Leistung aber insgesamt nur einmal erhalten sollte. Dieses urspr.e Haftungsinstitut des Römischen Rechts weist Übereinstimmung mit der zivilrechtlichen Gesamtschuld nach § 421 BGB auf. Der Gesetzgeber hat hier unter abweichender Bezeichnung die Regelung einer gemeinsamen Haftung mehrerer Schuldner gegenüber einem Gläubiger übernommen. Auch für das Institut der Gesamtschuld ist eine Personenmehrheit auf Schuldnerseite kennzeichnend, die gleichstufig für die Erfüllung eines identischen Leistungsinteresses haftet.

Die rechtliche Relevanz von S. geht indes weit über das Haftungsinstitut der Gesamtschuld hinaus. Gerade der Einfluss der katholischen Soziallehre war es, der etwa zur grundlegenden Weichenstellung der Umlagefinanzierung in der Sozialversicherung zu Beginn der BRD geführt hat. Der Gedanke der S. findet in vielen Regelungen Ausdruck. Rechtlich wirkende S.s-Pflichten setzen dabei voraus, dass eine Rechtsnorm diese Forderung und Verhaltenserwartung konkret begründet.

2. Rechtliche Ausprägungen

Was zuweilen persönlich empfunden, zuweilen ethisch eingefordert wird, hat stellenweise auch rechtliche und damit zwangsweise durchsetzbare Konturierung erfahren. Die Forderung zu S. des Individuums im Sinne eines Einstehen für andere ist sowohl im Europarecht als auch auf nationaler Ebene v. a. im Sozialversicherungsrecht, im Familien- und Erbrecht, im Arbeitsrecht sowie im Strafrecht von Bedeutung.

2.1 Europarecht

Im Kontext der europäischen Integration (Europäischer Integrationsprozess) fungiert das S.s-Prinzip als Leitidee: Durch den Beitritt zur EU stellen die Mitgliedstaaten eine Gemeinschaft her, die zur wechselseitigen Koordination und Kooperation verpflichtet. Hat sich die EU von einer primär wirtschaftlich ausgerichteten Gemeinschaft zu einer facettenreichen Organisation in politischer, sozialer und rechtlicher Hinsicht entwickelt, so wird deutlich, dass das S.s-Prinzip zudem eine immer wichtigere Rolle bei der Gestaltung des Unionsrechts (Europarecht) einnimmt. Vor dem Hintergrund der Globalisierung und der Fragestellungen zu Asyl, Umweltkatastrophen und Terrorismusbedrohungen, aber auch der Finanzkrise rückt der S.s-Gedanke deutlicher in den Fokus. In jüngerer Zeit wird diesbezüglich insb. erörtert, inwieweit S. bereits einen Grundsatz des EU-Verfassungsrechts darstellt oder sich in Teilbereichen noch ausschließlich in einem philosophischen oder politischen Konzept erschöpft.

U. a. in Art. 14 i. V. m. Art. 106 AEUV sowie Art. 36 EuGRC ist die Verpflichtung zur Förderung sozialen und territorialen Zusammenhalts geregelt. Daneben findet das S.s-Prinzip bspw. in den aus Art. 174 AEUV folgenden Zuweisungen aus den Strukturfonds und dem Kohäsionsfonds Ausdruck. Durch den Vertrag von Lissabon wurde überdies Art. 222 AEUV – die sog.e S.s-Klausel – eingefügt. Indem die Mitgliedstaaten nach dem ausdrücklichen Wortlaut „gemeinsam im Geiste der Solidarität“ handeln, ergibt sich eine Rechtspflicht der anderen Mitgliedstaaten zur Unterstützung im Falle eines Terroranschlags, einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe. Damit findet sich an mehreren Stellen ein „normativer Anker“ des S.s-Gedankens im Unionsrecht.

2.2 Sozialversicherungsrecht

Grundlage rechtlicher S. als Wesensprinzip der gesetzlichen Sozialversicherung ist das grundgesetzlich verankerte Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG). Als Bestandteil des Sozialstaatsprinzips (Sozialstaat) hat die staatliche Gemeinschaft Lasten mitzutragen, die aus einem durch die Gesamtheit zu tragenden Schicksal entstanden sind und mehr oder minder zufällig nur einzelne Bürger oder bestimmte Gruppen von Bürgern getroffen haben.

Das Sozialstaatsprinzip selbst begründet als reine Staatszielbestimmung keine subjektiven Ansprüche oder Verpflichtungen. Es erfährt seine Ausgestaltung und Konkretisierung in erster Linie durch gesetzgeberisches Tätigwerden. Die Art und Weise der Zielverfolgung ist den staatlichen Verantwortungsträgern überlassen. Daraus folgt eine verfassungsrechtliche Legitimation des Gesetzgebers, S. rechtlich einzufordern.

Die Sozialversicherungen formieren in diesem Sinne gesetzlich definierte Solidargemeinschaften. Für die Krankenversicherung hält § 1 SGB V diesen Grundsatz ausdrücklich fest. Als grundlegendes und systemimmanentes Prinzip fordert das Sozialversicherungsrecht in erheblichem Umfang S. des Individuums ein. Dies betrifft maßgeblich eine finanzielle S. durch Beitragspflicht. Die für jeden Einzelnen unterschiedlich ausgeprägten sozialen Risiken werden durch die Beiträge der zahlungspflichtigen Versicherungsmitglieder abgedeckt und ausgeglichen. Im Vordergrund steht die finanzielle Einstandspflicht durch Beitragszahlung. Die durch Beitritt begründete Mitgliedschaft des Individuums löst die so definierte S.s-Forderung aus. Soweit es sich um eine Pflichtmitgliedschaft handelt, wird auch diese durch das Sozialstaatsprinzip legitimiert.

2.3 Familienrecht

Im Familienrecht findet S. ihre maßgebliche Verankerung im Unterhaltsrecht. Die einschlägigen Normen zum Verwandtenunterhalt und (nach)ehelichen Unterhalt fordern S. des Individuums als Zweck und Regelungsziel. Die gesetzlichen Unterhaltspflichten erlegen dem Schuldner eine finanzielle Unterstützungspflicht auf. Parallel hierzu erhält der Unterhaltsberechtigte einen privatrechtlichen Anspruch gegen den Unterhaltsverpflichteten.

Grundlage der Unterhaltspflicht ist stets eines der gesetzlich begründeten familienrechtlichen Statusverhältnisse Elternschaft, Verwandtschaft oder Ehe bzw. eingetragene Lebenspartnerschaft. Aus diesem Statusverhältnis folgt die familienrechtliche Verantwortung der Individuen füreinander, auf der die rechtliche Forderung zu gegenseitiger S. basiert.

Die Verpflichtung von Verwandten in gerader Linie, einander Unterhalt zu gewähren, formuliert § 1601 BGB. Der Anspruch auf Kindesunterhalt beruht auf der umfassenden Elternverantwortung als Ausfluss von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. Dadurch sind Unterhaltspflicht und Verwandtschaft in Gestalt der durch Abstammung vermittelten Elternschaft direkt miteinander verknüpft. Das Statusverhältnis der Verwandtschaft ist parallel dazu Grundlage des Elternunterhalts. Dieses Unterhaltsgrundverhältnis in gerader Linie verwandter Individuen besteht grundsätzlich lebenslang.

Ehegattenunterhalt (§§ 1360, 1361 BGB) und nachehelicher Unterhalt (§§ 1569 ff. BGB) finden ihre Grundlage in der bestehenden bzw. zurückliegenden Ehe zwischen den betreffenden Individuen. Maßgeblicher Anknüpfungspunkt ist die gemeinsame Verantwortung der Ehegatten für die wirtschaftlichen Konsequenzen und Folgen einer während der Ehe vereinbarten Arbeitsteilung. Deren Folgen können über die Dauer der Ehe hinauswirken und sind zum Schutz des wirtschaftlich schwächeren Ehegatten daher Grundlage nicht nur des ehelichen, sondern auch des nachehelichen Unterhalts.

Als weiteres familienrechtliches Statusverhältnis zählt die eingetragene Lebenspartnerschaft nach dem LPartG, sofern die Partner sie nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts zum 01.10.2017 nicht in eine Ehe umwandeln (§ 20a LPartG). Verpflichtungen zu Lebenspartnerschaftsunterhalt und nachpartnerschaftlichem Unterhalt entstehen über §§ 5, 16 LPartG und einer entspr.en Anwendung von Vorschriften des BGB über den Ehegattenunterhalt und nachehelichen Unterhalt.

2.4 Erbrecht

S.s-Pflichten im Erbrecht sind ebenfalls S.s-Pflichten kraft Status. Sie greifen in erster Linie auf die familienrechtlich formulierten Statusverhältnisse zurück. Die gegenseitige Einstandspflicht aus dem zu Lebzeiten bestehenden Statusverhältnis wird durch das Erbrecht über den Tod hinaus fortgesetzt.

In diesem Sinne beruht die gesetzliche Erbfolge auf den familienrechtlichen Statusverhältnissen Verwandtschaft und Ehe. Über das LPartG werden darüber hinaus eingetragene Lebenspartnerschaften einbezogen (soweit diese nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts nicht in eine Ehe umgewandelt worden sind). Anknüpfungspunkt ist das rechtlich begründete Verhältnis zwischen Erbe und Erblasser. Die gesetzliche Erbfolge bedeutet eine Fortführung der S.s-Verpflichtung auf Grundlage des familienrechtlichen Status auch nach dem Tod.

Schließt der Erblasser Abkömmlinge, Eltern, den Ehegatten oder Lebenspartner durch Verfügung von Todes wegen von der Erbfolge aus, erlangt die S.s-Forderung in Gestalt der Pflichtteilsberechtigung Bedeutung. Das Pflichtteilsrecht sichert den Abkömmlingen, den Eltern sowie dem Ehegatten oder Lebenspartner im Falle des Ausschlusses von der gesetzlichen Erbfolge aufgrund ihres Statusverhältnisses zum Erblasser eine Mindestteilhabe am Nachlass. Das Statusverhältnis als familienrechtliches Band legitimiert auch in diesem Rahmen die Forderung zu finanzieller S. Die Institute der Pflichtteilsunwürdigkeit und Pflichtteilsentziehung begrenzen diesen Anspruch auf Mindestteilhabe in Fällen, die einen Wegfall der finanziellen S. des Erblassers gerechtfertigt erscheinen lassen.

2.5 Arbeitsrecht

Im Arbeitsrecht steht S. in Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden im Vordergrund. Mitglieder der Koalitionen unterliegen im Verhältnis zum Verband und den übrigen Mitgliedern rechtlich wirkenden S.s-Pflichten, die ihre Grundlage in der Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG und ihre Ausprägung in vereinsrechtlichen Grundsätzen finden. Die durch Beitritt begründete Verbandszugehörigkeit unterwirft den Arbeitnehmer oder Arbeitgeber der vereinsrechtlichen Förderpflicht (mitgliedschaftliche Treuepflicht). Ihr Zweck ist das gemeinsame Einstehen für die verbandliche Zielsetzung. Die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen im Rahmen der grundgesetzlich gewährleisteten Koalitionsfreiheit kann seitens der Verbände nur durch entspr.e kollektive Ausrichtung ihrer Mitglieder gewährleistet werden. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sind in erheblichem Maße auf die innerverbandliche Geschlossenheit ihrer Mitglieder angewiesen, um den Koalitionszweck mit der erforderlichen Durchsetzungskraft gegenüber dem jeweiligen sozialen Gegenspieler verfolgen zu können. Die mitgliedschaftliche Treuepflicht formuliert den Umfang dazu erforderlicher S.s-Pflichten. Ausprägungen dieser S.s-Bindung sind insb. die Folgepflicht des Arbeitnehmers oder Arbeitgebers im Arbeitskampf sowie die Verpflichtung des einzelnen Arbeitgebermitglieds zu Tariftreue.

Die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG ist gleichzeitig kein rechtlicher Ausdruck oder umfassende Verpflichtung zu allg.er S. über die Verbandsgrenzen hinaus. Eine Forderung zu S. aller Arbeitnehmer oder Arbeitgeber wäre als Zwangssolidarisierung mit der negativen Koalitionsfreiheit nicht in Einklang zu bringen und aus diesem Grund einer rechtlichen Ausgestaltung nicht zugänglich. Das Recht des Individuums, Koalitionen fernzubleiben, muss stets gewährleistet bleiben.

Im Betriebsverfassungsrecht unterwirft der Grundsatz vertrauensvoller Zusammenarbeit (§ 2 Abs. 1 BetrVG) Arbeitgeber und Betriebsrat gegenseitigen S.s-Pflichten. Als Betriebspartner sind beide dem Wohl von Arbeitnehmern und Betrieb verpflichtet und haben ihre Zusammenarbeit auf dieses Ziel auszurichten. Zu diesem Zwecke fordert der Grundsatz vertrauensvoller Zusammenarbeit gegenseitige S., die Konkretisierung in zahlreichen Vorschriften des Betriebsverfassungsrechts findet. Der Arbeitgeber hat den Betriebsrat als Mitverantwortlichen zu akzeptieren und über umfangreiche Auskunftspflichten (z. B. nach § 80 Abs. 2 BetrVG) einen Informationsgleichstand für die Erfüllung der betriebsverfassungsrechtlichen Aufgabenstellungen zu schaffen. Arbeitgeber und Betriebsrat gleichermaßen trifft eine Verhandlungspflicht (§ 74 Abs. 1 S. 2 BetrVG), die einen grundsätzlichen Vorrang interner Streitbeilegung formuliert. Zum anderen gilt ein an beide Betriebspartner gerichtetes Störungsverbot. Arbeitskampfmaßnahmen und parteipolitische Betätigungen sind ebenso unzulässig wie konkrete Beeinträchtigungen von Arbeitsablauf oder Betriebsfrieden (§ 74 Abs. 2 BetrVG). Der Arbeitgeber darf zudem weder die konkrete Betriebsratstätigkeit behindern noch die unparteiische Amtsausübung als Grundlage einer funktionsfähigen Betriebsratsarbeit durch Begünstigung oder Benachteiligung von Betriebsratsmitgliedern gefährden (§ 78 BetrVG).

2.6 Strafrecht

Das Strafrecht formuliert rechtliche S.s-Forderungen mit dem Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c StGB) und der Regelung des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB).

§ 323c StGB generiert eine S.s-Pflicht, andere Individuen in den genannten Situationen eines Unglücksfalls, gemeiner Gefahr oder Not durch Hilfeleistung zu schützen, indem das Unterbleiben dieses Handelns unter Strafe gestellt wird. S. fungiert nicht als geschütztes Rechtsgut, sondern ist Regelungsziel der Strafvorschrift, um den Schutz der Individualrechtsgüter Leben und Gesundheit des In-Not-Geratenen sicherzustellen. § 323c StGB verlangt in dem durch die Strafandrohung definierten Umfang S. des Einzelnen. Legitimation für die Strafbewehrung der unterlassenen Hilfeleistung sind in erster Linie das Gewicht der durch § 323c StGB geschützten Individualrechtsgüter und das Allgemeininteresse, in begrenztem Maße Verantwortung für die Sicherheit anderer zu übernehmen, wo staatliche Institutionen nicht in der Lage sind, auf plötzlich auftretende Notsituationen zu reagieren.

Der Rechtfertigungsgrund des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) lässt die Strafbarkeit einer Verletzung rechtlich geschützter Interessen entfallen, wenn sie zum Schutz wesentlich gewichtigerer Interessen eines anderen erforderlich ist. Es wird eine Duldungspflicht des Notstandspflichtigen formuliert, der den Notstandseingriff in seine Rechtsgüter hinzunehmen hat. § 34 StGB fordert im Umfang dieser Duldungspflicht ebenfalls S., korrespondierend zu der Hilfeleistungspflicht aus § 323c StGB. Zwischen beiden Vorschriften besteht insoweit eine strukturelle Parallele. § 34 StGB fordert eine Mindest-S. in dem Sinne, ausnahmsweise Übergriffe in die eigene Rechtssphäre zu dulden. § 323c StGB geht über die Ebene einer solchen Duldungspflicht hinaus und verlangt dem Individuum ein aktives Handeln und Tätigwerden ab.

Der Einzelne darf auch im Rahmen von § 34 StGB nicht über Gebühr in Anspruch genommen werden. Der rechtfertigende Notstand hat zwingend eine Opfergrenze zu beachten. Der S.s-Anspruch des von einer gegenwärtigen Gefahr Betroffenen ist im Rahmen einer Interessenabwägung zu bewerten. Maßgeblich sind nicht nur das Gewicht der betroffenen Interessen, Intensität und Wahrscheinlichkeit des drohenden Schadens, sondern auch die Schutzwürdigkeit der bedrohten Interessen. So kann derjenige nicht uneingeschränkt S. anderer einfordern, der die Gefahrenlage selbst verschuldet hat oder in bes.r Weise verpflichtet ist, Gefahren auf sich zu nehmen. S. kann zudem nur eingefordert werden, wenn ein Übergewicht der Interessen desjenigen besteht, der sich in gegenwärtiger Gefahr befindet. Dies schließt v. a. eine Abwägung von Leben gegen Leben aus. Zu einer solidarischen Aufopferung des eigenen Lebens ist niemand verpflichtet.

III. Soziologisch

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In der Soziologie findet sich weder eine eindeutige noch eine allg. anerkannte Definition des Begriffes S., die Konzepte sind umstritten, die kontextuelle Einbettung vielgestaltig und dispers. Bereits bei den soziologischen Klassikern oszilliert der Terminus zwischen funktionaler Notwendigkeit als Garant gesellschaftlicher Systemintegration und potentiellem Resultat sozialen Handelns.

1. Solidarität bei Max Weber

S. ist nach M. Weber weder notwendige noch wahrscheinliche Folge menschlichen Zusammenseins und resultiert nicht a priori aus der Existenz einer sozialen Beziehung. Jedoch kann eine soziale Beziehung „den Beteiligten Chancen der Befriedigung innerer oder äußerer Interessen eröffnen, sei es dem Zweck oder dem Erfolg nach, sei es durch solidarisches Handeln oder durch Interessenausgleich“ (Weber 1980: 23). S. ist in diesem Sinne somit nicht Zweck, sondern lediglich Mittel zur Interessenbefriedigung und Zielerreichung auf Akteursebene.

Je nach Maß der Offenheit und Geschlossenheit einer sozialen Beziehung unterscheidet M. Weber Vertretungsbeziehungen von sog.en „Solidaritätsbeziehungen“, wobei im ersten Falle „das Handeln bestimmter Beteiligter (‚Vertreter‘) den anderen Beteiligten (‚Vertretenen‘) zugerechnet wird“, im zweiten bestimmte Arten des Handelns (Handeln, Handlung) eines jeden an der Beziehung Beteiligten allen Beteiligten („Solidaritätsgenossen“) zugeschrieben werden (Weber 1980: 25) – unabhängig davon, ob jene Beteiligten passiv oder aktiv solidarisch handeln. „Für das Handeln des Beteiligten gelten alle ganz wie er selbst als verantwortlich, durch sein Handeln andrerseits alle ebenso wie er als legitimiert zur Nutzung der dadurch gesicherten Chancen“ (Weber 1980: 25). Neben dem Grad oder Maß der Geschlossenheit kennzeichnen folglich Legitimierung und Verantwortlichkeit (Verantwortung) das Phänomen der S., das – wie gerade ausgeführt – sowohl Produkt als auch Produzent sozialen Handelns sein kann, das Vergemeinschaftung bzw. Vergesellschaftung erzeugt oder aber daraus resultiert.

Einen bes.n Typus der solidarischen Vergemeinschaftung benennt M. Weber in den soziologischen Grundkategorien des Wirtschaftens. Hier spielt S. als unmittelbar gefühlte S. eine herausgehobene Rolle, insofern sie die Grundlage kommunistischer, rechnungsfremder Leistungsvergemeinschaftung darstellt, auf traditionaler und affektueller Grundlage: der „Hauskommunismus der Familie“, die Kameradschaft des Heeres sowie der „Liebeskommunismus der (religiösen) Gemeinde“ (Weber 1980: 88). Grundlage für jene durchaus leistungsbereiten und wirtschaftenden Vergemeinschaftungsformen bilden Einstellungen, welche auf außerwirtschaftlich orientierten Gesinnungen fußen. Folglich können wir diesen S.s-Typus auch als Gesinnungs-S. bezeichnen – ein Begriff, den M. Weber zwar nicht selbst verwendet, der jedoch seine Ausführungen konturiert.

Einen weiteren Typus der S. behandelt M. Weber im Kontext der sog.en Herrschaftstypen und bezeichnet ihn als „Interessensolidarität“ (Weber 1980: 154). Grundlage dieser S.s-Form bilden die materiellen oder ideellen Interessen einer Personengruppe (hier: eines Verwaltungsstabes), deren Erfüllung „materielles Entgelt und soziale Ehre, Lehen der Vasallen, Pfründe der Patrimonialbeamten, Gehalt der modernen Staatsdiener, – Ritterehre, ständische Privilegien, Beamtenehre“ (Weber 1980: 823), die fortwährende Fügsamkeit und damit die Aufrechterhaltung einer bestehenden Ordnung, einer „Organisation“, gewährleistet. Ein Herr(scher), welcher sich auf jene Form der S. stützt, ist zwar – so M. Weber – „jedem einzelnen Mitglied gegenüber stärker, allen gegenüber [jedoch; Anm. der Autorin] schwächer“ (Weber 1980: 154). Interessen-S. erhöht folglich die Chance, für einen Befehl eines bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden, was nach M. Weber nicht weniger und nicht mehr ist als seine Definition von Herrschaft. Interessen-S. – auf Organisations-, System- oder Strukturebene institutionalisiert – wirkt somit herrschaftsstabilisierend, weil Fügsamkeit und Disziplin erzeugend, ist jedoch zugl. Prüfstein für den „guten Herrscher“, der „die Seinen“ und deren Interessen kennt.

2. Solidarität bei Émile Durkheim

Im Gegensatz zu M. Weber entwickelt der französische Soziologe É. Durkheim eine Theorie gesellschaftlicher Entwicklung, innerhalb derer S. eine herausgehobene Stellung, ja grundlegende Bedeutung zukommt, und folgt damit Auguste Comte. In É. Durkheims Erstwerk „Über soziale Arbeitsteilung“ (2012), stellt er sich der grundlegenden Frage „nach den Beziehungen zwischen der individuellen Persönlichkeit und der sozialen Solidarität“ (Durkheim 2012: 82). Diese Frage erwächst nicht einem anthropologischen Erkenntnisinteresse, sondern ist Resultat der Beobachtungen einer sich zunehmend arbeitsteilig spezialisierenden, kapitalistischen Industriegesellschaft, welche das soziale Leben durch „ständig auflebende Konflikte und die verschiedenartigen Formen der Unordnung“ (Durkheim 2012: 42 f.) präge. Das Leben werde sukzessive durch das ökonomische Milieu absorbiert, der einzelne sozial desintegriert vor dem Hintergrund des Schwindens alter Struktur- und Ordnungsprinzipien. É. Durkheims Lösung lautet schlicht: Reintegration durch soziale Regeln, denn „nur soziale Regeln können einen Mißbrauch der Macht verhindern“ (Durkheim 2012: 43), und damit einhergehend: Reintegration in die Gesellschaft. „Denn es ist unmöglich, daß Menschen zusammenleben und regelmäßig miteinander verkehren, ohne schließlich ein Gefühl für das Ganze zu entwickeln, das sie mit ihrer Vereinigung bilden, ohne sich an dieses Ganze zu binden, sich um dessen Interessen zu sorgen und es in ihr Verhalten einzubeziehen. Nun ist aber diese Bindung an etwas, was das Individuum überschreitet, diese Unterordnung der Einzelinteressen unter ein Gesamtinteresse, die eigentliche Quelle jeder moralischen Tätigkeit“ (Durkheim 2012: 56). É. Durkheim stellt folglich die Frage nach dem „Bindemittel“ (Delitz 2013: 83) einer Gesellschaft, und seine Antwort lautet: S.! In diesem Entwicklungsprozess hin zur funktionalen Differenzierung und arbeitsteiligen Spezialisierung der modernen (Industrie-)Gesellschaften erkennt er einen Wandel von S.s-Formen oder -typen: von der mechanischen zur organischen S., und damit eine entscheidende Veränderung der Grundlagen gesellschaftlichen Zusammenhalts.

3. Solidarität im Strukturfunktionalismus

Strukturfunktionalistisch gewendet wird S. Mittel zum Zweck. So betrachtet Talcott Parsons S. in ihrer Funktionalität für gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Erhaltung geltender sozialer Normen. In „Das System moderner Gesellschaften“ (1972) konstatiert er, dass in sog.en modernen Gesellschaften „eine Kategorie von Verpflichtungen zu ‚positiv bewerteter Vereinigung‘ (‚valued association‘), zu Solidarität in legitimen sozialen Beziehungen und Unternehmungen“ enthalten sein müsse, damit „gewisse Bedingungen kollektiven Handelns nüchtern akzeptiert werden“ (Parsons 1972: 25). Spricht T. Parsons von modernen Gesellschaften, so meint er v. a. eine Gesellschaftsform, die auf dem Nationalstaat gründet. S. ist hier von deren urspr.en Grundlagen (Religion, Ethnie, Territorium) „befreit“ (Parsons 1972: 35), ist national, autonom, dient jedoch zugl. der Verbundenheit und dem Zusammenhalt der Mitglieder einer demokratischen Gesellschaft als neuem Typus gesellschaftlicher Gemeinschaft, den T. Parsons am Beispiel der USA exemplifiziert. Losgelöst vom Partikularismus der „Klassensolidaritäten“ (Parsons 1972: 116), der „Familiensolidarität“ (Parsons 1972: 122) und der „Sippensolidarität“ (Parsons 1972: 128) stellt sich jedoch „das Problem der Motivationsgrundlagen sozialer Solidarität in einer großen Gesellschaft, deren Struktur ein hohes Maß an Pluralismus erreicht hat“ (Parsons 1972: 181). Dieser Problematik begegnet T. Parsons mit einer „neue[n] Art der Integration“ (Parsons 1972: 88) qua Staatsbürgerschaft und der daraus resultierenden (universalistischen) Zugehörigkeit aller zu einer (demokratisch, nationalstaatlich gefassten) gesellschaftlichen Gemeinschaft als Gleiche unter Gleichen. Nach T. Parsons spielt in diesem Prozess der Integration S. als „the most important normative condition“ (Parsons 1970: 48) eine entscheidende Rolle: „The first is what we call identification in the sense of motivational ‚acceptance‘ – at levels of ‚deep‘ motivational ‚commitment‘ – of membership in collective systems, most notably the society itself, which essentially is what we mean by solidarity, when seen from the point of view of function for the collective system, and secondly, internalization of some kind of priority system which structures the manifold of membership expectations for the individual – and somewhat differently for collective units“ (Parsons 1970: 48).

4. Solidarität und Solidarnormen

Jener strukturfunktionalistischen Betrachtungsweise des S.s-Begriffs, welche insb. auf das funktionalistische Bezugsproblem gesellschaftlicher Integration – oder allg.er: der Integration sozialer Systeme (Systemtheorie) – zugeschnitten ist, fügt Helmut Thome „seine adjektivistische Bedeutung“ an, in der der S.s-Begriff „als Attribut von Handlungen erscheint, die soziale (zwischenmenschliche) Beziehungen konstituieren“ (Thome 1998: 219). H. Thome schlägt eine Minimal- oder Kerndefinition vor, nach der ein Handeln als solidarisch bezeichnet wird, sofern es „bestimmte Formen des helfenden, unterstützenden, kooperativen Verhaltens beinhaltet und auf einer subjektiv akzeptierten Verpflichtung oder einem Wertideal beruh[t]“ (Thome 1998: 219).

Diese bewusst für Theorie und Empirie offen gehaltene und ergänzungsfähige Begriffsbestimmung erweitert Ulf Tranow durch ein explanatives Modell der Solidarnormbindung. In kritischer Auseinandersetzung mit den S.s-Konzepten von É. Durkheim, Karl Otto Hondrich und Claudia Koch-Arzberger, Franz-Xaver Kaufmann sowie Michael Hechter resümiert U. Tranow zunächst, dass für das soziologische Verständnis von S. normative Erwartungen eine zentrale und grundlegende Rolle spielen – unabhängig davon, ob der S.s-Begriff individualistisch auf Akteursebene oder strukturalistisch auf Systemebene analysiert werde: Auf Ebene der Akteure drücke sich S. als bestimmter Handlungstypus (Solidarnormbindung), auf Systemebene in geltenden Solidarnormen (Solidarnormgeltung) aus. In Anlehnung an M. Hechters Theorie der Gruppensolidarität und Michael Baurmanns Normtheorie definiert U. Tranow „Solidarnormen als zum Ausdruck gebrachte Sollens-Erwartungen […], dass Akteure einen kompensationslosen Transfer privater Ressourcen zugunsten anderer Akteure oder zugunsten einer Gruppe vornehmen“ (Tranow 2012: 130). Im Hinblick auf die empirische Untersuchung des S.-Konzeptes hebt der Autor die Relevanz der Unterscheidung von Existenz und Geltung von Solidarnormen hervor, d. h. von kommunikativem Aufrichten einer Sollens-Erwartung und dem Befolgen derselbigen durch eine Mehrheit ihrer Adressaten. Er betont drei grundsätzliche Perspektiven für eine soziologische S.s-Forschung: S. individueller Akteure, S. sozialer Systeme sowie das Verhältnis von Akteurs- und Systemebene. So könne sich die Analyse erstens auf die S. individueller Akteure konzentrieren und damit u. a. Bedingungen und Probleme einer Solidarnormbindung fokussieren. Zweitens könne untersucht werden, welche Normen die S. einer Gruppe oder eines Systems konstituieren. Drittens könnten unterschiedliche Systeme und deren S.en verglichen werden. Darüber hinaus habe die soziologische Analyse möglicher Interdependenzen und Reziprozitäten von S. auf System- und auf Akteursebene das Potential, theoretische und empirische Lücken der S.-Forschung zu schließen. U. Tranow bemüht sich also um eine handlungs- und normtheoretische Fundierung des S.-Konzepts sowie um eine „Verständigung darüber […], was aus einer genuin soziologischen Perspektive unter Solidarität zu verstehen ist“ (Tranow 2012: 250).

5. Solidarität in der soziologischen Forschung

Der Vielfalt und Vielgestaltigkeit des S.s-Begriffes in der soziologischen Theorie entspricht eine ebensolche in der empirischen Forschung. So findet sich S. z. B. als Gegenstand in der sozialwissenschaftlichen Untersuchung familialer Unterstützungsideologien zur Erfassung der „Tendenz zur Gerechtigkeit in der Familie“ (Gerlitz 2014: 1) in dem Gegensatzpaar Kollektivismus (unbedingte S.) und Individualismus (bedingte S.), wie auch im Bereich der Arbeits- und Industriesoziologie, die bspw. das Verhältnis von S. und Subjektivierung in Bezug auf Erwerbsarbeit in den Blick nimmt. Aktuelle Forschungsprojekte widmen sich den Strukturmerkmalen, Dynamiken und Veränderungsprozessen von S. in der BRD und in Europa. S. wird hier sowohl als Schlüsselbegriff der Gegenwart als auch als zentrales Problem gesellschaftlicher Zukunft definiert und als basaler sozialer Mechanismus wahrgenommener Zusammengehörigkeit und praktizierter Wechselseitigkeit und damit als Ausdruck des relationalen Charakters des Sozialen gesehen. Bes. interessieren die positiven und negativen Effekte verschiedener, z. T. gemeinsam wirkender Krisen auf die S. innerhalb und zwischen den Ländern Europas, die Übergänge von nationalen zu transnationalen Formen der S., die Veränderungen der S. zwischen gesellschaftlichen Gruppen, in Einwanderungsgesellschaften sowie intergenerationale S.en.

6. Schlussbemerkung

S. ist in der Soziologie mehr als eine bloße „Formel einer Ideologie“ (Luhmann 1984: 89). Bis heute bieten Begriff und Konzept der S. Anlass für theoretische Auseinandersetzung und empirische Analyse. Dabei scheinen angesichts der begrifflichen Breite wie des empirisch-analytischen Potentials des S.-Konzeptes, welches sich von der Ebene sozialen Handelns individueller Akteure bis in die Höhen gesellschaftlicher Systemrelevanzen erstreckt, die grundlegenden Fragen der Soziologie im Begriff der S. zu kulminieren: Was hält eine Gesellschaft zusammen? Wie wird S. hergestellt, wie aufrechterhalten, wie „benutzt“? Welchen Gefährdungen ist S. ausgesetzt?