Sexualethik

S. ist die herkömmliche Bezeichnung des Bereichs der angewandten Ethik, der den verantwortlichen Umgang mit der eigenen Sexualität und derjenigen Anderer, mit der Lebensführung und den Lebensformen, die diese einschließen, sowie Elternschaft und die Verpflichtung zur Fürsorge und Erziehung des Menschen im Säuglings- und Kindesalter reflektiert. Jede S. geht aus von der sexuellen Ansprechbarkeit und Bedürftigkeit als konstitutiver Dimension des Menschen wie auch von der Fähigkeit, im Zusammenwirken mit dem anderen biologischen Geschlecht Kinder zu zeugen. Beides ist verschränkt mit Sozialität. Sexualität ist nicht nur Bedürfnis und existenziell erlebte Befriedigung, sondern auch Medium der Expression und der Kommunikation; Kindsein und Elternschaft sind nicht nur das Ergebnis eines biologischen Erzeugungsverhältnisses, sondern begründen darin eine fürsorgliche Pflege- und Erziehungsbeziehung, ohne die der Säugling bzw. das Kind nicht zu einem lebensfähigen Wesen heranwachsen kann. Anders als bei den Tieren sind Sexualität, auch Fortpflanzung sowie die damit einhergehenden Beziehungen, nicht einfach naturale Gegebenheiten, sondern bei aller biopsychosozialen Disponiertheit aus Freiheit heraus gestaltbar und der Umgang mit ihnen Gegenstand der Reflexion und der ethischen Urteilsbildung.

Was als verantwortbare Praxis von Sexualität gilt, hängt stark vom sozialen und kulturellen Kontext ab. Referenzpunkte der entspr.en Ideale und normativen Vorschriften sind die individuellen Voraussetzungen zur Übernahme und eigenständigen Ausfüllung bestimmter sozialer Rollen (Ich-Identität, Erwachsensein), das leibliche und soziale Zueinanderpassen der Partner, die Fähigkeit, Verantwortung für eine neue Generation zu übernehmen, der Wille, das entstehende Beziehungsarrangement auf Dauer zu stellen, ein für die Beteiligten akzeptables Verhältnis zwischen öffentlicher Kontrolle und Privatheit, die Geregeltheit des Machtgefälles im Inneren der Beziehung, die gegebenen materiellen und ideellen Ressourcen, die die Beziehungen überhaupt ermöglichen und ihnen förderlich sind.

1. Die institutionelle Dimension von Beziehungen

Unter den kulturellen Leitbildern und normativen Orientierungen für Intimität umfassende und intergenerationelle Fürsorgebeziehungen gibt es die, die die Lebensführung der einzelnen Akteure und ihren Umgang mit anderen beteiligten Personen betreffen. Man klassifiziert sie üblicherweise als individualethisch. Ihr Pendant sind die Leitbilder und normativen Orientierungen, die auf die strukturellen und sozialen Bedingungsfaktoren solcher mit Beteilung des freien Willens der Betroffenen zustande kommender Beziehungen fokussiert sind.

Unter diesen kommt zu allen Zeiten und in sämtlichen Kulturen den Institutionen Ehe und Familie (urspr. als Einheit gesehen) als Konglomeraten von vielen einzelnen normativen Bestimmungen bes. Bedeutung zu, insofern sie als Gewähr für Stetigkeit und Verlässlichkeit (im Unterschied zu bloß temporären und flüchtigen Formen der Verbundenheit) einerseits und für eine bestimmte Sphäre, in der größte persönliche Nähe bis hin zur Selbstpreisgabe möglich wird (ohne Ausnutzung, Gewalt und dem Aufmerksamkeitsentzug des Partners schutzlos ausgeliefert zu sein), andererseits.

Die individualethischen und sozialethischen Aspekte müssen unterschieden werden; sie gehören aber eng zusammen, nicht nur, weil sie in jedem konkreten Beziehungsarrangement als Einheit erlebt werden und möglichst kohärent gelebt werden müssen, sondern auch, weil beide dem gemeinsamen Ziel verpflichtet sind, zum Gelingen tragender Beziehungen unter jeweils gegebenen Bedingungen zu verhelfen und den destruktiven Einflüssen struktureller Belastungs- und Störfaktoren entgegenzuwirken.

Institutionalisierte Lebensformen, insb. Ehe und Familie, sind jedoch keine Garantien für solches Gelingen, sondern lediglich durch lange menschheitliche Erfahrung validierte und durch Gewohnheit gesellschaftsweit gekannte und angesehene Hilfen zur Ordnung der biographischen Lebensverläufe samt der Anteile an Subjektivität, der vorhersehbaren und unvorhersehbaren Veränderungsprozesse und des schicksalhaft Eintretenden.

2. Der theologische Aspekt

In so gut wie allen großen Religionen sind Sexualität und intime Beziehungen ein Gegenstand von Deutung und Regulierung. Das liegt an der Zentralität dieses Bereichs für das menschliche Dasein und Zusammenleben, aber auch daran, dass hier Leiblichkeit, Andersartigkeit und das Überschreitenkönnen des eigenen Ichs hin zum Anderen bes. intensiv und z. T. ekstatisch erfahren werden können.

Für die jüdisch-christliche Glaubenstradition gehören die konstitutionelle Suche nach dem ergänzenden Anderen, die erotische Anziehung sowie Zeugung, Schwangerschaft, Geburt und Erziehung elementar zur Schöpfung Gottes und partizipieren an deren Dignität. Die Haltung der Treue zum Partner im Fluss der Zeit und angesichts der Veränderungen im Umfeld gilt schon früh als Abbild und Vergegenwärtigung der Zugewandtheit Gottes zu den Menschen. In der Theologie hat dies seit dem Hochmittelalter in der Klassifizierung der Ehe als eines der Sakramente Ausdruck gefunden. Eine wichtige Rolle in der gesamten Theologiegeschichte hat auch der Gedanke gespielt, dass die Sexualität am allg.en menschheitlichen Schuldzusammenhang (Schuld) teilhat und auch Medium von Gewalt, Besitzgier, Ausbeutung und Täuschung sein kann. Im Blick auf die mit dem starken Affektpotential der Sexualität assoziierte Bedrohlichkeit und die darauf reagierende Disziplinierungsmoral und -pastoral hat das Zweite Vatikanische Konzil korrigierend von der sittlichen Würde der sexuellen Kommunikation unter Eheleuten gesprochen, Liebe als den Inbegriff aller Gebote und die erotisch-sexuelle Liebe als ineinander transformierbar und aufeinander verweisend erklärt sowie die Zeugung eines Kindes als Ko-Schöpferschaft mit Gott herausgehoben (vgl. GS 47–52).

Aus diesen prinzipienartigen theologischen Ideen und ihren Neuakzentuierungen lassen sich die normativen Vorschriften einer christlichen S. zwar nicht schon unmittelbar entnehmen oder ableiten. Doch markieren sie den Denkrahmen, innerhalb dessen ein Bezug von Erfahrung, Vernunft und dem verfügbaren humanwissenschaftlichen Wissen in der theologisch-ethischen Normenreflexion stattfinden muss.

3. Die beziehungsethische Transformation der Sexualethik

Die sexualethische Reflexion kann sich zu keinem Zeitpunkt als definitiv vollendet verstehen, sondern muss sich vom Wandel der Beziehungsrealität und der Praxis der gelebten Intimität ständig herausfordern und überprüfen lassen. Ein solcher Wandel ist unübersehbar und wird im Rückblick auf die letzten 50 Jahre oberflächlich als sexuelle Revolution beschrieben. Die Gründe dafür sind allerdings vielschichtiger und liegen sowohl in äußeren Faktoren (Verlängerung der durchschnittlichen Beziehungsdauer, Verfügbarkeit hormoneller Empfängnisverhütungsmittel, Delegitimierung tradierter Verbote durch Reformen im Strafrecht, Auftreten von AIDS, medizinisch möglich gewordene Zeugung in vitro [ Insemination ]) wie auch in gesellschaftsweiten Denkströmungen (Bedürfnis nach stärkerer Selbstbestimmtheit, Toleranz gegenüber neuen Lebensformen, neues Selbstverständnis der Frau, Antidiskriminierungsbewegung, das Sichtbarwerden von Missbrauch im Kontext rigider Moralnormen). Für die S. resultieren daraus folgende markante Entwicklungen, die sie als Gegebenheiten zu registrieren hat, es sei denn, man wolle der These Volkmar Siguschs von der neosexuellen Revolution folgen, der zufolge die Moral allgemeinverbindlicher Verbote untergegangen sei und eine individuelle Verhandlungsmoral an ihre Stelle getreten sei:

Die erste besteht darin, dass persönliche Zuneigung („Liebe“) zur wichtigsten Voraussetzung für Bindung und das Eingehen jeder freiwilligen Beziehung geworden ist. Sexuelle Intimität gilt als verantwortbar, sobald die Partner ihre Beziehung für entspr. intensiv halten. Deren rechtliche Form wird von den Meisten wohl als bestätigend, formal bekräftigend und als öffentliche Kundgabe verstanden, aber nicht mehr als konstituierend. Liebe und Sexualität gelten als Güter, die man nur frei geben kann; und für die Beziehung selbst kann weder durch fixe moralische Normen noch durch einen rechtlichen Rahmen Sorge getragen werden.

Eine zweite signifikante Entwicklung besteht in der tendenziellen Verselbstständigung von Liebe, Ehe, Sexualität und Familie, die ehedem als untrennbare Einheit gesehen wurden: Ehe gilt nicht mehr als unabdingbare Vorbedingung für die Aufnahme sexueller Beziehung; Sexualität wird praktiziert, ohne dass dies mit der Wahrscheinlichkeit der Zeugung eines Kindes verbunden ist; die Zeugung eines gewünschten Kindes ist im Fall der Unfruchtbarkeit von sexueller Aktivität abtrennbar. Die Gleichzeitigkeit von Liebe, Ehe, Sexualität und Familie ist nicht mehr zwangsläufig, und die einzelnen Elemente dieses Komplexes stellen in Beziehungen häufig zeitliche Abschnitte oder sogar qualitative Stufen dar, die jeweils eines eigenen Entschlusses bedürfen. Das schließt aber nicht aus, dass es auch unter den veränderten Bedingungen Kriterien für verantwortliche Sexualität und einen achtsamen Umgang mit der Möglichkeit, neues menschliches Leben zu zeugen, braucht.

Das dritte neue Phänomen ist das gestiegene Bewusstsein dafür, dass sowohl Liebesbeziehungen als auch Ehen und Familien dynamisch-prozessuale Wirklichkeiten sind. Sie durchlaufen allesamt Entwicklungen, in deren Verlauf es auch zu typischen Krisen kommen kann. Beziehungen können ebenso wachsen wie sie auch verkümmern können. Sie sind niemals etwas Fertiges und automatisch Stabiles, sondern auf Beziehungs„arbeit“ angewiesen, wenn sie an Stärke und Tiefe zunehmen sollen. In letzter Konsequenz bedeutet das auch, dass trotz des Ideals unkündbarer Unbedingtheit auch die Möglichkeit des Scheiterns und der Zerstörung neben der bereits bisher anerkannten Figur der Ungültigkeit einer Ehe gegeben ist.

Viertens sind nicht nur die Partner einer Beziehung je für sich, sondern auch die Beziehung selbst verletzlich. Es braucht deshalb nicht nur rechtlich definierte Voraussetzungen für die öffentliche Anerkennung einer Beziehung, sondern auch einen Schutz der einzelnen Partner, insb. des schwächeren Teils, vor möglicher Schädigung während und sogar noch nach einer Beziehung, sowie Unterstützungsmaßnahmen für bes. belastende Situationen. Für die Realisierung persönlicher Potentiale und Chancen sind Modelle und Anreize für die Gerechtigkeit erforderlich, die bis in die innere Architektur der Beziehung hineinreichen (Vereinbarkeit von Familienarbeit und Berufstätigkeit, Anerkennung der Pflege- und Erziehungsleistung, Aufteilung der Hausarbeit u. a.).

S. fällt fünftens auch eine politisch dimensionierte Aufmerksamkeit zu. Staatliche Maßnahmen nämlich, die bezwecken, die Freiheit von Menschen zu beschneiden, sich zu einem Paar zu vereinen und gemeinsam Kinder zu erzeugen, verletzten das Menschenrecht, „ohne Beschränkung durch Rasse, Staatsbürgerschaft oder Religion […] eine Ehe zu schließen und eine Familie zu gründen“ (Art. 16 Abs. 1 AEMR). Mit staatlicher Geburtenkontrolle wie auch pronatalistischer Bevölkerungspolitik zur Steigerung der Geburtenrate sind in der Vergangenheit keine guten Erfahrungen gemacht worden. Wenn Ehe und Geschlechtsbeziehung als selbstbestimmte personale Gemeinschaften zu gelten haben und Kinder Bereicherung und Erfüllung von Beziehungen sein sollen, kann der Staat nicht berechtigt sein, über den Zugang oder Nichtzugang zum Leben zu entscheiden. Indirekte Fördermaßnahmen zur Realisierung bestehender Wünsche und die Beseitigung von entspr.en Hindernissen hingegen sind legitim (Familienpolitik).

Eine beziehungsethische Konzeption von S. wird deshalb anders ansetzen müssen als beim Rekurs auf die Natur von Sexualität. Vielmehr wird sie ausgehen vom Begriff gleicher Freiheit von Mann und Frau und ihrem Anspruch auf den rechtlichen Schutz der Räume und Bedingungen, die die Verwirklichung sozialer Freiheit als Lebensgemeinschaft von gleichberechtigten Erwachsenen mit all ihren Unterschieden sowie die Wahrnehmung von Verantwortlichkeit für die Existenz und Fürsorge von Kindern ermöglichen.