Sexualerziehung: Unterschied zwischen den Versionen

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[[Category:Pädagogik]]

Version vom 14. November 2022, 06:00 Uhr

1. Begriffe

Mit S. „wird in der Regel das gesamte Feld der bewussten, gezielten und geplanten Förderung der menschlichen Sexualität auf allen Altersstufen angesprochen, das sich zudem als ein Teilbereich neben anderen der gesamterzieherischen Bemühungen versteht“ (Kluge 1984: 9). S. kann entspr. die gesamte sexuelle Sozialisation begleiten, wenn auch den frühkindlichen Einflüssen in der Familie eine primäre Funktion zukommt. Sexualpädagogik „ist eine Aspektdisziplin der Pädagogik, welche sowohl die sexuelle Sozialisation als auch die zielgerichtete erzieherische Einflussnahme auf die Sexualität von Menschen aller Lebensalter erforscht und wissenschaftlich reflektiert“ (Sielert 2015: 12). Sexualaufklärung meint die Information über Fakten und Zusammenhänge zu allen Themen menschlicher Sexualität. Auch sexualpädagogische Beratung kann in S. integriert werden, wenn sie Lern- und Entwicklungsprozesse im Gespräch mit Einzelnen oder Gruppen unterstützt. Mit der Metamorphose des Bildungsbegriffs (Bildung) im gesellschaftlichen und erziehungswissenschaftlichen Diskurs – vom humanistischen Ideal über einen bildungsbürgerlichen Habitus zum „unabgeschlossenen Projekt emanzipativer Selbstfindung“ (Bernhard 1997: 68) – ist in den letzten Jahren vermehrt vom neuen Paradigma der sexuellen Bildung die Rede. Gemeint ist ein lebenslanger Prozess der Selbstaneignung und Gestaltung sexueller Identität in Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Lebenswelt, den die Erziehung durch Informationen, Beziehungsangebote und Kontextgestaltung nur freundlich begleiten kann.

2. Grundlagen und Konzeptionen

Sexualpädagogik und S. wurden historisch und werden aktuell wissenschaftstheoretisch und gesellschaftspolitisch kontrovers diskutiert. Traditionell wurden drei idealtypische Theoriepositionen der repressiven, der vermittelnd-liberalen bzw. scheinaffirmativen und der emanzipatorischen Richtung unterschieden. Gerhard Glück bevorzugte für die Zeit von 1985–93 aufgrund einer Literaturanalyse vier neue Grundrichtungen: „sexualfreundlich oder affirmatorisch“ (Glück 1998: 48), „christlich-konservativ bzw. kulturpädagogisch und realistisch oder sexualnegativ“ (Glück 1998: 49), „Mitte, psychoanalytisch oder Sexualität problematisierend“ (Glück 1998: 50) und „Werteerhellung ohne Normierung oder wertfrei zur Sexualmoral“ (Glück 1998: 51). Die von G. Glück schon in diesem Zeitraum konstatierte Pluralisierung der Lebensrealitäten, der Kampf um Geschlechterdemokratie und die Anerkennung von Homosexualität sowie die Angst vor AIDS und sexualisierter Gewalt dynamisierten sich in der Zeit von 2000–18 durch weitere Befreiungs- und Problemdiskurse. Hinzu kamen der Diskurs um ein erweitertes Verständnis von geschlechtlichen und sexuellen Identitäten (LGBTI), die Queertheorie und -bewegung, die Angst vor weiteren sexuell übertragbaren Krankheiten, sexuellem Missbrauch und Pädophilie sowie der Pornographie. Die heute aktuelle Hauptströmung der „kritisch-reflexiven“, bisher auch „neo-emanzipatorisch“ genannten Sexualpädagogik hat diese Diskurse in ihr Konzept eingearbeitet. Ihre Vertreter haben sich kritisch mit der emanzipativen Sexualpädagogik der Nach-1968er-Zeit sowie der wertneutralen sexual-affirmativen Richtung auseinandergesetzt. Übernommen wurde der breite Sexualitätsbegriff der Sexualforschung sowie der WHO, einschließlich der dort formulierten sexuellen Rechte.

3. Umfang und Stellenwert der Sexualerziehung: aktuelle Kontroversen

Angesichts komplexer Bewältigungslagen während der lebenslangen sexuellen Sozialisation mit dem Anspruch auf sexuelle Selbstbestimmung in einer von Pluralität und Interkulturalität geprägten Gesellschaft sind die Ansprüche an sexuelle Bildung gewachsen. Ein breiter Konsens existiert bzgl. der präventiven Funktion von S. angesichts der Vermeidung sexueller Grenzverletzungen, aber nicht alle gesellschaftlichen Gruppen teilen ihre präventiven Aufgaben zum Schutz sexueller Minderheiten oder der Empfängnisverhütung. Unterschiede bestehen angesichts eines eher sanktionierenden oder befähigenden Kinder- und Jugendschutzes und v. a. bei der Gewährung oder Förderung sexueller Lust außerhalb liebender Beziehungen. Die am Selbstbestimmungsanspruch orientierte professionelle Sexualpädagogik und eine entspr.e Bildungspolitik beanspruchen, eine umfassende und altersangemessene sexuelle Bildung in Familie, Kita, Schule, Jugendhilfe, Erwachsenenbildung zu fördern sowie den offenen Diskurs um „sexuelle Gesundheit“ und „gelingendes Sexualleben“ in der Zivilgesellschaft anzuregen. Eher staatskritische Gruppen und Skeptiker sexueller Selbstbestimmung plädieren für eine vorwiegend familiäre S. und ergänzende Sexualaufklärung in öffentlichen Bildungseinrichtungen, frühestens in der Grundschule.