Separatismus

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1. Begriff

Der Begriff S. (von lateinisch separare = trennen) steht im politischen Kontext für das Streben eines Bevölkerungsteils nach Gebietsabtrennung zur Gründung eines neuen Staats oder zum Anschluss an ein anderes Staatswesen. Im weiteren Sinn steht S. für den Wunsch nach Reduzierung der Kontrolle der Zentralmacht über ein spezifisches Gebiet sowie für das Ziel, Macht vom Zentralstaat auf die lokale Bevölkerung oder Elite zu übertragen.

2. Motive und völkerrechtliche Legitimierung

Separatistische Bewegungen rechtfertigen ihre Forderungen i. d. R. mit dem Verweis auf eine anhaltende politische, wirtschaftliche und/oder kulturelle Benachteiligung aufgrund ihrer Ethnie, Sprache oder Religionszugehörigkeit. Sie sehen zugleich eine Änderung dieses Zustandes im Rahmen der bestehenden politischen Verhältnisse verunmöglicht. Darum versprechen sie sich durch die Veränderung der staatlichen Zugehörigkeit eine gerechtere Politik und eine Besserung des Gemeinwohls.

Für separatistische Bewegungen ist die Anerkennung der Legitimität ihrer Forderung zentral. Das Funktionieren der anvisierten Eigenstaatlichkeit hängt wesentlich von ihrer Anerkennung durch andere Staaten und von normalisierten internationalen Beziehungen ab. Gemäß völkerrechtlicher Praxis (Völkerrecht) werden zwar im Einvernehmen mit dem Mutterstaat stattfindende Separationen anerkannt. Eine unilateral, also ohne Einwilligung des Mutterstaats proklamierte Unabhängigkeit, gilt hingegen als illegitim und wird nur in Ausnahmefällen akzeptiert.

Zentraler völkerrechtlicher Bezugspunkt des S. ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Dieses ist seit 1945 in der UN-Charta verbrieft. Im Kontext der Entkolonialisierung wurde Kolonien (Kolonialismus) das Recht auf einen unabhängigen Staat in den bestehenden Kolonialgrenzen zuerkannt. Bes. seit dem Ende des Kalten Krieges wird das Selbstbestimmungsrecht aber inkonsistent angewendet. Es ist dabei insb. umstritten, welche Bevölkerungsgruppen als Volk unter welchen Umständen ein Recht auf Selbstbestimmung besitzen, sowie, unter welchen Bedingungen Selbstbestimmung als erfüllt anzusehen ist.

3. Phänomene

S. tritt unabhängig vom Entwicklungsstand sowie der Staats- und Regierungsform auf und kennt keine einheitliche Erscheinungsform. In demokratischen Staaten vertreten separatistische Bewegungen ihre Forderungen heute meist als politische Parteien. Separatistische Anliegen werden aber auch durch außerparlamentarische Protestaktionen geäußert. Bes. in Staaten, in denen eine politische Vertretung separatistischer Anliegen nicht möglich ist, kann S. paramilitärische oder terroristische Formen annehmen. S. ist heute i. d. R. dort gewaltfrei, wo politische Forderungen auf demokratischem Weg artikuliert werden können. S. besteht zudem meist neben weniger radikalen Forderungen nach Selbstverwaltung, etwa solchen nach mehr regionalen Autonomierechten.

Mehrere Faktoren erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass S. in einem bestimmten Gebiet Unterstützung gewinnt. Dazu gehören historisch erfahrene Unterdrückung, regionale Homogenität oder eine starke regionale Identität. Diese und weitere Faktoren tragen zur Prägung von Narrativen bei, welche die Bevölkerung von der Berechtigung ihrer separatistischen Idee überzeugen können. Darüber hinaus trägt auch die Aussicht auf wirtschaftliche Überlebensfähigkeit des künftigen Staates dazu bei, ob S. in der Bevölkerung Rückhalt gewinnt.

Im europäischen Kontext gibt es einen anhaltenden Trend hin zur gewaltlosen Vertretung separatistischer Forderungen, nachdem zuvor jahrzehntelang Terrorismus ein prägendes Element war. Lange ging man auch davon aus, dass die europäische Einigung im Rahmen der EU den S. seiner Relevanz berauben würde. Dies hat sich als Trugschluss erwiesen, und zwar wohl auch deshalb, weil Europas Nationalstaaten auf absehbare Zeit relevante politische Akteure bleiben werden.

Global und historisch betrachtet führt S. häufig zu bewaffneten innerstaatlichen Konflikten. Diese Konflikte haben oft Bürgerkriegscharakter (Bürgerkrieg) und sind von extremer Gewalt geprägt. Häufig sind auch ausländische Akteure in die Auseinandersetzungen involviert, bes. dann, wenn sie direkte Interessen im Konflikt haben.

Ein Phänomen separatistischer Konflikte ist das Entstehen von sogenannten De-facto-Staaten. Diese kontrollieren zwar das beanspruchte Territorium, finden aufgrund des Zustandekommens der Separation aber keine internationale Anerkennung. Beispiele dafür sind etwa Somaliland (Somalia) oder Abchasien und Süd-Ossetien (beide Georgien).

4. Zentralstaatliche Reaktion

Hinsichtlich von S. steht aus Sicht des Zentralstaats die Frage im Mittelpunkt, wie mit den erhobenen Forderungen umzugehen ist. Betroffenen Staaten droht angesichts von S. ein Verlust von Territorium, Souveränität und Macht, den sie i. d. R. zu verhindern suchen.

Es gibt kein allgemein gültiges Rezept zur Prävention von S. Eine vorbeugende Wirkung hatte in der Vergangenheit das Vorhandensein einer intakten Demokratie, das Führen ernsthafter Dialoge zwischen der Regierung und der separatistischen Bewegung sowie Bürgerbeteiligung (Partizipation). Insb. autoritär geprägte Staaten gehen aber repressiv gegen S. vor. Dies kann zur Eskalation des Konflikts führen, kann aber auch die dauerhafte Unterdrückung von S. in einem Land zur Folge haben.

Grundsätzlich scheint die teilweise Übertragung von Macht auf die regionale oder lokale Ebene einer Lösung von separatistischen Konflikten förderlich zu sein. Weithin wird vermutet, dass eine Föderalisierung des Gesamtstaats (Föderalismus) S. stärker befrieden kann als die Gewährung von Autonomierechten (Autonomie) an einzelne Regionen. Zentralregierungen sehen in Autonomierechten und Föderalisierungsschritten aber oftmals die Gefahr einer Legitimierung noch weiterer künftiger Abspaltungen. In der Vergangenheit wurden bestehende innerstaatliche Grenzen von Föderationen als maßgeblich für künftige Staaten angesehen, so etwa beim Zerfall Jugoslawiens.

Da in liberalen Demokratien eher die Möglichkeit föderaler Machtverteilung besteht und sie wahrscheinlicher zu Verhandlungen mit Minderheiten bereit sind, sieht man sie allgemein als fähiger an, mit S. umzugehen.