Schulpflicht

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1. Begriff und Entstehung

Eine regelmäßige Schulausbildung für breitere Bevölkerungskreise ist erst ein Phänomen der Neuzeit. V. a. reformatorische Forderungen führten Ende des 16. Jh. zu frühen Formen einer allgemeinen S. in einzelnen deutschen Territorien (zuerst Pfalz-Zweibrücken; Straßburg). In Preußen wurde mit Ausstrahlungswirkung durch Friedrich Wilhelm I. 1717 und dann v. a. durch Friedrich II. 1763, letzteres Generallandschulreglement bereits motiviert durch Gedankengut der Aufklärung, die S. postuliert. Die Durchsetzungschancen waren aufgrund fehlenden Personals, fehlender Gebäude, v. a. jedoch fehlender Motivation der Eltern bzw. der ökonomischen und sozialen Notwendigkeit mitarbeitender Kinder sehr unterschiedlich, v. a. katholische Territorien hinkten hinterher.

Im geltenden Recht ist die S. im Landesrecht – in den Landesverfassungen und in den Landesschulgesetzen – verankert und beträgt neun bzw. zehn (Schul-)Jahre. Nach Ablauf der Vollzeit-S. kann die Berufs-S. wirksam werden. Die S. beginnt zu einem von Land zu Land variierenden Stichtag nach Vollendung des sechsten Lebensjahres.

2. Aktuelle gesellschaftliche Problematik

Unterschiedliche Formen der Schulverweigerung aus religiösen und weltanschaulichen Gründen – sei es die Totalverweigerung durch christliche Fundamentalisten (Fundamentalismus), sei es die Partialverweigerung durch Moslems – haben sich inzwischen zu einem gesellschaftlichen Problem ausgeweitet. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG i. V. m. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährt den Eltern das Recht zur Kindererziehung (Elternrecht) in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht. Diese Grundrechte sind Einschränkungen zugänglich, die sich aus dem prinzipiell gleichrangigen Erziehungsauftrag des Staates (Art. 7 Abs. 1 GG) ergeben können. U. a. ist die in den Gesetzen der Länder festgeschriebene allgemeine S. eine Konkretisierung dieses Erziehungsauftrags. Konflikte zwischen dem (religiösen) Erziehungsrecht der Eltern und dem Erziehungsauftrag des Staates sind nach den Grundsätzen der praktischen Konkordanz zu lösen. Das einfachgesetzliche Schulrecht lässt auf Antrag begrenzte Befreiungen durch den Schulleiter aus besonderen Gründen im Einzelfall zu, vgl. etwa § 11 Abs. 1 ASchO NRW.

Die aus den USA kommende, zumeist christlich-fundamentalistisch begründete Bewegung des sogenannten homeschooling, d. h. die Totalverweigerung der staatlichen Schulerziehung, ist in den letzten Jahren zum neuralgischen Punkt elterlichen und staatlichen Erziehungsrechts geworden. Hierbei geht es im Wesentlichen um strenggläubige Christen, die einen verwerflichen ideologischen Einfluss der Schulen auf ihre Kinder befürchten und diesen in bestimmten Fächern vermittelte Inhalte „ersparen“ wollen. Ihrer Auffassung nach wird den Kindern an staatlichen Schulen „das Falsche“ vermittelt und „das Richtige“ vorenthalten.

3. Rechtsprechung zur Schulpflichtverweigerung

Die deutschen Gerichte lehnen bisher religiös motivierte Ansprüche auf völlige Unterrichtsbefreiung (auch von einzelnen Fächern) nahezu einhellig ab. Das Erziehungsrecht der Eltern sei nicht ausschließlicher Natur; daneben trete gleichrangig der Erziehungsauftrag des Staates. Die mit der in den jeweiligen Landesgesetzen geregelten S. verbundenen Eingriffe in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und Art. 6 Abs. 2 GG stünden in einem angemessenen Verhältnis zu dem Gewinn, den die Erfüllung dieser Pflicht für den staatlichen Erziehungsauftrag und die hinter ihm stehenden Gemeinwohlinteressen (Gemeinwohl) erwarten ließen. Die Allgemeinheit habe ein berechtigtes Interesse daran, der Entstehung von religiös oder weltanschaulich motivierten „Parallelgesellschaften“ entgegenzuwirken und Minderheiten zu integrieren. Abgesehen von der Frage, ob die Eltern überhaupt in der Lage sind, den gesamten Stoff auch in didaktischer Hinsicht einer wissenschaftlich ausgebildeten, professionell tätigen Lehrkraft vergleichbar zu vermitteln, spricht hierfür v. a. die den Kindern aufgrund der erziehungsbedingten Ausgrenzung fehlende Kompetenz, sich unter normalen gesellschaftlichen Bedingungen behaupten zu können. Im Ergebnis würden die Kinder zur Unmündigkeit erzogen, was mit dem Menschenbild des GG nicht vereinbar wäre. Hinzu kommt der kaum feststellbare rigide familiäre Zwang, der auf die Kinder ausgeübt wird. Auch dies würde – in pädagogischer Hinsicht – gegen eine Befreiung sprechen. Als argumentativen Kern der grundsätzlichen Entscheidung gegen homeschooling hat die Rechtsprechung des BVerfG festgehalten: „Es mag zutreffen, dass die Beschränkung des staatlichen Erziehungsauftrags auf die regelmäßige Kontrolle von Durchführung und Erfolg eines Heimunterrichts zur Erreichung des Ziels der Wissensvermittlung ein milderes und insoweit auch gleich geeignetes Mittel darstellen kann. Doch kann es nicht als Fehleinschätzung angesehen werden, die bloße staatliche Kontrolle von Heimunterricht im Hinblick auf das Erziehungsziel der Vermittlung sozialer und staatsbürgerlicher Kompetenz nicht als gleich wirksam zu bewerten. Denn soziale Kompetenz im Umgang auch mit Andersdenkenden, gelebte Toleranz, Durchsetzungsvermögen und Selbstbehauptung einer von der Mehrheit abweichenden Überzeugung können effektiver eingeübt werden, wenn Kontakte mit der Gesellschaft und den in ihr vertretenen unterschiedlichsten Auffassungen nicht nur gelegentlich stattfinden, sondern Teil einer mit dem regelmäßigen Schulbesuch verbundenen Alltagserfahrung sind“ (BVerfG, NVwZ 2003: 1113). Diese „Integrationsfunktion“ der Schule (Integration) besteht folglich nicht nur im Interesse der Kinder, sondern ist auch Voraussetzung für das Funktionieren einer demokratischen Staatsordnung. Nach dieser Prämisse ist auch die zwangsweise Durchsetzung der S. mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und Art. 6 Abs. 2 GG vereinbar. Tatsächlich schrecken aber selbst Bußgelder und polizeilicher Zwang Familien nicht ab, ausschließlich häuslichen Unterricht für ihre Kinder zu organisieren und durchzuführen.

Die zum homeschooling entwickelten Grundsätze hat das BVerwG (NVwZ 2014: 81) auch auf die – vermehrt aufkommenden – Fälle der religiös motivierten Verweigerung einzelner isolierter Unterrichtsinhalte übertragen. Hierzu gehören etwa die Ablehnung des koedukativen Schwimmunterrichts unter Berufung auf islamische Verhüllungsvorschriften, die Nichtteilnahme an Schulfahrten oder das „Boykottieren“ von als anstößig empfundenen (Unterrichts-)Filmen; mit leichten Abstrichen lässt sich hier außerdem das Tragen eines niqab (eines Gesichtsschleiers) einordnen, als Weigerung, im Unterricht das eigene Gesicht zu zeigen. Auch in diesen Fällen hat das BVerwG die unerlässliche Integrationsfunktion der Schule in einer pluralistischen Gesellschaft betont, die es ihr – auch bei nötiger Rücksichtnahme auf individuelle Glaubensüberzeugungen der Schüler – nicht erlaube, sich in ihren Unterrichtsinhalten auf einen für alle akzeptablen „kleinsten gemeinsamen Nenner“ zurückzuziehen, sondern umgekehrt gerade die grundsätzliche Einbeziehung von Minderheiten in alle Aspekte des schulischen Alltags, auch in die als belastend empfundenen, verlange; die Verfassung habe insoweit den Konflikt mit religiösen Überzeugungen bereits abstrakt in den staatlichen Erziehungsauftrag mit einberechnet und aufgelöst. Daraus folgt, dass eine Befreiung auch von einzelnen Unterrichtseinheiten nur dann überhaupt erst in Betracht kommt, wenn eine Beeinträchtigung religiöser Empfindungen von „besonders gravierender Intensität“ (BVerwG, Urteil vom 11.9.2013 – 6 C 12.12) – ein Konflikt also mit imperativen Glaubensgeboten – droht. Erst dann sei in einer Abwägungsentscheidung im Einzelfall über eine Befreiung zu befinden – mit dem Auftrag freilich, vorrangig einen für Schule, Eltern und Schüler akzeptablen Kompromiss (bspw. das Tragen eines „Burkini“ im Schwimmunterricht) zu suchen. Hier wird in der zunehmenden Pluralisierung der Gesellschaft auf die Schulen in Zukunft eine bedeutende Moderationsaufgabe zukommen, die unmittelbar aus ihrem Integrationsauftrag erwächst.

Was den Besuch der Schule an Tagen angeht, die aus religiösen Gründen heilig sind (z. B. der Sabbat für Juden), gesteht die Rechtsprechung Ausnahmen zu, soweit sie zeitlich begrenzt sind. Bestimmte religiöse Feiertage können daher als Freistellungsgrund anerkannt werden, sofern der Nachweis der Zugehörigkeit zu der betreffenden Religionsgemeinschaft erbracht wird.