Säkularisierung

  1. I. Säkularisierung, Säkularisation, Säkularität, Säkularismus
  2. II. Soziologische Aspekte
  3. III. Rechtliche Aspekte

I. Säkularisierung, Säkularisation, Säkularität, Säkularismus

Abschnitt drucken

Die Redeweisen von „S.“, „Säkularisation“, „Säkularität“ und „Säkularismus“ werden nach wie vor zuweilen vermengt, obwohl es für ihre Bedeutungen inzwischen einen Mehrheitskonsens in der Literatur gibt. Das hat nur z. T. mit der Semantik und Verwendungsgeschichte von saeculum zu tun, das im Lateinischen „Jh., Zeitalter, längerer Zeitraum, Zeit“, aber auch „Zeitgeist“ bedeuten konnte, in der Ableitung saecularis, -e zunächst zum Bestandteil der neuzeitlichen lateinisch-deutschen Rechtssprache wurde und nach weiteren semantischen Verschiebungen Eingang in die Bildungssprache fand: „Säkularisieren“ wird zunächst vom ordensrechtlichen Terminus ab dem 16. Jh. („Überwechseln vom Ordens- in den Diözesanklerikerstand“, vgl. den Ausdruck „Weltpriester“) zum sachen- und herrschaftsrechtlichen Terminus ab dem 17. Jh. („Übertragung von Besitz, Eigentum, anderen Sachen- sowie politischen Herrschaftsrechten von kirchlichen auf nichtkirchliche Träger“) und nimmt ab dem mittleren 19. Jh. immer mehr das heute noch vorherrschende Bedeutungsfeld „nichtkirchlich/religionsfern/religionsfrei/areligiös/verweltlicht“ an.

Mit dem Wort „Säkularisation“ wird heute allg. der historische Prozess der Übertragung vormals kirchlicher Rechtspositionen auf nichtkirchliche Träger (kulminierend zur Zeit des Aufgeklärten Absolutismus und des Reichsdeputationshauptschlusses 1803) bezeichnet. – Mit „S.“ (dazu unten) wird dagegen v. a. seit dem frühen 20. Jh. eine in Form von „S.s-Thesen“ beschriebene großräumigere gesellschaftlich-kulturelle Entwicklung angesprochen, die teilweise als Kennzeichen der westlichen Moderne betrachtet wird, wobei die Darstellungen aber z. T. zwischen deskriptiven und präskriptiven Lesarten schillern: Der gesellschaftliche/kulturelle/politische Einfluss religiöser Inhalte, Begründungsfiguren und Institutionen nähme im Laufe der Zeit ab (bzw. er sollte – i. S. gesellschaftlichen Fortschritts – weiterhin abnehmen), und/oder einstmals religiöse Inhalte würden in gewandelter, religionsfreier, „säkularer“ Form weiterleben (bzw. sie sollten dies nur in dieser Form tun). S.s-Thesen haben (neben den genannten sozialen und historischen Entwicklungen) vielfältige ideengeschichtliche Hintergründe: Nach Max Weber setzte mit der griechischen und jüdisch-christlichen Antike eine „Entzauberung der Welt“ (Weber 1995: 19) ein, d. h. ein Vormarsch rational-wissenschaftlicher Weltdeutungen auf Kosten der magisch-religiösen; an bewusst proklamierten S.s-Ansätzen sind u. a. die verschiedenen Tendenzen der Religionskritik seit der Aufklärung, die moralpraktische Umdeutung religiöser Aussagen durch Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegels Deutung der historisch fassbaren Religionen als Vorstufen des absoluten Geistes, geschichtsphilosophische Ablösungstheorien (Geschichte, Geschichtsphilosophie) eines religiösen Zeitalters durch ein wissenschaftliches etwa im Positivismus, und die Marx’sche Erwartung des Absterbens der Religion als gesellschaftlicher Überbau aufgrund gewandelter ökonomisch-politischer Verhältnisse zu erwähnen. Seitens der Theologie wird S. unterschiedlich eingeschätzt: Sie wird als hinzunehmendes soziales Faktum ebenso gedeutet wie als bedauerlicher Niedergangsprozess oder auch als Chance, durch die Befreiung von überkommenen politisch-kulturellen Einbettungen das genuin Christliche deutlicher freizulegen.

S.s-Thesen waren im 20. Jh. ein lange Zeit kaum hinterfragtes Deutungsmuster für das Verhältnis von Religion und Moderne, ihre konzeptionelle und empirische Tragfähigkeit wird v. a. seit den 1990er Jahren aber deutlich in Frage gestellt. Kritisiert wird u. a. das empirisch kaum gedeckte Postulat geschlosser religiöser Kulturphasen in der Vergangenheit, der zugrunde gelegte unterkomplexe Religionsbegriff (der auf kirchliche Bindung fokussiert ist und andere Aspekte unterbewertet), sowie die Unklarheiten und Uneinigkeiten bzgl. der angenommenen kausalen Zusammenhänge zwischen Modernisierung und S. Auch sind S.s-Thesen auf Gesellschaften außerhalb des europäisch-amerikanischen Kulturraums schwer übertragbar, teils wegen empirischer Unplausibilität, teils deshalb, weil schon die typisch europäisch-amerikanische Abschichtung der „Religion“ von den restlichen Lebensbereichen in den meisten Sprachen der Welt gar kein Gegenstück hat. Allerdings sind auch manche im Zuge der Kritik von S.s-Thesen vorgeschlagene pauschale Gegendiagnosen („postsäkulare Kultur“, „Wiederkehr der Religion“, „Desäkularisierung“, „Wiederverzauberung der Welt“, „Megatrend Spiritualität“ etc.) mit ähnlichen Problemen belastet wie S.s-Thesen und daher ebenso umstritten. Als differenzierende Ersatzbegriffe wurde u. a. vorgeschlagen, von religiös-weltanschaulicher Pluralisierung, Individualisierung und der Abnahme institutionalisierter Religiosität zu sprechen.

„Säkularität“ wird als Wesenseigenschaft vieler westlicher Staaten und auch sonstiger moderner Institutionen betrachtet: Letztere verstehen sich als religiös-weltanschaulich neutral, in die Legitimation ihrer Existenz fließt daher keine religiöse Begründung mit ein, und soweit diese Institutionen mit religiösen Gruppen kooperieren (etwa im Schul-, Krankenhaus- und Denkmalschutzwesen), wird das Gebot der Nichtbegünstigung dieser Religionen regelmäßig zum Thema. Zu beachten ist dabei, dass von ihrem normativen Selbstverständnis her völlig säkulare Staatswesen durchaus von hohem faktischem politischem Einfluss einzelner oder verschiedener religiöser Gruppen gekennzeichnet sein können (markante Beispiele sind z. B. Italien und die USA, deren Verfassungen zwar eine strikte Trennung von Staat und Religion vorsehen, in deren politischer Realität religiöse Argumente, Gruppierungen und Wahlmotive aber eine ganz erhebliche Rolle spielen).

„Säkularismus“ wird zuweilen ähnlich wie „Säkularität“ verstanden, vermutlich häufiger jedoch als eine stärkere normative Lesart der S.s-These i. S. eines Überwindungsschemas: Religiöse Begründungen, Argumentationsformen etc. sollten aus dem öffentlichen Diskurs möglichst eliminiert werden, und religiöse Symbole und sonstige Manifestationsformen sollten im öffentlichen Raum möglichst unsichtbar bleiben. Religion wird damit als Privatsache in dem strikteren Sinne verstanden, dass zwar einerseits private Ausübungsfreiheit (Religionsfreiheit) gewährleistet sein soll, dass andererseits aber all jenen die Behelligung mit religiösen Argumenten, öffentlich sichtbaren Symbolen, Bekleidungsformen, Verwendung von öffentlichen Geldern für religiös mitgetragene Projekte etc. nicht zugemutet werden dürfe, die dies nicht wollen. Diesbezüglich existieren in verschiedenen Staaten allerdings unterschiedliche Kulturen: Die französische Tradition der laïcité (Loi sur la séparation des Églises et de l’État, 1905) etwa verbietet religiöse Bekleidungsformen und Symbole bei Staatsbediensteten und legt deutlich strengere Maßstäbe bzgl. Staat-Kirche-Kooperationen an als etwa Deutschland und Österreich (Laizismus). In den USA ist einerseits bes. die strikte religiöse Neutralität öffentlicher Schulen ein hochsensibles, oft gerichtsförmig im Licht des Ersten Verfassungszusatzes abgehandeltes Thema. Andererseits sind überkonfessionelle, allg. theistisch/deistisch gehaltene Schulgebete und öffentlich inszenierte Gebete von Politikern gängige Praxis. Eine vehemente Form des Säkularismus vertreten Gruppierungen in verschiedenen Ländern wie (u. a. auf englische Traditionen zurückgehende) Freidenkervereinigungen, Humanistische Vereinigungen, die Giordano-Bruno-Stiftung, Brights etc., die die Zurückdrängung des politischen Einflusses religiöser Gruppen und Denkformen zu einem Hauptziel gemacht haben; literarisch international einflussreich sind dabei seit den frühen 2000er Jahren die Texte der sog.en New Atheists (Richard Dawkins, Daniel Dennett, Christopher Hitchens, Sam Harris): Religionen seien die Wurzel mannigfacher gesellschaftlicher Übel, und angesichts wachsender Bedrohungen u. a. durch islamistischen Totalitarismus (Islamismus) sei der Respekt vor den religiösen Einstellungen anderer kein fragloses Gebot mehr.

II. Soziologische Aspekte

Abschnitt drucken

Die S.s-These ist ein hoch umstrittenes konzeptionelles Konstrukt, das von verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen verwendet und für die Verfolgung unterschiedlicher ideenpolitischer Interessen und wissenschaftlicher Positionen in Anspruch genommen wird. Mit dem Begriff S. werden kirchenrechtliche Entscheidungen ebenso bezeichnet wie kulturgeschichtliche Transformationen, Prozesse der Differenzierung von Religion und Politik ebenso wie semantische Umbesetzungen von Bedeutungsinhalten. Der Einordnung des Begriffs in ein verlustgeschichtliches Verlaufsmodell, das mit ihm den Verfall gesellschaftlicher Ordnung, sozialen Zusammenhalts und gesellschaftlicher Moral beklagt, steht seine fortschrittsoptimistische Verwendung als eine Form der säkularen Emanzipation von religiöser Kontrolle gegenüber. Die S.s-These stellt ein Medium der Selbstverständigung der Moderne über ihre Identität und Herkunftsgeschichte dar.

S. im sozialwissenschaftlichen Sinne ist einmal durch die Annahme definiert, dass sich die soziale Signifikanz von Religion in modernen Gesellschaften im Vergleich zu früheren Zeitepochen abschwächt (empirisch-historische Deskription) – eine Behauptung, die gegenläufige Entwicklungen ebenso wenig ausschließt wie Umwege, Ausnahmen, Ambivalenzen und Paradoxien –, und zum anderen durch die These, dass der religiöse Bedeutungsrückgang auf Prozesse der Modernisierung zurückgeführt werden kann (explanatorischer Kern).

Urspr. wurde der S.s-Begriff im kirchenrechtlichen Kontext verwendet. Im mittelalterlichen kanonischen Recht meinte der Begriff den Übertritt des Mitglieds eines Mönchsordens (regularis), der sich der auf Dauer angelegten Klosterregel unterworfen hat, in den Stand eines Weltgeistlichen (saecularis), der auf eine säkulare, d. h. zeitlich befristete Ordnung bezogen ist. Den kulturgeschichtlichen Kontext für diese rechtliche Regelung bildete die seit dem 11. Jh. von der Kirche des lateinischen Westens selbst betriebene funktionale Trennung von Kirche und politischer Gewalt (Kampf gegen Investitur), ihr Bemühen um sakramentale Reinheit und institutionelle Selbständigkeit und die damit verbundene De-Sakralisierung der politischen Herrschaft. Die kulturgeschichtliche Voraussetzung des S.s-Vorgangs bestand also in der schärferen Unterscheidung zwischen religiöser und weltlicher Sphäre, die allerdings mit der Unterscheidung zwischen Diesseits und Jenseits nicht zusammenfiel und diese daher auch nicht in Frage stellte. Als Säkularisation wird in der Reformationszeit (Reformation), im konfessionellen Zeitalter (Konfessionalisierung) und im 19. Jh. der rechtlich geordnete Übergang kirchlicher Güter in weltlichen Besitz bezeichnet.

Inzwischen hat sich der S.s-Begriff von seinem kanonischen und kirchenrechtlichen Bedeutungsgehalt gelöst und bezeichnet kulturgeschichtliche Veränderungsprozesse teilweise weltgeschichtlichen Ausmaßes. Unter seinen vielfältigen Bedeutungen ist v. a. zwischen einer genealogischen und einer quantifizierenden Verwendungsweise zu unterscheiden. Mit der genealogischen ist die Transformation des Bedeutungsgehaltes eines Begriffs von einem theologischen in einen säkularen Kontext gemeint, so wenn z. B. das Postulat der politischen Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz als eine Säkularisation der Idee der Gleichheit aller Menschen vor Gott oder der Gedanke des Fortschritts in der Geschichte als Transformation der Vorstellung einer providentiell gelenkten Heilsgeschichte gedeutet wird. Mit dem quantitativen Begriffsgebrauch ist der Rückgang des Bedeutungsanteils gemeint, den Religion in Gesellschaften einzunehmen vermag.

Im Unterschied zur Philosophie hat sich in den Geschichts- und Sozialwissenschaften der zuletzt benannte Begriffsgebrauch durchgesetzt. Ihn legen auch die gegenwärtig einflussreichsten säkularisierungstheoretischen Ansätze von Steve Bruce, Pippa Norris, Ronald Inglehart und Niklas Luhmann zugrunde.

In der Nachfolge Peter Ludwig Bergers stellt S. Bruce insb. den negativen Einfluss eines zunehmenden religiösen Pluralismus und egalitären Individualismus auf die Stabilität religiöser Überzeugungen und Praktiken heraus. Unter Bedingungen religiöser Pluralität verliere Religion die regelmäßige Bestätigung, die sie durch ihre Einbettung ins alltägliche Leben in früheren kulturell homogeneren Gesellschaften genossen habe. Nach N. Luhmann gerät mit der Umstellung der gesellschaftlichen Ordnung von Schichtung und Hierarchie auf funktionale Differenzierung die Funktion der Religion unter Anpassungsdruck. Auf der personalen Ebene bestehe die Konsequenz funktionaler Differenzierung in der Privatisierung des religiösen Entscheidens, auf der gesellschaftlichen Ebene im Rückgang des Bedarfs und der Möglichkeit gesamtgesellschaftlich verbindlicher Selektionen. Für P. Norris und R. Inglehart wird die gesellschaftliche Bedeutung von Religion v. a. durch das Gefühl der existentiellen Sicherheit bestimmt. In weniger entwickelten Gesellschaften, in denen der Einzelne stärker existentiellen, natürlichen und sozialen Risiken wie Hunger, Krieg oder sozialen Ungleichheiten ausgesetzt sei, sei der Bedarf an Religion größer als in modernen Gesellschaften.

Die Kritik am S.s-Theorem betrifft einmal die in ihm vorgenommene Entgegensetzung von Religion und Moderne bzw. von Tradition und Moderne sowie seinen evolutionären, fortschrittsgläubigen und eurozentrischen Charakter. Kritik wird aber auch an der Verwendung eines institutionell verengten Religionsbegriffes, an der Depotenzierung von Religion als bloßer abhängiger Variable sowie an der Idealisierung der Vergangenheit als golden age of faith – wie z. B. bei José Casanova, Rodney Stark und Roger Finke oder Friedrich Wilhelm Graf – geübt. Während Vertreter der S.s-Theorie die Position einnehmen, dass sich ein negativer Zusammenhang zwischen Modernisierungsindikatoren und Religiositätsindizes empirisch nachweisen lasse, bestreiten ihre Kritiker diesen Zusammenhang.

III. Rechtliche Aspekte

Abschnitt drucken

1. Säkularisierung und Säkularität

Der Begriff der S. ist vieldeutig. Klar abgrenzbar ist er heute immerhin von dem der Säkularisation; dies ist die Überführung von Kirchengut und (insoweit historisch) kirchlicher Herrschaft in weltliche Obrigkeit. Davor werden die Religionsgemeinschaften heute geschützt durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 138 Abs. 2 WRV, der ein Säkularisationsverbot enthält. S. meint demgegenüber im sozialwissenschaftlichen Sinne den Bedeutungsverlust der Religion, zumal in ihrer christlich-kirchlichen Ausprägung, im gesellschaftlichen Leben. In Westeuropa gilt der in vielen Regionen der Erde zu beobachtende Prozess der S. als bes. weit fortgeschritten. Im verfassungsrechtlichen Sinne meint S. die Ablösung des Staates von religiösen und kirchlichen Machtansprüchen sowie Inhalten. Die Entwicklung führte in verbreiter Sicht seit dem Mittelalter (Investiturstreit) über die Glaubensspaltung nach der Reformation und sodann die Französische Revolution zum modernen freiheitlichen und säkularen Verfassungsstaat in der Folge der Paulskirchenverfassung von 1848/49. Im Kern stellt sich die S. des Staates als Teil eines Prozesses wechselseitiger Emanzipation von Staat und Kirche (Kirche und Staat) dar.

2. Säkularität als Verfassungsprinzip

Der aus dieser S. hervorgegangene Staat ist auf weltliche Aufgaben reduziert. Die Pflege von Religion und Weltanschauung ist ihm entzogen. Sie obliegt den Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften. Der säkulare Staat hat keine Staatsreligion. Er bekennt sich weder zu einem religiösen Glauben oder weltanschaulichen Bekenntnis, noch legt er religiöse oder weltanschauliche Anschauungen seinem Handeln zugrunde. Das BVerfG hat die Säkularität des Staates unter dem GG als Verfassungsprinzip anerkannt (BVerfGE 102,370 [390 ff.]).

3. Der säkulare Staat des Grundgesetzes

Im Einzelnen folgt die Säkularität des vom GG geformten Staates zunächst aus dem Verbot der Staatskirche in Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 1 WRV. Daneben spielt die grundrechtliche Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG eine entscheidende Rolle. Der säkulare Staat ist in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht neutral. Bei aller Unklarheit, die über diesen Begriff besteht, zählt zum gesicherten Inhalt der staatlichen Neutralität in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht das Gebot der Nichtidentifikation. Der religiös-weltanschaulich neutrale Staat darf sich in den Wahrheitsfragen zwischen den Konfessionen und Weltanschauungen nicht mit der einen oder anderen Religion oder Gemeinschaft identifizieren, für sie Partei ergreifen. Er darf weder eine eigene Verbundenheit mit einer Kirche, Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft noch mit einem bestimmten Glauben oder einer Weltanschauung zum Ausdruck bringen. Nichtidentifikation ist somit auch eine Frage der staatlichen Selbstdarstellung. Dem religiös neutralen Staat ist es deshalb z. B. verwehrt, sich als christlicher oder auch islamischer Staat darzustellen. In der Konsequenz einer so verstandenen staatlichen Neutralität in religiösen Fragen hat das BVerfG die gesetzliche Anordnung, in jedem Klassenraum öffentlicher Schulen ein Kreuz anzubringen, zu Recht beanstandet (BVerfGE 93, 1). Das islamische Kopftuch einer Lehrerin dagegen führt nicht in jedem Fall zu einem Neutralitätsverstoß, weil die Lehrerin als Trägerin des Grundrechts der Religionsfreiheit nicht nur den Staat repräsentiert, sondern auch ihre religiöse Überzeugung im Dienst ausüben darf, solange nicht die Neutralität der öffentlichen Schule oder der Schulfrieden im Einzelfall gefährdet werden (BVerfGE 138,296). In der Justiz dürften aufgrund ihrer Unabhängigkeit (Art. 92, 97 GG) an Richter und Staatsanwälte höhere Anforderungen zu stellen sein als im Schuldienst. Die vom säkularen Staat nach dem GG zu fordernde Neutralität ist gleichwohl keine distanzierende, Religion aus dem staatlichen Bereich möglichst ausgrenzende, sondern eine offene, übergreifende Neutralität, die Religion und Weltanschauung so weit als möglich Raum gibt (BVerfGE 138,296 [339]).

Der säkulare Staat gewährt zudem religionsrechtliche Parität (insb. Art. 3 Abs. 3, 33 Abs. 3 GG). Er behandelt die verschiedenen Glaubensrichtungen, aber auch deren Ablehnung gleich. Eine schematische Gleichbehandlung ist allerdings nicht geboten. Sachliche Gründe können Differenzierungen rechtfertigen.

Der säkulare Staat ist von Religion und Religionsgemeinschaften institutionell getrennt. Das GG hat in der mitteleuropäischen Tradition seit der Paulskirchenverfassung und der durch sie beeinflussten Verfassungen in deutschen Ländern (v. a. in Preußen) auf eine laizistische (Laizismus) oder auch nur laikale Trennung von Staat und Kirche bzw. Religion (nach französischem oder US-amerikanischem Vorbild) verzichtet. Im Interesse der Menschen, die für den freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaat ebenso im Mittelpunkt stehen wie für die Religionsgemeinschaften, die christlichen Kirchen zumal, ist unvoreingenommene und unbefangene Kooperation des Staates mit den Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften geboten. Sie wird durch das GG ermöglicht, ja von ihm erwartet.

Der säkulare Staat verdrängt Religion nicht aus der Öffentlichkeit. Er verweist sie lediglich in den Bereich der Gesellschaft. Dadurch fördert er nicht Religionslosigkeit in der Gesellschaft. Er erklärt sich lediglich inkompetent, unzuständig für Fragen von Religion und Weltanschauung. Dadurch schafft der säkulare, neutrale und Parität verbürgende Staat für Religion und Weltanschauung bes. günstige Voraussetzungen sowie Entfaltungschancen. Die S. des gesellschaftlichen Lebens wird durch die Säkularität des Staates nicht gefördert, aber entspr. der grundsätzlichen Trennung von Staat und Gesellschaft als Grundbedingung des freiheitlichen Verfassungsstaates auch nicht verhindert.