Rätesystem

1. Begriff und Merkmale

Räte i. S. v. politischen Gremien werden als historische Phänomene folgenden drei Typen bzw. Funktionen zugeordnet: Räte als Revolutionsorgane, die gebildet werden, um einen Umsturz durchzuführen, Betriebsräte zur Durchsetzung betrieblicher Mitbestimmung und Räte als politische Vertretungen. Die Grenzen zwischen diesen Typen sind allerdings fließend.

Räte entstehen meist spontan und im Zuge revolutionärer Umwälzungen (Revolution). Von einem R. (oder einer Räterepublik) spricht man, wenn das politische System auf Räten als Vertretungsorganen beruht, ebenso bei Modellen eines solchen Systems, unabhängig davon, ob die zugrundeliegenden Ideen auch umgesetzt wurden.

Die Räteidee besitzt im Marxismus-Leninismus einen hohen Stellenwert. Nach dieser Theorie ist für den Übergang vom Kapitalismus zur klassenlosen, kommunistischen Gesellschaft (Kommunismus) die Errichtung einer Diktatur des Proletariats nötig. Was das sei, so Friedrich Engels 1891, habe man bei der Pariser Kommune von 1871 gesehen: die Diktatur des Proletariats. Nach Wladimir Iljitsch Lenin schließlich habe bereits die Pariser Kommune das R. eingeführt. Damit wurde das R. zur Organisationsform der Diktatur des Proletariats erklärt und somit zu einer maßgeblichen Einrichtung in der marxistisch-leninistischen Theorie.

Ein R. ist – soweit man das verallgemeinern kann – durch folgende Merkmale gekennzeichnet:

Räte sind Instrumente in einem demokratischen System. Das R. stellt dabei den Versuch der Schaffung einer direkten Demokratie dar und bildet somit ein Gegenmodell zu einem repräsentativ-parlamentarischen System. Eine Gewaltenteilung gibt es im R. nicht. Alle leitenden Positionen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft werden durch Wahl besetzt. Die Räte als Vertreter des Volkes sind ihren Wählern gegenüber verantwortlich und weisungsgebunden. Es gibt also ein imperatives Mandat, und die Räte können jederzeit abberufen werden. Als Basisgruppen der Wähler dienen neben Wohn- und Verwaltungseinheiten auch Betriebe. Der Aufbau der Räteorganisation ist stufenartig, d. h. die Vertreter übergeordneter Gremien werden in indirekter Wahl, also von den Räten jeweils aus ihrer Mitte, gewählt. Politische Parteien sollen im R. keine Rolle spielen. Die Mitwirkung am R. soll auf proletarische Schichten beschränkt werden.

In der Praxis besaßen Räte stets höchstens einige der genannten Merkmale.

2. Historische Erscheinungen

Räte im politischen Sinn erscheinen erstmals in der Russischen Revolution von 1905 unter der entspr.en Bezeichnung (als Sowjets). Sie waren überbetriebliche Streikkomitees, die auch allgemeinpolitische Forderungen vertraten. Die meisten gehörten keiner Partei an, waren aber vorwiegend sozialdemokratisch orientiert, nicht bolschewistisch.

In der russischen Februarrevolution von 1917 bildeten sich abermals Räte: Arbeiter-, Soldaten- und auch Bauernräte. Sie entwickelten sich zu Organen der revolutionären Demokratie und stellten ein zweites Machtzentrum neben der Provisorischen Regierung dar. Die Bolschewisten waren in den Räten in der Minderheit. Dennoch gelang es ihnen, in der Oktoberrevolution durch einen Putsch die Macht zu übernehmen. Die Parole „Alle Macht den Räten“ wurde insofern umgesetzt, als die Räte in Organe der staatlichen Macht umgewandelt wurden. Doch letztlich etablierten die Bolschewisten eine Einparteienherrschaft, eine Diktatur der Kommunistischen Partei, die die Macht der Räte rasch beendete.

Ausgehend von den Merkmalen der russischen Räte wurden auch frühere Gremien mit zumindest ähnlichen Organisationsformen den Räten zugerechnet. So wurden als Vorläufer etwa die Soldatenräte Oliver Cromwells (1647) oder die Pariser Sektionen der Sansculotten in der Französischen Revolution gesehen.

In Deutschland bildeten sich in der Novemberrevolution 1918, wohl nach russischem, aber nicht nach bolschewistischem Vorbild, im ganzen Land Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte. Die überwiegende Mehrheit von ihnen strebte kein R. an, sondern sah sich selbst als Übergangserscheinung. Das zentrale Gremium der deutschen Räte, der Reichsrätekongress, sprach sich deshalb auch in einer Abstimmung mit großer Mehrheit für die Wahl einer Nationalversammlung und damit für ein parlamentarisches System aus. Der einzige langfristige Erfolg der Rätebewegung in Deutschland war das BRG von 1920, das den Betriebsräten allerdings nur wenige Kompetenzen einräumte.

Auf Länderebene, in Bremen und in Bayern, gab es im Gegensatz zum Reich Anfang 1919 kurzlebige, nur jeweils einige Wochen bestehende Räterepubliken, die – nach internen Auseinandersetzungen – von Freikorps niedergeschlagen wurden.

Zur gleichen Zeit existierte in Ungarn eine Räterepublik, die ebenfalls nach kurzer Zeit gestürzt wurde. 1956 entstanden unter revolutionären Bedingungen in Ungarn und Polen erneut Räte.

Einem R. zugeordnet werden kann auch die 1950 eingeführte Arbeiterselbstverwaltung im ehemaligen Jugoslawien, durch die den Belegschaften von Betrieben Verantwortung übertragen wurde. Sie entstand nicht revolutionär, sondern wurde von oben, von Staat und Partei, beschlossen. Die Ziele waren die Schaffung einer sozialistischen Demokratie auf der Grundlage einer Selbstverwaltungsgesellschaft und die Behebung von ökonomischen Problemen. Die Bedeutung der Arbeiterräte in diesem System wurde allerdings dadurch eingeschränkt, dass sie sich von vornherein der Kommunistischen Partei unterordnen mussten.

Ab der Mitte der 60er Jahre des 20. Jh. erwachte in der BRD das politische Interesse an einem R. neu. Ausgangspunkt war die Parlamentarismuskritik der Neuen Linken, die ein R. als Alternative zum bestehenden parlamentarischen System sah. Das Problem der langfristigen Realisierbarkeit eines R.s konnte aber nicht gelöst werden. Diese Frage bleibt somit unbeantwortet, da bisher alle historischen Versuche, ein R. umzusetzen, gescheitert sind.