Religionssoziologie

Schon weil die Soziologie Handeln, Kommunikation und Erleben als sinnhafte Praxis versteht und diese ihren Sinngehalt oft auf religiöse Weise erhält, legt sich nahe, R. zu betreiben. Über diese Mikroperspektive hinaus, aus der auch international vergleichend religiöse Werte, Überzeugungen und Einstellungen analysiert werden, geht sie der Vielfalt religiöser Gruppen und Organisationen (Mesoperspektive) und der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung von Religion, d. h. auch ihrem Schicksal (Wandel) in den Gesellschaften der Gegenwart (Makroperspektive) nach. Dieses Interesse leitet die aktuellen Ansätze und ihre „neoklassischen“ Positionen, wofür die Namen Talcott Parsons, Robert Bellah, David Martin, Thomas Luckmann, Peter Ludwig Berger, Pierre Bourdieu, Niklas Luhmann stehen. Wie schon die soziologischen Altklassiker – Émile Durkheim, Max Weber, Georg Simmel, Ferdinand Tönnies; in religionswissenschaftlicher (Religionswissenschaft) Tradition Ernst Troeltsch, Joachim Wach – haben sie (aktualisierend) erkannt, dass sich Relevanz, Funktion und Folgen von „Religion“ für die Einzelperson sowie ihre Relation zu anderen „Lebensmächten“ (wie Staat, Wirtschaft, Familie, Kunst, Sexualität) verschieben und ihr Verständnis je nach soziokulturellen Konstellationen, Kontexten und Sozialformen (prophetische Bewegungen, Sekten, Kirchen, Mystik, Kulte) sowie nach sozialen Trägern (Akteuren, Schichten, Milieus, Generationen und Bildungsgruppen) variieren können. Obwohl die R. darum weiß, dass mit „Religion“ im erfahrungswissenschaftlichen Sinn Unbeweisbares, Unverfügbares, Unbegreifliches, ja „Unglaubliches“ individuell und/oder kollektiv erlebt, kommuniziert und Bezugspunkt sozialer Handlungen und Beziehungen werden kann, fällt sie darüber kein positives oder negatives Urteil („methodologischer Agnostizismus“) und vermeidet auch – wie schon M. Weber – Aussagen über ein irgendwie geartetes „Wesen“ von Religion. Sie weiß freilich darum, dass der Mensch „das Wesen ist, das über seinen Schatten springen kann“ (Popitz 1999: 693) und über ein kreatives und „spekulatives Potential“ (Popitz 1999: 696) zur „Allozentrik“ (Popitz 1999: 693) im Umgang mit Nichterfahrbarkeit verfügt.

Die nach 1945 lange Zeit in der Soziologie marginalisierte, weil kirchen- und pastoralsoziologisch wie sozialstatistisch enggeführte Teildisziplin versucht, „Religion“ zum einen über die individuellen bzw. über die kollektiven religiösen „Erfahrungen“ zu begreifen, wie sie nach 1900 von William James, Rudolf Otto und schließlich von Gustav Mensching bzw. von G. Simmel, É. Durkheim und Marcel Mauss – heute etwa von Hans Joas über das – auf Aldous Huxley (2009: 53) zurückgehende – Konzept der „Selbsttranszendenz“ – zum Thema gemacht werden. Auch T. Luckmann geht – im Anschluss an Alfred Schütz – phänomenologisch von verschiedenen Ebenen von „Transzendenzerfahrungen“ aus, die zur Basis kommunikativer „Wirklichkeitskonstruktionen“, werden, „in denen der Mensch handelnd und denkend Stellung nimmt zu dem, was er nicht ist, zum Transzendenten“ (Luckmann 1972: 7). Oder die R. nimmt zum anderen – in neukantianischer Tradition – die religiösen Handlungen und Relationen zum Ausgangspunkt wie schon M. Weber und – mit unterschiedlichen Anschlüssen an ihn – T. Parsons, P. Bourdieu oder Martin Riesebrodt. Für M. Weber, dessen Theorie des Charismas zahlreiche religionssoziologische Studien inspiriert hat, ist das religiöse Erlebnis „durch seine absolute Inkommunikabilität ausgezeichnet“ (Weber 1947: 112), lässt sich nur an seinen Handlungsfolgen erschließen. „Religion“ von einem dritten Grundbegriff, dem der „Kommunikation“, her zu begreifen, ist schließlich das Anliegen der Ansätze im Gefolge N. Luhmanns (1998: 137), habe Religion doch „nur als Kommunikation […] eine gesellschaftliche Existenz. Was in den Köpfen der zahllosen Einzelmenschen stattfindet, könnte niemals zu ‚Religion‘ zusammenfinden – es sei denn durch Kommunikation“. So sucht die R. „Religion“ – auch religiöse Erlebens-, Kommunikations- und Handlungszusammenhänge (Interaktionen, Gruppen, Organisationen, Gesellschaften) – als solche zu begreifen, wie sie in der sozialen Wirklichkeit erscheint, ohne sie auf eine Realität, die „darin“ verborgen sein oder „dahinter“ bzw. „darüber“ liegen mag, zu überschreiten. R. versucht, „Religion“ somit als etwas Soziales, das nur durch Soziales zu erklären ist, zu verstehen: als Erfahrung, als Kommunikation und als spezifische Formation der Praxis, z. B. als Meditieren, Beten, Predigen, Zaubern, Beichten, Pilgern, Prozessionen Abhalten, Jubilieren in und durch spezifisch religiöse (z. B. Kulte, Sekten, Denominationen, Klöstern, Kirchen) und andere Organisationen im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext.

Der materiale Gegenstand der R., die sich 1995 – nach jahrzehntelanger Auflösung – auch als Sektion der DGS formierte, löst Dauerdiskussionen darüber aus, wie er definitorisch zu fassen ist und variiert je nach Denkstil und methodischem Zugriff der jeweiligen Denkkollektive innerhalb einer multiparadigmatisch angelegten Disziplin. Zunehmend wird das Religionsverständnis als „diskursiver Tatbestand“ (Matthes 1993: 26), d. h. auch seine historische und kulturelle Gebundenheit offenkundig. Dies zeigt nicht zuletzt auch die Erforschung des Islams, der in die „modernen“ Gesellschaften einwandert und in seiner Vielgestaltigkeit über keine kircheninstitutionelle Struktur verfügt. Die R. hat somit „mehr als eine legitime Sicht auf die Religion“ (Riesebrodt 2007: 106), was – unter Einsatz der gesamten Palette der Methoden empirischer Sozialforschung – auch zu deren komplexeren Verständnis beizutragen vermag.

Grob lassen sich substantiale und funktionale Religionsbegriffe unterscheiden. Erstere versuchen, „Religion“ als handelnde, kommunikative oder erlebende Beziehung mit hinter- oder übermenschlichen Wesenheiten (etwa Ahnen, Dämonen, Teufeln, Geistern, Heiligen, Göttern) zu spezifizieren: in monotheistischen Religionen mit „dem Heiligen“ schlechthin, unter Einsatz von Heilswahrheiten und Heilsgütern privat und/oder öffentlich, d. h. in Sakralgebäuden (Synagogen, Kirchen, Moscheen), die noch kaum Forschungsgegenstand wurden, an Wallfahrtsorten oder bei Events. Funktionale Religionsbegriffe betonen spezielle Leistungen von Religion für typische Problembearbeitungen: Kosmisierung, Weltdistanzierung, Identitätsstiftung, Sozialintegration, Kontingenzbewältigung, Handlungsführung im Außeralltäglichen, wobei auch Themen, Sachverhalte und Stilformen in den Blick kommen, die im gesellschaftlichen Diskurs nicht unter „Religion“ firmieren, manchmal auch als funktionale Äquivalente von „Religion“ bezeichnet werden. „Vieles spricht dafür, dass diese Funktionen heute zumindest teilweise auch von Institutionen erfüllt werden, die im landläufigen Sinn nicht als religiös gelten“; und da keine Instanz mehr bestehe, die all diese Funktionen zugl. zu erfüllen vermag, lässt sich schlussfolgern: „In diesem Sinne gibt es ‚Religion‘ nicht mehr“ (Kaufmann 1989: 86, Herv. i. O.). Dies gilt dann auch für das gegenwärtige Christentum, weniger für seine Sekten als für seine Kirchen.

Der jeweilige Religionsbegriff bestimmt fundamental die religionssoziologische Forschung auf der Mikro-, der Meso- und der Makroebene mit, damit die soziologischen Religionstheorien und auch die religionssoziologischen Prozesskonzepte: der Säkularisierung, Sakralisierung, Pluralisierung, Privatisierung, Individualisierung, Globalisierung, Dispersion und Transformation. Er hat darüber auch Einfluss auf die Interpretation der „religiösen Gegenwartslage“, die – auch aus fachhistorischen Gründen – immer noch um die Frage nach dem Verständnis, dem Ausmaß, den Ebenen und dem „Modernisierungszwang“ der Säkularisierung kreist. Die diesbezüglichen Fragen sind „alles andere als geklärt“ (Wolf/Koenig 2013: 10), fordern zur Differenzierung heraus und regen zur Erforschung „multipler Säkularitäten“ (Wohlrab-Sahr/Burchardt 2012) an. Nicht zuletzt leitet das Vorverständnis des Religionsbegriffs die religionssoziologischen Interdependenz(-unterbrechungs-)konzepte und Spannungsfelder von „Religion und …“ an, die Thema zahlreicher Untersuchungen sind. In jüngster Zeit sind insb. das Verhältnis von Religion und Politik, Religion und Sozialstaat, Religion und Recht sowie Religion und Zivilgesellschaft in den Blickpunkt geraten (Religion und Gesellschaft).

Innerhalb der R. ist mehrfach der Versuch gemacht worden, „Religionssoziologie als Soziologie des Christentums“ (Gabriel 1983) und seiner Konfessionalisierung zu betreiben. Er reagiert auf die in den 1960er Jahren – im Rückgriff auf die soziologischen Klassiker – formulierte Kritik T. Luckmanns und Jürgen Matthes’ an einer Tendenz zur Reduktion der R. auf empirische Kirchen- und Pastoralsoziologie, die mit Auftrag der Kirchen oder ohne ihn die Krise ihrer institutionellen Bindungskraft thematisierte. Als Kritik dieser Kritik trat sie mit dem Anspruch auf, einen von der christlichen Tradition losgelösten allg.en Begriff der Religion zum Bezugspunkt wählen zu können. Eine Soziologie des Christentums wollte das Risiko sowohl einer Enthistorisierung als auch das einer beliebigen Zerdehnung, Verunklarung oder gar Invisibilisierung ihres Gegenstands vermeiden, aber auch jene kirchensoziologische Engführung überwinden. Zugl. wollte sie die Ergebnisse der Kirchensoziologie integrieren und das Studium außerkirchlicher Sozialformen des Christentums forcieren. Trotz der Ergiebigkeit zahlreicher Einzelstudien war es einer R. des Christentums von Anfang an weder gelungen, ihren Gegenstand „transkonfessionell“ zu bestimmen noch sich interkonfessionell zu vernetzen und sich damit der Gravitationskraft der kulturellen Ausdifferenzierung und konfessionellen Pluralisierung des Christentums zu entziehen. Angesichts einer weitgehenden (auch religionspolitischen) Enthierarchisierung des Christentums zugunsten seiner Nebenordnung einerseits mit der wachsenden Konfessionslosigkeit und andererseits mit dem Islam, dessen Ausbreitung ebenso wie diejenige der Pfingstbewegungen und religiösen Fundamentalismen religionssoziologische Forschungen beflügelt, angesichts aber auch einer wachsenden Neigung zur Selbstversorgung und „Selbstermächtigung des religiösen Subjekts“ (Gebhardt 2010), die durch die digitale Medienrevolution (Digitale Revolution) noch befördert wird, findet eine solche Fokussierung keine Evidenz unter den R. Treibenden mehr.