Religionskritik

1. Formen der Religionskritik – Begriffliche Unterscheidungen

Das begriffliche Feld der R. kann in kulturelle, politische und szientistische Ansätze gegliedert werden. Die kulturelle R. reflektiert die Rolle von Religion in der säkularen Kultur. Die politische R. untersucht die Funktion der Religion bei der Legitimierung und Stabilisierung von gesellschaftlicher Ordnung. Die szientistische Kritik hält den religiösen Glauben für unwissenschaftlich, weil er Aussagen trifft, die empirisch nicht überprüfbar sind. R., die davon ausgeht, dass religiöser Glaube unwahr ist, muss eine Erklärung finden für die Entstehung und Verbreitung dieser falschen Überzeugung. Eine Kritik der Geltung von Religion ist daher mit einer Erklärung ihrer Genese verbunden.

2. Frühformen der Religionskritik in Antike, Mittelalter und Neuzeit

R. ist in der Antike in drei Versionen belegt, erstens als Asebie, als Ablehnung überkommener Göttervorstellungen wie im exemplarischen Fall des Sokrates. Zweitens gibt es eine Kritik des Polytheismus, etwa in Gestalt der Polemik des Xenophanes gegen den Anthropomorphismus der traditionellen Götterbilder. Drittens muss auch die Möglichkeit einer grundsätzlichen Ablehnung einer metaphysischen Idee des Göttlichen angenommen werden. So spricht Platon im Kontext seiner Kritik der Mythologie davon, dass es sich bei Atheismus nicht nur um die Ablehnung bestimmter polytheistischer Göttervorstellungen handele, sondern um die prinzipielle Bestreitung der Existenz von Göttlichem.

Weniger belegt sind dezidiert atheistische Positionen im Mittelalter. Es gibt religionskritische Gedanken in Gestalt von Häresien, Heterodoxien und einem robusten volkstümlichen Antiklerikalismus. Diese Formen der Spötterei und Blasphemie wurden von der theologischen Apologetik durchaus als Atheismus bezeichnet. Texte, die eine ausdrückliche Kritik am Gottesgedanken dokumentieren, finden sich allerdings erst im 16. Jh. Befördert wird die R. seit dem 17. Jh. durch das philologische und historische Bewusstsein, das sich in Bibelkritik und Dogmengeschichte manifestiert. Die aus der natürlichen Theologie bekannten Kriterien einer rationalen Prüfung religiöser Gehalte werden nun auf die Frage nach der Zuverlässigkeit der Überlieferung und der Kohärenz der heiligen Texte übertragen. Der darauf reagierende Übergang von der natürlichen Theologie zur natürlichen Vernunftreligion wird zu einem wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer ausdrücklich philosophischen R. Der Doppelaspekt der R. der Aufklärung, die Prüfung überlieferter religiöser Gehalte vor dem Forum der Vernunft (Vernunft – Verstand) und die Rekonstruktion der Entstehung von Religion, zeigt sich auf paradigmatische Weise im Werk von David Hume.

3. Natürliche Religion und Naturgeschichte der Religion – David Hume

Eine paradigmatische genealogische Theorie der Religion findet sich in D. Humes „Natural History of Religion“ (1757). D. Hume will alle religiösen Phänomene auf natürliche, gesellschaftliche und politische Lebensumstände zurückführen. Auch das Christentum wird in diese einheitliche Entwicklungsgeschichte der Religion eingeordnet. Religion ist urspr. ein durch Affekte bewirkter und Einbildungskraft gesteigerter Reflex unwissender Menschen, die so ihre Furcht vor einer unbeherrschten Natur verarbeiten. Die Frage nach der Geltung des religiösen Glaubens kann aber für D. Hume durch eine Genealogie von Religion allein nicht entschieden werden. Die rationale Prüfung der Geltung religiöser Gehalte erfolgt in einem eigenständigen religionsphilosophischen Diskurs. Hierin unterscheidet sich D. Humes R. von solchen Ansätzen, die Rekonstruktion der Genese und die Kritik der Geltung von Religion intern verknüpfen, wie etwa Ludwig Feuerbachs und Friedrich Nietzsches.

4. Projektionsverdacht: Ludwig Feuerbach und die anthropologische Wende der Religionskritik

Religion entsteht nach L. Feuerbach als Reaktion auf den Doppelcharakter des menschlichen Bewusstseins. Das menschliche Individuum erkennt das allg. menschliche Bewusstsein als seine Wesensbestimmung, erlebt sich aber im Vergleich mit der menschlichen Gattung als beschränkt. Das Individuum schützt sich vor dieser elementaren narzisstischen Kränkung, indem es seine eigenen Beschränkungen zu Schranken des menschlichen Wesens überhaupt erklärt. Es stößt die menschliche Gattung vom Thron, die nun insgesamt als ein endliches und beschränktes Wesen angesehen wird. Prädikate wie vollkommene Weisheit, Gerechtigkeit, Liebe bezeichnen weiterhin reale allg.e Eigenschaften des menschlichen Gattungsbewusstseins. Aber an die Subjektstelle (Subjekt) der menschlichen Gattung tritt nun die Idee Gottes. Gott ist die Vorstellung eines Subjektes, dem alle Prädikate der menschlichen Gattung zukommen, das aber von dieser Gattung unterschieden und über sie erhaben ist. Gott wird so zur Personifizierung jener unendlichen Wesenskräfte, die eigentlich der menschlichen Gattung zukommen, ihr aber vom Individuum aufgrund von Scham, Trägheit und Eitelkeit abgesprochen werden.

5. Religionskritik als Voraussetzung aller Kritik – Karl Marx

L. Feuerbach kommt nach Karl Marx das Verdienst zu, die Idee Gottes als Produkt des menschlichen Bewusstseins entlarvt zu haben. Aber L. Feuerbachs a-historische Anthropologie muss durch eine materialistische Theorie (Materialismus) des menschlichen Wesens ersetzt werden. Die materiellen Lebensbedingungen menschlicher Existenz werden K. Marx zufolge nicht vorgefunden, sondern durch Handeln selbst hervorgebracht. Aber in ihrem historischen Verlauf führt die materielle Selbstreproduktion der menschlichen Gattung aufgrund der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zu einer Trennung zwischen den in der Produktion tätigen und die Produktionsmittel besitzenden Klassen. Anstelle der noch ausstehenden realen historischen Verwirklichung des menschlichen Wesens setzt dann die Religion das Phantasiegebilde einer bloß eingebildeten Versöhnung. Als Illusion ist Religion für K. Marx Ausdruck des wirklichen Elends und zugl. Protest. Die Kritik der Religion kann sich daher nicht darin erschöpfen, auf den illusionären Charakter der erzeugten Phantasien hinzuweisen, sondern muss darauf zielen, die Ursachen des schmerzhaften Elends zu beseitigen. Kommunismus als die reale gesellschaftliche Überwindung von Entfremdung ist die gründlichste und wirksamste Form von R.

6. Der Tod Gottes – Friedrich Nietzsches Genealogie des religiösen Bewusstseins

Im Unterschied zu D. Hume und L. Feuerbach betrachtet F. Nietzsche die urspr.e Religion auch als Ausdruck menschlicher Stärke, nicht nur von Furcht oder Scham. In der archaischen Religion artikuliert sich ein vitaler Wille zur Beherrschung der als bedrohlich empfundenen Natur. Im zwischenmenschlichen Verhalten kann dieser Machtimpuls die Form hemmungsloser Aggressivität annehmen. Die daraus resultierende Grausamkeit muss von den Opfern verarbeitet werden. Dies führt zu einem ersten Moralisierungsschub in der Religion. Leid und Grausamkeit können nur ertragen werden, wenn sie als Ausdruck des Willens der Götter akzeptiert werden. Die Götter verursachen menschliches Leid und Unglück, können dafür aber nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Dies erzeugt eine moralische Arbeitsteilung zwischen göttlicher Ursache und menschlicher Schuld. Das Opfer kann das ihm zugefügte Leid nur als sinnvoll interpretieren, indem es sich mit dem erhabenen Aggressor identifiziert und sich selbst die Schuld an seinem Unglück gibt.

Judentum und Christentum entwickeln nun Mechanismen der Verfeinerung dieser autoaggressiven Selbstverleugnung. Aggressivität kann aber nicht vollständig in selbstdestruktive Energie transformiert werden, weil dies die religiöse Institution zerstören würde. Die monotheistischen Religionen greifen daher zur Strategie einer Verschiebung der Autoaggression, indem sie den Hass auf Ungläubige predigen und Selbsthass mit Belohnungs- und Bestrafungsphantasien kompensieren. Das Grundempfinden der religiösen Moral ist somit das Ressentiment (Vorurteil).

Anders als bei D. Hume entsteht Religion für F. Nietzsche nicht aus dem unvollkommenen Wissen über die äußere physikalische, sondern über die innere psychische Natur des Menschen. Hier bestehen durchaus Ähnlichkeiten zur psychoanalytischen R. Sigmund Freuds. Der religiöse Glaube ist Resultat starker Wünsche, die auf illusionäre Weise befriedigt werden. S. Freuds psychoanalytische Erklärung der Religion erscheint als empirische Fortführung und Vollendung der Projektionsthese L. Feuerbachs und F. Nietzsches Diagnose von religiösem Bewusstsein als Ressentiment. Wie S. Freud verknüpft F. Nietzsche seine psychologische R. mit einer Analyse kollektiver Neurosen der Kultur. Aus der Selbstverkennung des eigenen Trieblebens entsteht eine Erkrankung des Willens, an der die gesamte moderne Kultur leidet. Zur Heilung dieser Krankheit ist eine Neubestimmung der Rangordnung moralischer Werte nötig, die unter der Bedingung der Abdankung des obersten und absoluten Wertes gelöst werden muss, unter den Bedingungen des Todes Gottes.

F. Nietzsche vertritt keine kulturelle Kritik der Religion in dem Sinne, dass er die Überlegenheit der säkularen Kultur über die religiöse behauptet. Das Ende der Religion macht in seinen Augen die Erschöpfung und das Ende der humanen Kultur insgesamt deutlich. F. Nietzsche übt auch keine politische R., denn jeder Versuch, auf der Basis einer Entlarvung von Religion die gesellschaftliche Verwirklichung humanistischer Ideale zu propagieren, wird von ihm als naiv gebrandmarkt. Beim politischen Humanismus handelt es sich um eine Form von R., die nicht radikal genug verfährt, weil sie das säkularisierte religiöse Erbe in ihren normativen Leitvorstellungen ignoriert. Am weitesten entfernt liegt F. Nietzsche jedoch von einer Form der R., die in den letzten Jahren zunehmend an Einfluss und Popularität gewonnen hat. Gemeint ist die szientistische, an Methoden der Naturwissenschaften orientierte R. des von Richard Dawkins, Daniel Clement Dennett u. a.n vertretenen neuen Atheismus. Diese Art der R. verdrängt auf objektivierende Weise den subjektiven Willen zur Wahrheit, der F. Nietzsche zufolge jeder Wissenschaft zugrunde liegt.

7. Neuer Atheismus

Die szientistische R. des „Neuen Atheismus“ zielt im Unterschied zur differenzierenden kulturellen und politischen Kritik auf vollkommene Abschaffung der Religion. Ohne den wahnhaften Glauben an Gott gäbe es keinen politischen Fanatismus, keine Intoleranz und keine Diskriminierung. Zugl. verhält sich der neue Atheismus affirmativ zur führenden Rolle der Naturwissenschaften. Auf der Grundlage naturalistischer Annahmen könne Religion nicht nur widerlegt, sondern auch ihre Genese rein naturwissenschaftlich erklärt werden. Die Tabuisierung einer naturwissenschaftlichen Erklärung kultureller Phänomene wie Sprache, Kunst oder Religion ist ein Bann, der D. C. Dennett zufolge gebrochen werden muss. Wie bei jeder Art von genetischer oder kultureller Information entscheidet auch im Fall der Religion die erfolgreiche Anpassung, welche Inhalte weitergegeben werden. Der evolutionäre Anpassungsgewinn des Glaubens an Götter liegt in der Zuschreibung von Handlungskausalität gegenüber allen komplexen bewegten Objekten.

Verglichen mit D. C. Dennetts evolutionsbiologischer Erklärung (Evolution) von Religion ist der Ansatz von R. Dawkins aggressiver. Er vertritt die Auffassung, dass schon ein gemäßigter Glaube nicht geduldet werden dürfe, da dieser letztlich den politisch gefährlichen religiösen Wahnsinn befördere. Da die Wissenschaften das Maß des Vernünftigen repräsentierten, dürfe Religion keine Autorität in Fragen der Moral und der praktischen Lebensführung beanspruchen. R. Dawkins’ zentrale These lautet, dass die Philosophie im Streit zwischen Religion und Wissenschaft nicht länger als neutraler Schiedsrichter agieren könne. Philosophie müsse die Haltung skeptischer Enthaltsamkeit und eines bloß methodischen Atheismus aufgeben und Religion frontal attackieren.